Kapitel 60
Einmal erwachte ich in der Nacht. Ich schob meinen Bettvorhang beiseite und sah hinaus. Der Mond stand als scharf umrissene Sichel am kristallklaren Himmel. Die Sterne schienen mit solch vehementer, konzentrierter Macht, dass es abwegig schien, die Nacht dunkel zu nennen. Die See lag still da, gebadet in ein scheues, leichtfüßiges Licht, ein Ballett aus Schwarz und Silber, das rund um mich wogte bis ins Unendliche. Unermesslich schien der Himmel über und der Ozean unter mir. Halb war ich fasziniert gebannt, halb vor Schrecken starr. Ich fühlte mich wie der heilige Markandeya, der dem schlafenden Vishnu aus dem Munde fiel und so das gesamte Universum bis in die kleinste Kleinigkeit erblickte. Beinahe wäre der Heilige vor Schrecken gestorben, doch im letzten Augenblick erwachte Vishnu und holte ihn zurück in seinen Mund. Zum ersten Mal wurde mir wirklich bewusst - und im Laufe meiner Meerfahrt sollte es mir noch oft aufgehen, immer wenn zwischen zwei Höhepunkten der Qual eine kleine Flaute kam -, auf welch grandioser Bühne das Drama meiner Leiden sich vollzog. Ich begriff, wie klein und unbedeutend mein Unglück war, und ich verstummte. In einer solchen Szenerie war mein Leiden kleinlich. Das sah ich ein, dagegen gab es keinen Widerspruch. (Erst bei Tag kamen die Proteste: »Nein! Nein! Nein! Mein Leiden ist von Bedeutung. Ich will leben! Das Leben ist wie ein Blick durchs Schlüsselloch, ein winziger Zipfel der Unendlichkeit, den wir erhaschen - was soll ich denn anderes tun als mich an diesen einen, kurzen Augenblick zu klammern? Das Schlüsselloch ist doch alles, was ich habe!«) Ich murmelte muslimische Gebetsworte und schlief wieder ein.