Kapitel 3

Meinen Namen habe ich nach einem Schwimmbad. Sehr merkwürdig, wenn man bedenkt, wie wasserscheu meine Eltern waren. Einer der ersten Geschäftspartner meines Vaters war Francis Adirubasamy. Er wurde ein guter Freund der Familie. Ich habe ihn immer Mamaji genannt — mama ist das tamilische Wort für Onkel und ji ist die Nachsilbe, mit der man in Indien Respekt und Zuneigung ausdrückt. Als junger Mann, lange bevor ich zur Welt kam, war Mamaji ein erfolgreicher Wettkampfschwimmer gewesen, der Champion von ganz Südindien. Und so sah er sein Leben lang aus. Mein Bruder Ravi hat mir einmal erzählt, dass Mamaji bei seiner Geburt nicht aufhören wollte, Wasser zu atmen, und der Arzt musste ihn, damit er nicht erstickte, an den Füßen packen und über seinem Kopf kreisen lassen, immer und immer im Kreis herum.

»Das hat ihn gerettet!«, sagte Ravi und machte über seinem eigenen Kopf wilde Handbewegungen. »Er musste husten, das Wasser kam raus, und von da an hat er Luft geatmet; aber sein ganzes Fleisch und Blut ist dabei in den Oberkörper gegangen. Deshalb ist seine Brust so kräftig und die Beine sind so dünn.«

Ich glaubte es ihm. (Ravi hat mich immer geärgert. Das erste Mal, dass er Mamaji in meiner Gegenwart »MrFish« nannte, habe ich ihm eine Bananenschale ins Bett gesteckt.) Selbst als er schon über sechzig war und ein wenig gebeugt ging, als die Schwerkraft eines ganzen Lebens die bei der Geburt nach oben geschleuderten Muskeln wieder erdwärts gezogen hatte, schwamm Mamaji noch jeden Morgen im Pool des Aurobindo-Aschrams seine dreißig Bahnen.

Er mühte sich, meinen Eltern das Schwimmen beizubringen, aber das Äußerste, was er erreichte, war, dass sie am Strand bis zu den Knien ins Wasser gingen und groteske Ruderbewegungen mit den Armen machten; wenn sie das Brustschwimmen übten, wirkten sie, als kämpften sie sich durch den Dschungel und teilten mit den Armen das hohe Gras, und wenn sie kraulten, sahen sie aus, als liefen sie einen Berg hinunter und versuchten mit den Armen die Balance zu halten. Ravi legte ähnliches Geschick an den Tag.

Erst als ich auf den Plan trat, fand Mamaji einen willigen Schüler. Am Tag, an dem ich ins schwimmfähige Alter kam - und das, erklärte Mamaji zum Entsetzen meiner Mutter, sei mit sieben Jahren -, ging er mit mir hinunter an den Strand, breitete die Arme zum Meer und rief: »Das ist mein Geschenk für dich!«

»Und dann hätte er dich beinahe ersäuft«, sagte Mutter.

Ich hielt meinem Schwimmguru die Treue. Unter seinem aufmerksamen Blick strampelte ich mit den Beinen, wühlte mit den Händen den Sand auf und drehte mit jedem Zug den Kopf, um Luft zu holen. Ich muss ausgesehen haben wie ein Kind, das in Zeitlupe einen Wutanfall bekommt. Dann ging es ins Wasser, er hielt mich an der Oberfläche, und ich tat mein Bestes, um zu schwimmen. Es war weit schwieriger als an Land. Aber Mamaji war geduldig und machte mir Mut.

Als ich die Grundbegriffe zu seiner Zufriedenheit erlernt hatte, ließen wir das Lachen und das Kreischen hinter uns, das Durcheinander, das Platschen, die blaugrünen Wellen und die tosende Brandung, und nun kam das ordentliche Rechteck, die gleichmäßige Tiefe (und das Eintrittsgeld) des Schwimmbeckens im Aschram.

Meine ganze Kindheit lang ging ich mit ihm dreimal die Woche dorthin, ein frühmorgendliches Ritual jeden Montag, Mittwoch und Freitag, so gleichmäßig im Takt wie die Bewegungen eines guten Brustschwimmers. Ich sehe es noch vor mir, wie dieser würdige alte Herr neben mir seine Kleider auszog, wie mit jedem sorgfältig abgelegten Stück mehr von seinem Körper zum Vorschein kam, wobei stets der Anstand gewahrt blieb und er sich ganz zum Schluss ein wenig abwandte und dann eine prachtvolle ausländische Profibadehose überstreifte. Er streckte sich, dann war er bereit. Alles war von epischer Schlichtheit. Der Unterricht und später die Übungen waren hart, aber es war eine große Befriedigung, wenn man eine Technik immer schneller und besser beherrschen lernte, immer und immer wieder, fast zur Hypnose, und das Wasser wandelte sich vom geschmolzenen Blei zum flüssigen Licht.

Ans Meer kehrte ich allein zurück, ein heimliches Vergnügen, zu dem mich die mächtigen Wogen lockten, die ihre kleinen Ausläufer in Wellen auf den Strand schickten, sanfte Lassos, mit denen sie ihren willigen indischen Indianerjungen fingen.

Einmal, ich muss ungefähr dreizehn gewesen sein, schenkte ich Mamaji zum Geburtstag meine zwei ersten Bahnen Schmetterlingsstil. Nach der zweiten war ich so erschöpft, dass ich ihm kaum noch zuwinken konnte.

Es wurde nicht nur geschwommen, es wurde auch vom Schwimmen geredet. Das Reden war der Teil, den Vater mochte. Je standhafter er sich weigerte, tatsächlich ins Wasser zu gehen, desto glühender malte er es sich aus. Das Fachsimpeln unter Schwimmern war seine Erholung nach alldem, was täglich bei der Arbeit im Zoo zu bereden war. Wasser ohne ein Flusspferd drin war so viel leichter zu beherrschen als Wasser mit.

Mamaji hatte dank der Großzügigkeit der Kolonialverwaltung zwei Jahre lang in Paris studiert. Das war Anfang der dreißiger Jahre, als die Franzosen noch alles daransetzten, Pondicherry so französisch zu machen, wie die Briten den Rest von Indien britisch machen wollten. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was Mamaji dort studiert hat. Sicher etwas, das mit Wirtschaft zu tun hatte. Er konnte wunderbar Geschichten erzählen, aber auf seine Erlebnisse am Eiffelturm oder im Louvre oder in den Cafes der Champs-Élysées wartete man vergebens. Alle seine Geschichten hatten mit Schwimmbädern und Schwimmwettbewerben zu tun. Da gab es zum Beispiel die Piscine Deligny, das älteste Schwimmbad der Stadt, dessen Anfänge bis ins Jahr 1796 zurückreichten; es war ein offenes Boot, am Quai d'Orsay festgemacht, und im Jahr 1900 der Austragungsort für die Schwimmwettkämpfe der Olympischen Spiele. Doch keine der Zeiten wurde vom Internationalen Schwimmverband anerkannt, denn das Becken war sechs Meter zu lang. Das Wasser in diesem Becken kam direkt aus der Seine, ungeklärt und ungeheizt. »Es war kalt und schmutzig«, sagte Mamaji. »Das Wasser war schon durch ganz Paris geflossen, und so sah es auch aus. Und die Leute, die drin badeten, haben dafür gesorgt, dass es noch ekliger wurde.« Vertraulich flüsternd, mit schockierenden Beispielen, mit denen er seine These untermauerte, versicherte er uns, dass der Standard der Körperhygiene bei den Franzosen ausgesprochen niedrig war. »Deligny war schon schlimm, aber noch schlimmer war das Bain Royal, auch so eine Latrine an der Seine. Im Deligny haben sie wenigstens die toten Fische rausgeholt.« Aber trotz allem war und blieb es ein Olympiabecken, und das machte es unsterblich. Mochte es auch noch so eine Jauchegrube sein, Mamaji sprach von Deligny stets mit einem seligen Lächeln.

Besser war man in den Piscines Chäteau-Landon, Rouvet oder Boulevard de la Gare dran. Das waren Hallenbäder, die rund ums Jahr geöffnet hatten. Sie wurden gespeist vom Kondenswasser der Dampfmaschinen der umliegenden Fabriken, das sauberer und wärmer war. Doch auch diese Bäder waren ein wenig unappetitlich und oft überfüllt. »Da war so viel Schleim und Auswurf im Wasser, dass man das Gefühl hatte, man schwimmt zwischen Quallen«, lachte Mamaji.

Die Piscines Hebert, Ledru-Rollin und Butte-aux-Cailles waren helle, moderne, geräumige Bäder, die ihr Wasser aus eigenen Brunnen bezogen. Sie waren der Maßstab, an dem andere städtische Schwimmbäder gemessen wurden. Außerdem gab es natürlich die Piscine des Tourelles, das andere Olympiabad der Stadt, eröffnet 1924, als die Spiele zum zweiten Mal in Paris ausgetragen wurden. Und es gab weitere, viele weitere.

Doch kein anderes Bad konnte es in Mamajis Augen mit dem Glanz der Piscine Molitor aufnehmen. Das war das Nonplusultra der Badekultur von Paris, ja der gesamten zivilisierten Welt.

»Es war ein Schwimmbad für die Götter. Der Schwimmclub des Molitor war der beste in ganz Paris. Es hatte zwei Becken, ein offenes und ein überdachtes. Beide waren so groß wie zwei kleine Ozeane. Beim Innenbecken waren immer zwei Bahnen reserviert, damit Wettkampfschwimmer üben konnten. Das Wasser war so klar und rein, man hätte seinen Kaffee damit kochen können. Rund um das Becken standen hölzerne Umkleidekabinen, blau und weiß auf zwei Etagen. Von oben konnte man hinuntersehen und alles beobachten. Es gab Angestellte, die die Kabinen mit Kreide markierten, zum Zeichen, dass sie besetzt waren, hinkende alte Männer, freundlich auf ihre bärbeißige Art. Selbst das größte Gebrüll, das lauteste Palaver machte ihnen nichts aus. Die Duschen spendeten wunderbar wohl tuendes heißes Wasser. Es gab ein Dampfbad und eine Turnhalle. Im Winter wurde das Außenbecken zur Eisbahn. Es gab eine Bar, eine Cafeteria, eine große Sonnenterrasse, sogar zwei kleine Strände mit echtem Sand. Alles war Messing, Kacheln und Holz, alles blitzblank. Es war - es war ...«

Es war das einzige Schwimmbad, bei dem Mamaji die Worte fehlten, das einzige, wo er in Gedanken so viele Runden schwamm, dass er sie nicht mehr beschreiben konnte.

Mamaji hatte seine Erinnerungen, Vater seine Träume.

So kam ich zu meinem Namen, als ich drei Jahre nach Ravi als letzter, willkommener Spross meiner Familie das Licht der Welt erblickte: Piscine Molitor Patel.

Загрузка...