Kapitel 91

Ich kletterte hinüber auf das Boot meines Bruders und erkundete es mit den Händen. Wie sich herausstellte, hatte er mich belogen. Er hatte etwas Schildkrötenfleisch, den Kopf einer Dorade und - welch köstlicher Leckerbissen - sogar ein paar Zwiebackkrümel. Und er hatte Wasser. All das wanderte in meinen Mund. Dann kehrte ich zurück in mein Boot und ließ seines davontreiben. Die Tränen, die ich vergossen hatte, taten meinen Augen gut. Das kleine Fenster in der linken oberen Ecke meines Gesichtsfelds öffnete sich einen Spaltbreit. Ich spülte die Augen mit Salzwasser aus, und mit jedem Mal ging das Fenster ein wenig weiter auf. Innerhalb von zwei Tagen kehrte mein Augenlicht zurück.

Doch bei dem Anblick, der sich mir bot, wünschte ich fast, ich wäre blind geblieben. Der zerfleischte, verstümmelte Leib lag am Boden des Bootes. Richard Parker hatte sich ausgiebig darüber hergemacht, auch über das Gesicht, und so erfuhr ich nie, wer mein Bruder gewesen war. Die gebrochenen Rippen sahen aus wie die Spanten eines Schiffs, und der blutlose, entsetzlich zugerichtete Torso kam mir wie ein Modell unseres Rettungsboots vor.

Ich will gestehen, dass ich einen seiner Arme mit dem Fischhaken angelte und das Fleisch als Köder verwendete. Und ich will auch gestehen, dass ich in meiner entsetzlichen Not und dem Wahnsinn, in den sie mich trieb, etwas von seinem Fleisch aß. Kleine Stückchen wohlgemerkt, schmale Streifen, die ich eigentlich auf den Fischhaken spießen wollte und die, nachdem sie in der Sonne getrocknet waren, aussahen wie gewöhnliches Tierfleisch. Sie rutschten mir beinahe unbemerkt in den Mund. Die Not war erbarmungslos, und er war schließlich schon tot. Ich aß nichts mehr von ihm, als ich wieder Fisch hatte.

Ich bete jeden Tag für seine Seele.

Загрузка...