Kapitel 47
Der Tag brach an, schwül und bewölkt, der Wind warm, der Himmel eine dichte graue Wolkendecke wie schmutzige, zerwühlte Betttücher. Die See war unverändert. Im immer gleichen Rhythmus hob sie das Boot und ließ es wieder in die Tiefe gleiten.
Es war unglaublich, aber das Zebra war immer noch am Leben. Seinem Körper fehlte ein Stück, aus einem Loch wie einem frisch ausgebrochenen Vulkan quollen halb aufgefressene Organe, manche im Licht schimmernd, manche schwarz und geheimnisvoll, und doch pulsierte weiter das Leben in ihm, wenn auch nur noch schwach. Die einzigen Regungen waren ein Zittern im Hinterbein und dann und wann ein Lidschlag. Ich war entsetzt. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass ein Geschöpf so sehr leiden und trotzdem weiterleben könnte.
Die Nerven der Hyäne waren gespannt. Sie hatte sich nicht zur Ruhe gelegt, als der Tag begann. Vielleicht hatte sie sich überfressen; der Bauch war gewaltig angeschwollen. Auch Orangina war schlechter Stimmung. Sie fuchtelte mit den Armen und bleckte die Zähne.
Ich blieb wo ich war, zusammengerollt nicht weit vom Bug. Ich war geschwächt in Körper und Seele. Ich fürchtete, ich würde ins Meer fallen, wenn ich wieder auf das Ruder hinauskroch.
Gegen Mittag war das Zebra tot. Die Augen waren glasig, und es reagierte nicht mehr auf die gelegentlichen Angriffe der Hyäne.
Am Nachmittag entlud sich die Gewalt. Die Spannung war auf ein unerträgliches Maß gestiegen. Die Hyäne lachte. Orangina schnatterte und schmatzte laut. Ganz unvermittelt hoben beide die Stimmen, die Laute verschmolzen zu einem. Die Hyäne machte einen Satz über das, was vom Zebra noch übrig war, und stürzte sich auf Orangina.
Ich glaube, ich habe die Wildheit einer Hyäne deutlich genug beschrieben. Für mich stand der Ausgang fest. Ich hatte Oranginas Leben schon aufgegeben, bevor sie auch nur eine Chance hatte, es zu verteidigen. Aber ich hatte sie unterschätzt. Ich hatte ihre Zähigkeit unterschätzt.
Sie versetzte dem Untier einen Hieb auf den Kopf. Ich hielt den Atem an. Mein Herz schmolz dahin vor Liebe und Bewunderung und Furcht. Hatte ich gesagt, dass sie ein ehemaliges Schoßtier war, brutal von ihren indonesischen Herren ausgesetzt? Die alte Geschichte vom lästig gewordenen Liebling. Sie geht etwa so: Ein Tier wird als Spielzeug gekauft, wenn es klein und knuddelig ist. Seine Besitzer sind begeistert. Dann wird es größer und gefräßiger. Es will einfach nicht stubenrein werden. Seine Kräfte wachsen, es wird widerborstig. Eines Tages holt das Dienstmädchen die Decke aus dem Körbchen, weil es sie waschen will, oder der Sohn schnappt dem Tier zum Spaß ein Stück Essen weg - wegen solcher Dinge, anscheinend Kleinigkeiten, zeigt das Tier die Zähne, und die Familie bekommt einen Schreck. Schon am nächsten Tag findet das Tier sich hinten im Jeep der Familie wieder und holpert begleitet von seinen menschlichen Brüdern und Schwestern davon. Sie fahren in den Dschungel. Allen im Wagen kommt er fremd und feindselig vor. Man findet eine Lichtung. Ein paar kurze Blicke in die Runde. Mit einem Mal heult der Motor des Jeeps auf, die Räder spritzen Schlamm, und das Schoßtier sieht alle, die es kannte und liebte, am Rückfenster des Jeeps. Sie starren hinaus, während der Wagen davonschießt. Sie haben das Tier ausgesetzt. Das Tier begreift nicht, wie ihm geschieht. Es kennt sich im Dschungel genauso wenig aus wie seine menschlichen Brüder. Es sitzt da, wartet, dass sie zurückkommen, ringt die Panik nieder, die in ihm aufsteigt. Aber sie kommen nicht zurück. Es wird Abend. Nicht lange, und das Tier verliert allen Lebensmut. Binnen weniger Tage ist es verhungert oder vor Kälte gestorben. Oder Hunde zerfleischen es.
So wäre es Oranginabeinahe gegangen. Stattdessen landete sie in Pondicherry im Zoo. Sie blieb ein sanftes und friedfertiges Tier, ihr Leben lang. Aus meiner Kindheit erinnere ich mich, wie ihre endlos langen Arme mich umfassten, wie ihre Finger, jeder davon so lang wie meine ganze Hand, in meinem Haar nach Läusen suchten. Sie war ein junges Weibchen, das erste Versuche mit seinen Mutterinstinkten machte. Als sie größer und wilder wurde, beobachtete ich sie von ferne. Ich hätte gedacht, ich kenne sie so gut, dass ich jeden ihrer Schritte voraussagen kann. Ich war mir sicher, dass ich nicht nur ihre Gewohnheiten, sondern auch ihre Grenzen kannte. Doch die Wildheit, die sie nun an den Tag legte, der verzweifelte Mut, bewiesen mir das Gegenteil. Mein Leben lang hatte ich nur einen Teil von ihr gekannt.
Sie versetzte dem Untier einen Hieb auf den Kopf. Und zwar einen gewaltigen Hieb. Der Kopf der Hyäne knallte auf die Bank, und das mit einer Wucht, dass sie nicht nur beide Vorderbeine von sich streckte, sondern dazu gab es einen Schlag, dass ich erwartet hätte, dass entweder das Holz oder die Kinnlade oder beides zu Bruch gingen. Aber schon im nächsten Augenblick war sie wieder auf den Beinen, und jede Faser ihres Fells stand zu Berge wie die Haare auf meinem Kopf; ganz so energisch wie zuvor war ihr Angriff jedoch nicht mehr. Sie wich zurück. Ich jubilierte. Ich war begeistert von Oranginas heldenhaftem Kampf.
Aber das dauerte nicht lange.
Ein ausgewachsenes Orang-Utan-Weibchen hat keine Chance gegen eine erwachsene männliche Tüpfelhyäne. Das ist eine schiere empirische Tatsache. Die Zoologen können es zu den Akten nehmen. Wäre Orangina ein Männchen gewesen, hätte sie so viel Gewicht auf die Waage gebracht, wie sie Gewicht in meiner persönlichen Wertung hatte, dann wären die Aussichten vielleicht anders gewesen. Aber selbst dick und schwer, wie sie vom bequemen Leben im Zoo war, wog sie höchstens ihre 110 Pfund. Die Frauen sind bei den Orang-Utans halb so groß wie die Männer. Aber es kommt auf mehr als nur Masse und Körperkraft an. Orangina war ja nicht wehrlos. Was den Kampf entschied, das waren die Einstellung und das Wissen. Was weiß denn jemand, der von Früchten lebt, schon vom Töten? Woher sollte er gelernt haben, wo man zubeißen muss, wie fest, wie lange? Ein Orang-Utan mag größer als eine Hyäne sein, er mag längere Arme haben und kräftigere Zähne, aber er weiß nicht, was er mit diesen Waffen anfangen soll, und deswegen helfen sie ihm auch nichts. Die Hyäne hat nichts als ihr Gebiss, aber trotzdem ist sie dem Affen überlegen, weil sie genau weiß, was sie will und wie sie es erreichen kann.
Die Hyäne griff von neuem an. Sie sprang auf die Bank und packte Orangina am Handgelenk, bevor sie zuschlagen konnte. Orangina versetzte dem Hyänenkopf mit dem anderen Arm einen Haken, aber der Schlag ließ das Untier nur umso mörderischer fauchen. Sie wollte zubeißen, aber die Hyäne war schneller. So traurig das war, Oranginas Verteidigung fehlte die Präzision, die Kohärenz. Sie konnte aus ihrer Furcht kein Kapital schlagen, sie behinderte sie nur. Die Hyäne ließ das Handgelenk los und stürzte sich genau auf ihren Hals.
Starr vor Schmerz und Entsetzen sah ich zu, wie Orangina hilflos auf die Hyäne einhieb und ihr das Fell ausriss, als sie ihr schon die Kehle zudrückte. Bis zum letzten Augenblick erinnerte Orangina mich an uns Menschen: aus ihrem Blick sprach ein so menschlicher Schrecken, genau wie aus ihrem letzten Jammern. Sie versuchte, auf die Plane zu klettern. Die Hyäne schüttelte sie heftig. Sie verlor den Halt auf der Bank und stürzte auf den Boden des Boots, und die Hyäne mit ihr. Ich hörte Laute von unten, aber ich sah nichts mehr.
Ich war als Nächster an der Reihe. Da hatte ich keinen Zweifel. Schwankend erhob ich mich. Vor Tränen in den Augen konnte ich kaum etwas sehen. Ich weinte nicht mehr um meine Familie, ich beklagte auch nicht meinen eigenen bevorstehenden Tod. Für beides war ich viel zu benommen. Ich weinte, weil ich so entsetzlich erschöpft war und nichts anderes als Ruhe mehr wollte.
Ich balancierte auf der Plane. Am Vorderende war sie straff gespannt, doch zur Mitte hin hing sie durch, und es waren drei mühsame, schwankende Schritte. Ich musste über das Netz und das zusammengerollte Ende der Plane steigen. Und all diese Anstrengung in einem Rettungsboot, das unablässig rollte. Bei meiner Verfassung kam es mir wie ein langer Treck vor. Schließlich kam ich auf der mittleren Querbank zu stehen, und der feste Untergrund machte mir Mut, fast als sei ich an Land gekommen. Mit breiten Beinen stand ich da und genoss das Gefühl. Mir schwindelte, doch da ich mich zum größten Augenblick meines Lebens aufschwang, steigerte dieser Schwindel die panisch-heroische Stimmung nur noch. Ich hob meine Hände zur Brust-die einzigen Waffen, die ich gegen die Hyäne hatte. Sie sah zu mir auf. Ihr Maul war rot. Orangina lag neben ihr, halb auf dem toten Zebra. Die Arme waren weit ausgestreckt, die kurzen Beine verschränkt und ein wenig zur Seite gewendet. Es war das Bild von Christus am Kreuz. Nur dass der Kopf fehlte. Die Hyäne hatte ihn abgebissen. Aus der Halswunde rann noch das Blut. Es war ein entsetzlicher Anblick, einer, der mir den letzten Lebensmut nahm. Ich würde mich mit bloßen Händen auf die Hyäne stürzen, und um meine Kräfte für diesen letzten Kampf zu sammeln, senkte ich noch einmal den Blick.
Zwischen meinen Füßen, unter der Bank, sah ich den Kopf von Richard Parker. Er war gigantisch. Meinem verwirrten Sinn schien er groß wie der Planet Jupiter. Seine Pranken waren wie Bände der Encyclopaedia Britannica.
Ich wankte zurück zum Bug und sank auf die Plane.
Die Nacht verbrachte ich im Delirium. Immer wieder schreckte ich auf und dachte, ich hätte geschlafen und von einem Tiger geträumt.