Kapitel 49

Am Morgen war ich wie gelähmt. Meine Erschöpfung bannte mich auf die Plane. Selbst das Denken war zu viel. Nur mit äußerster Anstrengung konnte ich überhaupt einen Gedanken fassen. Mit der Zähigkeit und dem Tempo einer Karawane, die durch die Wüste zieht, ordnete ich schließlich das Durcheinander in meinem Kopf.

Das Wetter war wie am Vortag warm und trübe, mit tiefhängenden Wolken und einem leichten Wind. Das war der erste Gedanke, den ich mir erarbeitete. Das Boot schaukelte sanft, das war der zweite.

Zum ersten Mal dachte ich an Nahrung. In den letzten drei Tagen hatte ich keinen Tropfen getrunken, keinen Bissen gegessen und keine Minute geschlafen. Diese nahe liegende Erklärung für meine Schwäche machte mir ein wenig Mut.

Richard Parker war nach wie vor an Bord. Genauer gesagt unmittelbar unter mir. Man hätte nicht glauben sollen, dass dies eine Frage war, die zu klären war, doch erst nach langem Überlegen, nach Betrachten aller möglichen Deutungen aus allen Perspektiven, kam ich zu dem Schluss, dass dies kein Traum und kein Wahn und keine falsche Erinnerung oder sonst eine Sinnestäuschung war, sondern eine unbestreitbare Tatsache, wahrgenommen in geschwächtem, aufs Äußerste erregtem Zustand. Ich würde mich vergewissern, sobald ich mich gut genug dazu fühlte.

Wie ich zweieinhalb Tage lang einen 450 Pfund schweren bengalischen Tiger in einem acht Meter langen Rettungsboot hatte übersehen können, war ein Rätsel, dessen Lösung warten musste, bis ich wieder besser bei mir war. Jedenfalls war Richard Parker mit Sicherheit der - relativ gesehen - größte blinde Passagier in der Geschichte der Seefahrt. Von der Nasen- bis zur Schwanzspitze nahm er über ein Drittel des Schiffes ein, auf dem er fuhr.

Jeder kann sich ausmalen, wie mich auch noch der letzte Mut verließ. So war es. Aber gerade dadurch ging es mir besser. Im Sport beobachtet man das immer wieder. Der Herausforderer des Tennischampions macht einen guten Aufschlag, doch binnen kurzem verliert er das Selbstvertrauen. Der Champion führt haushoch. Aber in der letzten Runde, wenn er nichts mehr zu verlieren hat, entspannt der Herausforderer sich wieder, er spielt mutiger, riskanter. Plötzlich lässt er die Bälle fliegen wie der Teufel, und der Champion hat alle Mühe, dass er seinen Vorsprung nicht verliert. Genauso war es bei mir. Einen Funken Hoffnung, dass man mit einer Hyäne fertig wurde, gab es, aber Richard Parker war mir so offensichtlich überlegen, dass ich keinen Gedanken daran verschwenden musste. Mit einem Tiger an Bord hatte ich keine Chance. Und da das nun feststand, konnte ich genauso gut sehen, dass ich etwas zu trinken fand.

Ich glaube, das hat mir an diesem Morgen das Leben gerettet - dass ich im wahrsten Sinne des Wortes verdurstete. Jetzt wo ich begriffen hatte, wie durstig ich war, konnte ich an gar nichts anderes mehr denken, als sei schon das Wort allein salzig, und je mehr ich es umwälzte, desto durstiger wurde ich. Ich habe mir sagen lassen, dass das Gefühl des Erstickens noch übermächtiger ist als das des Verdurstens. Aber nicht für lange, würde ich vermuten. Nach ein paar Minuten ist man tot, und damit ist auch die Qual des Erstickens vorbei. Das Verdursten hingegen zieht sich sehr lange hin. Christi Tod am Kreuz war ein Ersticken, aber nur über den Durst hat Er sich beklagt. Wenn Durst eine solche Qual ist, dass selbst der menschgewordene Gott ihn nicht erträgt, kann man sich die Wirkung auf einen gewöhnlichen Sterblichen ausmalen. Es war genug, dass man den Verstand darüber verlieren konnte. Nie habe ich größere körperliche Qualen gespürt als diesen fauligen Geschmack im Mund, die pelzige Zunge, das unerträgliche Würgen im Hals, das Gefühl, dass mein Blut zu einem dicken Sirup wurde, der kaum noch im Körper kreiste. Wahrlich, ein Tiger war nichts dagegen.

Und so verbannte ich denn alle Gedanken an Richard Parker und machte mich mutig auf die Suche nach Wasser.

Sogleich schlug meine innere Wünschelrute aus, Quellwasser sprudelte, denn ich machte mir klar, dass ich auf einem vorschriftsmäßigen Rettungsboot war, das doch gewiss auch mit Notrationen ausgestattet war. Dieser Gedanke kam mir nur logisch vor. Welcher Kapitän würde es denn versäumen, für den Fall des Falles für seine Mannschaft vorzusorgen? Welcher Schiffsausrüster würde sich das Geschäft entgehen lassen, das sich unter dem noblen Vorwand der Lebensrettung machen ließ? Es stand fest. Irgendwo war Wasser an Bord. Ich musste es nur finden.

Und dazu musste ich mich bewegen.

Ich arbeitete mich wieder zur Bootsmitte vor, bis ans Ende der Plane. Mühsam robbte ich vorwärts. Ich kam mir vor, als kröche ich an den Rand eines Kraters, und wenn ich über die Kante blickte, würde ich in den brodelnden Kessel aus glutroter Lava sehen. Ich legte mich auf den Bauch. Vorsichtig reckte ich den Hals vor. Ich schaute nicht weiter über die Plane als unbedingt nötig. Richard Parker sah ich nicht. Deutlich zu sehen hingegen war die Hyäne. Sie war wieder an ihren alten Platz hinter dem, was vom Zebra noch übrig war, zurückgekehrt. Sie sah mich an.

Ich fürchtete mich nicht mehr vor ihr. Sie saß keine drei Meter von mir, doch trotzdem setzte mein Herz keinen einzigen Takt lang aus. Das war immerhin das eine Gute daran, dass Richard Parker im Boot war. Sich vor diesem räudigen Hund zu fürchten, wenn zugleich ein Tiger in der Nähe war, das war, als hätte man Angst vor einem Splitter, wo ganze Bäume stürzten. Ich spürte nur noch Abscheu vor ihr. »Du widerwärtiges, hässliches Ding«, murmelte ich. Ich hätte mich aufgerichtet und sie mit einem Stock vom Boot geprügelt, hätte ich Kraft genug und einen Stock gehabt. An Mut mangelte es nicht.

Spürte die Hyäne etwas von meinem Gefühl der Überlegenheit? Sagte sie sich: »Vorsicht, ein Alphatier beobachtet mich - besser nicht bewegen«? Ich weiß es nicht. Jedenfalls rührte sie sich nicht. Ja, sie saß sogar so geduckt da, als wolle sie sich vor mir verstecken. Aber das würde ihr nichts helfen. Sie würde schon noch bekommen, was sie verdiente.

Richard Parker war auch die Erklärung dafür, warum die Tiere sich so seltsam benommen hatten. Jetzt war klar, warum die Hyäne sich in den lächerlich engen Raum hinter dem Zebra gezwängt hatte und warum sie so lange gezögert hatte, bis sie es anfiel. Es war Furcht vor dem größeren Tier, Hemmung, dessen Beute anzutasten. Der angespannte vorübergehende Frieden zwischen der Hyäne und Orangina und die Tatsache, dass sie mich bisher verschont hatte, waren mit Sicherheit demselben Grunde zuzuschreiben: Für das größte Raubtier an Bord war jeder von uns Beute, und kleinere Räuber mussten sich beherrschen. Allem Anschein nach hatte die Anwesenheit des Tigers mich vor der Hyäne geschützt - in eine größere Traufe konnte man vom Regen wohl kaum kommen.

Aber das Herrentier benahm sich nicht wie ein Herrentier, und so hatte die Hyäne sich Freiheiten erlaubt. Ich fragte mich, warum Richard Parker so teilnahmslos geblieben war, und das drei volle Tage lang. Nur zwei Erklärungen fielen mir ein: Betäubung oder Seekrankheit. Vater hatte bestimmten Tieren regelmäßig Beruhigungsmittel gegeben, damit die Seefahrt sie nicht zu sehr belastete. Hatte er womöglich noch am Abend vor dem Unglück Richard Parker ein Sedativum verabreicht? Hatte der Schock des Schiffbruchs - der Lärm, der Sturz ins Meer, die entsetzliche Anstrengung, mit der er zum Rettungsboot geschwommen war - den betäubenden Effekt verstärkt? Und machte ihm danach die Seekrankheit zu schaffen? Das waren die beiden einzigen plausiblen Erklärungen, auf die ich kam.

Aber lange hielt ich mich mit der Frage nicht auf. Ich brauchte Wasser.

Ich sah mich im Boot um.

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