Kapitel 61

Am nächsten Morgen war ich nicht allzu durchnässt und fühlte mich erholt. Und das trotz der Anstrengungen der letzten Tage und obwohl ich nur sehr wenig gegessen hatte.

Es war ein schöner Tag. Ich nahm mir vor, mein Glück beim Fischen zu versuchen - zum ersten Mal im Leben. Mein Frühstück bestand aus drei Schiffszwiebacken und einer Dose Wasser; anschließend las ich, was das Überlebenshandbuch zum Thema Fischen zu sagen hatte. Und stand gleich vor dem ersten Problem: Köder. Ich überlegte. Ich hatte natürlich die toten Tiere. Aber einem Tiger das Futter unter der Nase wegzuziehen war ein Unternehmen, dem ich mich nicht gewachsen fühlte. Er würde nicht begreifen, dass es eine Investition war, die gute Rendite versprach. Also beschloss ich, meinen Lederschuh zu nehmen. Ich hatte nur noch einen. Den anderen hatte ich beim Schiffbruch verloren.

Ich kletterte vorsichtig an Bord und holte aus dem Stauraum eine Angelrute, das Messer sowie einen Eimer für den Fang. Richard Parker lag auf der Seite. Sein Schwanz erwachte zum Leben, als ich mich im Bug zu schaffen machte, aber sein Kopf rührte sich nicht. Ich kehrte zurück aufs Floß und ließ es ein Stück weiter abdriften.

Ich befestigte den Angelhaken an einem Vorfach aus Draht und band dies an die Angelschnur. Danach beschwerte ich das Ganze mit Bleigewichten. Die drei, die ich auswählte, hatten eine lustige Torpedoform. Ich zog meinen Schuh aus und zerschnitt ihn. Es ging sehr schwer; das Leder war zäh. Sorgsam bohrte ich den Haken in ein flaches Stück Leder, nicht einfach hindurch, sondern so tief hinein, dass die Spitze des Hakens nicht zu sehen war. Ich ließ die Schnur hinunter. Am Abend zuvor hatte ich so viele Fische gesehen, dass ich mit baldigem Erfolg rechnete.

Doch der ließ auf sich warten. Stück für Stück verschwand der ganze Schuh, wieder und wieder spürte ich ein leichtes Zerren an der Schnur, wieder und wieder machte sich ein Fisch froh und unbeschadet mit seiner Beute davon, wieder und wieder zog ich den bloßen Haken aus dem Wasser, bis von meinem Schuh nur noch die Gummisohle und der Schnürsenkel übrig waren. Nachdem der Schnürsenkel sich als wenig überzeugender Regenwurm erwiesen hatte, versuchte ich es aus schierer Verzweiflung mit der Sohle, unzerschnitten an einem Stück. Das war ein Fehler. Ich spürte ein leichtes, viel versprechendes Rucken, dann fühlte sich die Schnur plötzlich ganz leicht an. Als ich sie einzog, war nur noch die Schnur da; der Rest war verschwunden.

Der Verlust traf mich nicht allzu hart. Schließlich gehörten zu dem Satz noch andere Haken und Gewichte, und die zweite Angelausrüstung war auch noch da. Außerdem angelte ich nicht einmal für mich selbst. Meine Nahrungsvorräte waren noch längst nicht erschöpft.

Dennoch tadelte mich ein Teil meines Verstands - der Teil, der immer das ausspricht, was wir nicht hören wollen. »Dummheit hat ihren Preis. Beim nächsten Mal solltest du mehr Sorgfalt und Umsicht walten lassen.«

Später am Vormittag tauchte zum zweiten Mal eine Schildkröte auf. Sie schwamm ganz nah an das Floß heran. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie sich recken und mich in den Hintern beißen können. Als sie sich abwandte, griff ich nach ihrer Flosse, doch bei der ersten Berührung zuckte ich angewidert zurück. Die Schildkröte schwamm davon.

Die Stimme, die mich schon für das Ungeschick mit der Angel getadelt hatte, meldete sich wieder zu Wort. »Womit willst du deinen Tiger füttern? Was glaubst du, wie lange ihm die drei toten Tiere noch reichen? Muss ich dich tatsächlich daran erinnern, dass Tiger keine Aasfresser sind? Gut, wenn ihm der Magen knurrt, wird er nicht wählerisch sein. Aber bevor er ein halb verwestes, aufgedunsenes Zebra anrührt, hält er sich doch lieber an den saftigen kleinen Inder direkt vor seiner Nase, meinst du nicht? Und wie steht's mit Wasser? Du weißt doch, wie unleidlich ein durstiger Tiger wird. Hast du in letzter Zeit mal seinen Atem gerochen? Er stinkt erbärmlich. Das ist ein schlechtes Zeichen. Hoffst du am Ende, dass er den Pazifik aussäuft, damit du zu Fuß nach Amerika gehen kannst? Schon erstaunlich, dass bengalische Tiger bis zu einem gewissen Grade die Fähigkeit entwickelt haben, Salz auszuscheiden. Das kommt wohl daher, dass sie in den Mangrovensümpfen an der Küste leben. Aber eben nur bis zu einem gewissen Grade. Heißt es nicht auch, dass ein Tiger, der zu viel Salzwasser trinkt, zum Menschenfresser wird? Oh, sieh nur. Wenn man vom Teufel spricht. Schau ihn dir an. Er gähnt. Donnerwetter, was für eine riesige rosa Höhle. Und die Stalagmiten und Stalaktiten darin, lang und gelb. Vielleicht kannst du sie dir ja demnächst von nahem ansehen.«

Richard Parker zog seine Zunge zurück - sie war groß und rot wie eine Gummiwärmflasche - und schloss das Maul. Er schluckte.

Den Rest des Tages war ich krank vor Sorge. Ich mied das Rettungsboot. Entgegen meinen eigenen düsteren Prophezeiungen blieb Richard Parker bemerkenswert ruhig. Er hatte noch genug Regenwasser, und der Hunger schien ihn nicht übermäßig zu plagen. Aber er stieß allerlei Tigerlaute aus - Knurren und Stöhnen und dergleichen mehr -, die nicht gerade zu meiner Beruhigung beitrugen. Eine unlösbare Aufgabe: Zum Fischen brauchte ich Köder, aber Köder hatte ich erst, wenn ich Fisch hatte. Was sollte ich tun? Mir eine Zehe abschneiden? Ein Ohr?

Die Lösung kam am späten Nachmittag, und unerwarteter hätte sie kaum sein können. Ich hatte mich wieder an das Rettungsboot angenähert. Mehr noch: Ich war an Bord geklettert und durchwühlte den Stauraum, fieberhaft auf der Suche nach einer lebensrettenden Idee. Ich hatte das Floß so festgebunden, dass es etwa zwei Meter vom Boot entfernt lag. Wenn ich sprang und sofort Leine gab, konnte ich mich notfalls vor Richard Parker in Sicherheit bringen, dachte ich. Die Verzweiflung hatte mich dazu getrieben, dass ich ein solches Risiko einging.

Als ich nichts fand, weder Köder noch eine neue Idee, richtete ich mich auf - und stellte fest, dass er mich geradewegs anstarrte. Er saß am anderen Ende des Rettungsboots, da wo vorher das Zebra gewesen war, und hatte allem Anschein nach seelenruhig abgewartet, bis ich ihn bemerkte. Wieso hatte ich nicht gehört, dass er sich regte? Wie konnte ich mir einbilden, ich könnte ihn überlisten? Plötzlich traf mich ein heftiger Schlag ins Gesicht. Ich schrie auf und schloss die Augen. Mit einem Raubtiersatz war er ans andere Ende des Rettungsboots gesprungen und hatte mir einen Hieb versetzt. Er würde mir das Gesicht zerfleischen - so grausam würde ich sterben. Der Schmerz war so stark, dass ich nichts spürte. Dem Himmel sei Dank für den Schock. Dem Himmel sei Dank für das in uns, was uns vor übergroßem Schmerz und Kummer bewahrt. Mitten im Herzen des Lebens sitzt ein Sicherungskasten. »Nun mach schon, Richard Parker, töte mich. Tu was du tun musst«, hauchte ich, »aber bitte tu es schnell. So eine Sicherung hält nicht ewig.«

Er ließ sich Zeit. Er war direkt vor mir und machte seltsame Geräusche. Bestimmt hatte er den Stauraum und seinen Inhalt entdeckt. Voller Angst schlug ich ein Auge auf.

Es war ein Fisch. Im Stauraum lag ein Fisch. Er zappelte auf dem Trockenen. Er war etwa dreißig Zentimeter lang und hatte Flügel. Ein Fliegender Fisch. Schlank und graublau, mit trockenen, federlosen Flügeln und runden, lidlosen, gelblichen Augen. Der Fisch hatte mir ins Gesicht geschlagen, nicht Richard Parker. Der saß noch immer in drei Metern Entfernung und wunderte sich zweifellos über mein merkwürdiges Benehmen. Aber er hatte den Fisch gesehen. Gespannte Neugier spielte auf seinen Zügen. Er schien im Begriff, die Lage zu erkunden.

Ich bückte mich, hob den Fisch auf und schleuderte ihn zu ihm hinüber. So würde ich ihn zähmen! Erst eine Ratte, jetzt ein Fliegender Fisch. Doch leider konnte der Fliegende Fisch fliegen. Mitten in der Luft, unmittelbar vor Richard Parkers weit aufgerissenem Maul, schlug der Fisch plötzlich einen Haken und stürzte sich ins Meer. Es geschah blitzartig. Richard Parker drehte den Kopf zur Seite und schnappte, seine Kiefer schlugen aufeinander, aber der Fisch war zu schnell. Er blickte verblüfft und missmutig drein. Er wandte sich wieder mir zu. »Wo ist mein Leckerbissen?«, schien er zu fragen. Angst und Verzagtheit packten mich. Ich wandte mich um in der halbherzigen Hoffnung, ich könne das Floß erreichen, bevor er zum Sprung ansetzte.

Im selben Augenblick schien die Luft zu beben, und wir steckten mitten in einem Schwarm Fliegender Fische. Sie brachen über uns herein wie die Heuschrecken. Es war nicht nur die große Zahl; auch das Geräusch ihrer raschelnden, schwirrenden Flügel erinnerte an Insekten. Sie kamen zu Dutzenden aus dem Wasser geschossen, und manche flatterten über hundert Meter weit durch die Luft. Viele tauchten unmittelbar vor dem Boot wieder ins Wasser. Einige segelten geradewegs darüber hinweg. Einige prallten gegen die Seiten, und es klang wie explodierende Knallfrösche. Einige fanden nach einem kleinen Hopser auf der Plane den Weg zurück ins Wasser. Andere hatten weniger Glück und landeten mitten im Boot, wo sie verzweifelt flatterten und zappelten und spritzten. Wieder andere stießen direkt mit uns zusammen. Ungeschützt, wie ich dastand, kam ich mir wie der heilige Sebastian vor. Jeder Fisch, der mich traf, war wie ein Pfeil in meinem Fleische. Ich versuchte, mich mit einer Decke zu schützen und gleichzeitig ein paar von den Fischen zu fangen. Ich trug Schrunden und blaue Flecken am ganzen Körper davon.

Den Grund für die Aufregung sahen wir sogleich: Doraden jagten blitzschnell ihrer Beute nach. Diese weit größeren Fische konnten zwar nicht fliegen, aber sie waren schnelle Schwimmer, und ihre kurzen Sprünge waren sehr kraftvoll. Wenn sie unmittelbar hinter ihnen waren, im gleichen Moment aus dem Wasser schnellten und in die gleiche Richtung sprangen, konnten sie die Fliegenden Fische fangen. Haie waren ebenfalls zur Stelle; auch sie sprangen aus dem Wasser, nicht so elegant, aber mit fatalen Folgen für einige Doraden. Das ganze Chaos war binnen kurzem vorüber, aber solange es anhielt, kochte und brodelte die See, Fische sprangen und Mäuler schnappten erbarmungslos zu.

Richard Parker ließ sich von dem Ansturm der Fische weniger aus der Ruhe bringen als ich, und er war weitaus erfolgreicher. Er richtete sich auf und konzentrierte sich ganz darauf, so viele Fische wie möglich mit seinen Pranken und Zähnen zu fangen. Viele verschlang er bei lebendigem Leibe, unbeirrt von den Flügeln, die noch im Maul flatterten. Es war atemberaubend, mit welcher Kraft und Schnelligkeit er zuschlug. Genauer gesagt war es weniger die Geschwindigkeit als vielmehr die traumwandlerische Sicherheit des Tieres, die so eindrucksvoll war, sein völliges Aufgehen im Augenblick. Um eine solche Mischung aus Leichtigkeit und Konzentration, ein solches In-der-Gegenwart-Sein hätten ihn selbst die weisesten Yogis beneidet.

Als der Spuk vorbei war, war ich geschunden am ganzen Leib, im Stauraum lagen sechs Fliegende Fische und eine weit größere Zahl im Rettungsboot. Rasch wickelte ich einen Fisch in eine Decke, schnappte mir ein Beil und kletterte auf das Floß.

Ich ging mit größter Umsicht zu Werke. Der Misserfolg des Vormittags hatte mich ernüchtert. Noch so einen Fehler konnte ich mir nicht leisten. Behutsam wickelte ich den Fisch aus und hielt ihn mit einer Hand fest, denn mir war klar, dass er versuchen würde, sich durch einen Sprung zu retten. Je näher der Augenblick der Enthüllung rückte, desto größer meine Angst und mein Ekel. Der Kopf des Fisches kam zum Vorschein. So wie ich ihn hielt, sah er wie eine Kugel widerliches Fisch-Eis auf einem wollenen Waffelhörnchen aus. Das Ding schnappte nach Wasser, Maul und Kiemen öffneten und schlossen sich langsam. Ich spürte den Druck seiner Flügel in meiner Hand. Ich nahm den umgestülpten Eimer als Hackklotz und legte seinen Kopf oben darauf. Ich packte das Beil. Ich hob es empor.

Mehrmals holte ich mit dem Beil aus, aber ich konnte einfach nicht zuschlagen. Nach allem, was ich in den Tagen zuvor erlebt hatte, mögen solche Gefühlsanwandlungen lächerlich wirken, aber das waren die Taten anderer gewesen, Taten von Raubtieren. Man konnte sagen, dass ich mitverantwortlich für den Tod der Ratte war, aber ich hatte sie nur geworfen; getötet hatte Richard Parker sie. Mein ganzes bisheriges Leben als friedfertiger Vegetarier stand zwischen mir und der gezielten Enthauptung dieses Fisches.

Ich bedeckte den Fischkopf mit der Decke und drehte das Beil um. Wieder schwebte meine Hand in der Luft. Der Gedanke, dass ich mit einem Hammer auf einen weichen, lebendigen Kopf einschlagen sollte, war unerträglich.

Ich legte das Beil zur Seite. Ich würde dem Fisch den Hals brechen und dabei nicht hinsehen. Ich wickelte ihn fest in die Decke. Mit beiden Händen bog ich das Päckchen. Je mehr Druck ich ausübte, desto heftiger zappelte der Fisch. Ich stellte mir vor, wie ich mich fühlen würde, wenn ich in eine Decke gewickelt wäre und jemand versuchte, mir das Genick zu brechen. Ich war entsetzt. Mehrmals gab ich auf. Und doch wusste ich, dass ich es tun musste, und je länger ich wartete, desto länger dauerten die Qualen des Fischs.

Mit tränenüberströmten Wangen trieb ich mich an, bis ich endlich ein Knacken hörte und der Überlebenskampf in meinen Händen endete. Ich zog die Decke beiseite. Der Fliegende Fisch war tot. Der Kopf war auf einer Seite aufgeplatzt und blutig, da wo die Kiemen waren.

Ich weinte bitterlich um diese arme verstorbene Seele. Es war das erste fühlende Wesen, das ich getötet hatte. Ich hatte getötet. Ich war schuldig geworden wie Kain. Ich war sechzehn Jahre alt, ein harmloser Junge, fromm und weltfremd, und jetzt klebte Blut an meinen Händen. Das ist eine entsetzliche Bürde. Jedes fühlende Wesen ist heilig. Bis heute schließe ich diesen Fisch in alle meine Gebete ein.

Danach war es leichter. Jetzt wo er tot war, sah der Fliegende Fisch nicht anders aus als die Fische auf dem Markt in Pondicherry. Er war etwas anderes, etwas, das außerhalb des großen Schöpfungsplans stand. Ich hackte ihn in Stücke und legte sie in den Eimer.

Als der Tag sich seinem Ende zuneigte, versuchte ich erneut mein Glück mit dem Fischen. Anfangs erging es mir nicht besser als am Morgen. Aber der Erfolg schien nur eine Frage der Zeit. Die Fische knabberten eifrig an dem Köder. Ihr Interesse war unverkennbar. Mir ging auf, dass es kleine Fische waren, zu klein für den Haken. Also warf ich meine Angel weiter aus und ließ sie tiefer ins Wasser sinken, jenseits der Reichweite der kleineren Fische, die sich rings um das Floß und das Rettungsboot scharten.

Schließlich hatte ich meinen ersten Erfolg. Ich hatte den Kopf des Fliegenden Fisches als Köder genommen und nur ein Gewicht angehängt, und nach dem Auswerfen zog ich die Schnur rasch wieder zurück, sodass der Fischkopf über die Wellen hüpfte. Eine Dorade schoss heran und schnappte nach dem Fischkopf. Ich ließ die Schnur ein wenig locker, weil ich sichergehen wollte, dass sie den Köder tatsächlich verschluckte, bevor ich ihn dann mit kräftigem Ruck wieder zu mir hinzog. Die Dorade schnellte aus dem Wasser und zerrte so heftig an der Schnur, dass sie mich beinahe vom Floß gerissen hätte. Ich stemmte mich dagegen. Die Schnur war zum Zerreißen gespannt. Es war eine gute Angelschnur; sie würde nicht reißen. Ich begann meinen Fang einzuholen. Die Dorade kämpfte mit aller Kraft, sie sprang und tauchte und zappelte. Die Angelschnur schnitt mir in die Hände. Ich schützte meine Hände mit der Decke. Mein Herz hämmerte. Der Fisch war so stark wie ein Ochse. Allmählich kamen mir Zweifel, ob es mir wirklich gelingen würde, ihn aus dem Wasser zu ziehen.

Mir fiel auf, dass alle anderen Fische rings um das Boot und das Floß verschwunden waren. Zweifellos hatten sie bemerkt, in welcher Gefahr die Dorade war. Ich musste mich beeilen. Der Kampf würde Haie anlocken. Aber die Dorade wehrte sich wie der Teufel. Meine Arme schmerzten. Jedes Mal, wenn ich sie in der Nähe des Floßes hatte, schlug sie mit solcher Wucht um sich, dass ich wieder Schnur nachlassen musste, ob ich wollte oder nicht.

Aber schließlich gelang es mir, meinen Fang an Bord zu ziehen. Er war über einen Meter lang, viel zu groß für meinen Eimer. Bestenfalls hätte die Dorade ihn sich als Hut überstülpen können. Mit Knien und beiden Händen hielt ich den Fisch fest. Es war eine einzige zuckende Muskelmasse, so lang, dass der Schwanz noch unter mir hervorschaute und heftig gegen das Floß schlug. Ich kam mir vor wie ein Rodeoreiter, der einen wilden Mustang bezwingen will. Ich war in ausgelassener Stimmung, vom Sieg berauscht. Die Dorade ist ein wunderschöner Fisch, groß, fleischig und schlank, mit einer gewölbten Stirn, die auf starken Charakter schließen lässt, einer sehr langen Rückenflosse, stolz wie ein Hahnenkamm, und einem glatten, glänzenden Schuppenkleid. Mir war, als hätte ich dem Schicksal einen Schlag versetzt, als ich einen solchen Gegner bezwang. Mit diesem Fisch rächte ich mich an der See, am Wind, an Schiffsuntergängen, an allen Umständen, die sich gegen mich verschworen hatten. »Ich danke dir, Vishnu, ich danke dir!«, rief ich. »Einst hast du in Gestalt eines Fisches die Welt gerettet. Jetzt kommst du als Fisch zu mir und rettest mich. Ich danke dir, ich danke dir!«

Das Töten war einfach. Ich hätte mir die Mühe erspart - schließlich war der Fisch für Richard Parker bestimmt, und der hätte es auf seine bewährte Art erledigt -, hätte nicht der Angelhaken in dem Fischmaul gesteckt. Eine Dorade an der Angel, da hatte ich allen Grund zum Jubeln — aber wenn an dem Haken ein Tiger hing, sah das anders aus. Ich rückte dem Problem sogleich zu Leibe. Ich packte das Beil mit beiden Händen und schlug es dem Fisch mit der stumpfen Seite heftig auf den Kopf. (Ich brachte es immer noch nicht fertig, die Seite mit der Klinge zu nehmen.) Im Todeskampf ging mit der Dorade etwas Unglaubliches vor: Sie leuchtete in rascher Folge in allen erdenklichen Farben. Blau, Grün, Rot, Gold und Violett huschten wie Neonblitze über den sterbenden Körper. Mir war, als erschlüge ich einen Regenbogen. (Später erfuhr ich, dass die Dorade berühmt ist für dieses Farbenspiel im Augenblick des Todes.) Als der Fisch endlich reglos, matt und grau vor mir lag, konnte ich den Haken herausziehen. Es gelang mir sogar, einen Teil meines Köders zu retten.

Man mag sich wundern, dass jemand, der noch kurz zuvor den Tod eines Fliegenden Fisches beweint hatte, nun plötzlich voller Genugtuung eine Dorade totschlagen konnte. Ich könnte es damit erklären, dass mich die skrupellose Art bekümmerte, in der ich den Navigationsfehler eines Fliegenden Fisches ausnutzen wollte, dass der mannhafte Fang einer Dorade hingegen mir Optimismus und Selbstsicherheit verlieh. Aber das ist nicht die Wahrheit. Die Erklärung ist einfach und hart: Der Mensch gewöhnt sich an alles, sogar an das Töten.

Von Jagdstolz erfüllt zog ich das Floß näher an das Rettungsboot heran. Ich brachte es längsseits und duckte mich. Mit einer schwungvollen Armbewegung schleuderte ich die Dorade ins Boot. Sie landete mit einem lauten Klatschen, das Richard Parker mit einem überraschten Wuff quittierte. Er schnüffelte ein- oder zweimal vernehmlich, dann hörte ich das schmatzende Mahlen seiner Kiefer. Ich stieß mich ab, jedoch nicht ohne vorher mehrmals kräftig die Trillerpfeife zu blasen, damit Richard Parker auch wusste, wer ihn so großzügig mit frischer Nahrung bewirtet hatte. Außerdem holte ich mir einige Zwiebacke und eine Dose Wasser. Die fünf Fliegenden Fische im Stauraum waren tot. Ich riss ihnen die Flügel ab, warf sie fort und wickelte die Fische in die Fischdecke, wie ich sie nun nannte.

Bis ich mir das Blut abgewaschen, mein Angelgerät gereinigt und verstaut und zu Abend gegessen hatte, war die Nacht hereingebrochen. Mond und Sterne verbargen sich hinter einem dünnen Wolkenschleier, und es war stockfinster. Ich war müde, aber noch immer aufgewühlt von den Ereignissen der vergangenen Stunden. Dass ich mir eine Aufgabe gestellt hatte, hatte mir gut getan; ich war so vertieft gewesen, dass ich nicht eine Minute lang an meine schlimme Lage oder an mich selbst gedacht hatte. Kein Zweifel: Fischen war ein besserer Zeitvertreib als Geschichtenerzählen oder »Ich sehe was, was du nicht siehst«. Am Morgen würde ich weiterfischen, sobald es hell genug war.

Ich schlief ein, in Gedanken immer noch bei den Chamäleontönen, dem schimmernden Farbenspiel der sterbenden Goldmakrele.

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