Kapitel 72

Ich beschloss, einen Schildkrötenpanzer als Schild zu nehmen, wenn ich Richard Parker dressierte. Ich schnitt in beide Seiten des Panzers eine Kerbe und band ein Stück Seil darum. Dieser Schild war schwerer als mir lieb war, aber welchem Krieger steht schon die Wahl seiner Rüstung frei?

Beim ersten Versuch fletschte Richard Parker die Zähne, drehte die Ohren einmal um ihre eigene Achse, stieß ein kurzes, kehliges Knurren aus und ging auf mich los. Eine riesige, krallenbewehrte Pranke sauste durch die Luft und traf meinen Schild. Der Schlag schleuderte mich über Bord. Ich stürzte ins Wasser und ließ den Panzer sofort los. Er verschwand spurlos in der Tiefe, nachdem er mich noch am Schienbein getroffen hatte. Ich war außer mir vor Angst - vor Richard Parker, aber auch weil ich über Bord gegangen war. Ich war überzeugt, dass schon im nächsten Augenblick ein Hai nach mir schnappen würde. Verzweifelt versuchte ich, das Floß zu erreichen, mit genau der Art von hektischen Bewegungen, bei denen einem Hai das Wasser im Mund zusammenläuft. Zum Glück waren keine Haie da. Ich erreichte das Floß und gab Leine, soweit sie reichte. Die Hände um die Knie geschlungen und den Kopf gesenkt saß ich da und versuchte, das Feuer der Angst zu löschen, das in mir loderte. Es dauerte lange, bis das Zittern in meinem Körper ganz aufhörte. Ich verbrachte den Rest des Tages und die ganze Nacht auf dem Floß. Ich trank nicht und aß nicht.

Als ich das nächste Mal eine Schildkröte fing, versuchte ich es von neuem. Ihr Panzer war kleiner und leichter und eignete sich besser als Schild. Wieder unternahm ich einen Vorstoß und stampfte mit dem Fuß auf die Mittelbank.

Ich frage mich, ob jemand, der meine Geschichte hört, verstehen wird, dass mein Verhalten weder die Tat eines Wahnsinnigen noch ein verkappter Selbstmordversuch war, sondern schlichte Notwendigkeit. Entweder zähmte ich ihn und gab ihm zu verstehen, wer Nummer eins war und wer Nummer zwei - oder ich starb an dem Tag, an dem ich zum ersten Mal bei rauer See an Bord des Rettungsbootes klettern wollte und ihm das nicht lieb war.

Wenn ich meine Lehrzeit als Hochseedompteur überlebt habe, dann lag es daran, dass Richard Parker mich nicht wirklich angreifen wollte. Wie alle Tiere halten auch Tiger im Grunde nichts von gewaltsamen Auseinandersetzungen. Wenn Tiere kämpfen, dann geschieht es mit der Absicht zu töten und im Bewusstsein, dass sie selbst getötet werden können. Kommt es zum Kampf, riskieren sie viel. Deshalb verfügen Tiere über ein umfassendes System von Warnsignalen, das dazu dient, den Kampf zu vermeiden, und sie sind gern bereit nachzugeben, wenn sie eine Chance dazu sehen. Es kommt nur selten vor, dass ein Tiger ein anderes Raubtier ohne vorherige Warnung angreift. In der Regel geht er laut knurrend und brüllend geradewegs auf den Gegner los. Doch kurz bevor es zu spät ist, bleibt er wie angewurzelt stehen und stößt ein tiefes, donnerndes Grollen aus. Er wägt sorgsam ab. Wenn er für sich keine Bedrohung sieht, macht er kehrt und ist zufrieden, überzeugt, dass er seine Position hinreichend deutlich gemacht hat.

Mir gegenüber machte Richard Parker seine Position viermal deutlich. Viermal versetzte er mir einen Hieb mit der rechten Pranke und schleuderte mich über Bord, und viermal verlor ich meinen Schild. Vor, nach und während jeder Attacke war ich vor Angst wie gelähmt und hockte lange Zeit zitternd auf meinem Floß. Aber nach und nach lernte ich seine Signale verstehen. Ich erkannte, dass er mit Ohren, Augen, Schnurrhaaren, Zähnen, Schwanz und Kehle eine einfache, unmissverständliche Sprache sprach, die mir genau sagte, was er als Nächstes vorhatte. Ich lernte, mich zu ducken, bevor er die Pranke hob.

Und dann machte ich meine Position klar. Die Füße auf dem Bootsrand, ließ ich das Boot schaukeln und meine Trillerpfeife ihre eigene, einsilbige Sprache sprechen, bis Richard Parker stöhnend am Boden lag.

Mein fünfter Schild blieb mir erhalten bis zum Ende der Dressur.

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