Kapitel 65

Ich brütete Stunden über dem Handbuch, um hinter das Geheimnis der Navigation zu kommen. Einfache Anweisungen, wie man auf See überlebte, gab es im Überfluss, aber nautische Grundkenntnisse setzte der Verfasser voraus. Als Schiffbrüchigen hatte er einen erfahrenen Seemann vor Augen, der mit Kompass, Seekarte und Sextanten in der Hand untergegangen war und nur nicht wusste, wie er sie halten musste, um zum nächsten Hafen zu finden. Das führte zu Sätzen wie: »Denken Sie daran: Zeit ist Entfernung. Vergessen Sie nie, Ihre Uhr aufzuziehen« oder »Notfalls ermitteln Sie den Breitengrad mit den Fingern.« Ich hatte auch einmal eine Uhr gehabt, aber die lag jetzt auf dem Grund des Pazifiks. Sie war mit der Tsimtsum untergegangen. Aber ich konnte den Breiten- nicht vom Längengrad unterscheiden. Ich wusste eine ganze Menge über das Meer, aber eben nur über diejenigen, die darin schwammen, nicht über diejenigen obendrauf. Wind und Strömungen waren für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Die Sterne sagten mir nichts. Ich hätte nicht ein einziges Sternbild nennen können. Wir zu Hause hatten uns nur nach einem Stern gerichtet: der Sonne. Wir gingen früh schlafen und standen früh auf. Sicher, ich hatte im Laufe meines Lebens in manch klarer Nacht den Sternenhimmel bewundert, wo die Natur mit nur zwei Farben und in einfachster Technik grandiose Bilder malt, und wie jeder Mensch hatte ich ehrfürchtig hinaufgeschaut und gespürt, wie klein ich war; es war ein Schauspiel, an dem ich mich durchaus orientierte, doch orientierte im spirituellen, nicht im geographischen Sinne. Wie man den Nachthimmel als Straßenkarte nehmen konnte, davon wusste ich nichts. Die Sterne mochten noch so funkeln - wie sollten sie mir denn den Weg weisen, wenn sie selbst über den Himmel zogen?

Nach einer Weile gab ich es auf. Was ich erfuhr, würde mir ja doch nichts nützen. Ich hatte keinen Einfluss darauf, in welche Richtung ich fuhr - kein Steuer, keine Segel, kein Motor, ein paar Ruder, aber nicht die Muskeln dazu. Wozu sollte ich mir denn einen Kurs ausdenken, wenn ich ihn doch nicht halten konnte? Und selbst wenn ich es gekonnt hätte, wusste ich denn, welches die richtige Richtung war? Nach Westen, von wo ich gekommen war? Ostwärts nach Amerika? Nach Norden, Richtung Asien? Nach Süden, wo die großen Schifffahrtsrouten waren? Alle vier schienen gute und schlechte Richtungen zugleich.

Also ließ ich mich treiben. Wind und Meeresströmungen bestimmten, wohin ich fuhr. Wie für alle sterblichen Wesen war auch für mich Zeit und Entfernung eins - ich war unterwegs auf der Stra-ße des Lebens -, und meine Finger hatten anderes zu tun als die Breitengrade zu ermitteln. Später fand ich heraus, dass ich mich immer auf einer schmalen Straße gehalten hatte, dem, wie die Wissenschaft sagt, äquatorialen Gegenstrom.

Загрузка...