Kapitel 40

Richard Parker sprang mir nicht nach. Das Ruder, das ich als Knüppel hatte nehmen wollen, schwamm. Ich klammerte mich daran und angelte nach dem Rettungsring, den sein voriger Benutzer zurückgelassen hatte. Es war entsetzlich im Wasser. Es war schwarz und kalt und wütend. Ich kam mir vor wie am Grunde eines einstürzenden Brunnens. Wasser traf mich von oben. Es brannte mir in den Augen. Es zog mich in die Tiefe. Ich bekam kaum noch Luft. Ohne den Rettungsring hätte ich keine Minute durchgehalten.

Ein Dreieck fuhr durch das Wasser wie ein Messer, fünf Meter von mir. Eine Haifischflosse. Ein abscheuliches Kribbeln, kalt und nass, lief mir das Rückgrat hinunter und wieder hinauf. Ich schwamm, so schnell ich konnte, zum Vorderende des Bootes, dem Ende, das noch mit der Plane bedeckt war. Ich hievte mich mit den Ellbogen auf den Rettungsring hoch. Richard Parker war nirgends zu sehen. Auf der Plane war er nicht und auch nicht auf den Bänken. Er musste unten im Boot sein. Ich stemmte mich noch einmal hoch. Das Einzige, was ich sehen konnte, eine Sekunde lang, war am anderen Ende das Zebra, das den Kopf hin- und herwarf. Als ich wieder ins Wasser zurückfiel, tauchte eine weitere Rückenflosse gleich vor mir auf.

Die leuchtend orange Plane war mit einem kräftigen Nylonseil fixiert, das sich durch Metallösen in dem Öltuch und stumpfe Haken in der Seitenwand des Bootes wand. Die Strömung hatte mich an den Bug getrieben. Am Vordersteven - der Bug war stumpf, das Boot hatte, wenn man so sagen will, eine Stupsnase - saß die Plane nicht ganz so fest wie an den Seiten. Da wo das Seil vom Haken auf der einen zum Haken auf der anderen Seite ging, stand sie ein wenig hoch. Ich hob das Ruder und steckte den Stiel in diese Öffnung, in die kleine Unregelmäßigkeit, die mir das Leben retten konnte. Ich schob ihn nach innen, so weit er sich schieben ließ. Damit hatte das Rettungsboot nun einen Bugspriet, der über den Wellen vorausragte. Ich machte einen Klimmzug und klammerte mich mit den Beinen daran. Der Stiel drückte die Plane nach oben, doch Plane, Seil und Ruder hielten. Ich war aus dem Wasser, wenn auch nur einen halben, manchmal einen dreiviertel Meter über den tanzenden Wellen. Bei den größeren streifte die Schaumkrone mich nach wie vor.

Ich war allein, ein Waisenjunge mitten auf dem Pazifik, der sich an ein Ruder klammerte, ein ausgewachsener Tiger vor mir, Haie unter mir, der tosende Sturm über mir. Hätte ich vernünftig über meine Aussichten nachgedacht, so hätte ich gewiss einfach das Ruder losgelassen und hätte nur noch gehofft, dass ich ertrinke, bevor ich gefressen werde. Aber soweit ich mich erinnere, ging mir in diesen ersten Augenblicken der Sicherheit nicht ein einziger Gedanke durch den Kopf. Ich bemerkte nicht einmal, dass es Tag geworden war. Ich klammerte mich an das Ruder und hielt einfach nur fest, Gott weiß warum.

Nach einer Weile fiel mir ein, was ich mit dem Rettungsring tun konnte. Ich zog ihn aus dem Wasser und stülpte ihn über das Ruderblatt. Ich zog ihn heran, bis ich ihn um Ruder und mich gelegt hatte, und nun musste ich mich nur noch mit den Beinen anklammern. Zwar konnte ich mich dann nicht mehr so schnell ins Wasser fallen lassen, wenn Richard Parker erschien, aber ich musste meine Schrecken einen nach dem anderen bedenken, zuerst den Pazifik, dann den Tiger.

Загрузка...