Kapitel 45

Es war kalt. Die Erkenntnis kam mir ganz nüchtern, als beträfe sie mich gar nicht. Der Tag brach an. Der Wechsel kam rasch und doch in winzigen Schritten. Ein Winkel des Himmels verfärbte sich. Die Luft füllte sich mit Licht. Die ruhige See öffnete sich rundum, als würde ein großes Buch aufgeschlagen. Noch fühlte es sich wie Nacht an. Im nächsten Moment war es schon Tag.

Warm wurde es erst, als die Sonne am Horizont aufstieg wie eine elektrisch beleuchtete Apfelsine, aber so lange musste ich nicht warten. Schon vorher spürte ich eine Wärme von innen, die mit den allerersten Lichtstrahlen kam: die Hoffnung. Und je mehr die Dinge wieder ihre Gestalt und Farbe annahmen, desto stärker wurde die Hoffnung, bis sie wie ein Gesang in meinem Herzen war. Wie wunderbar, sich darin zu sonnen! Alles würde gut. Das Schlimmste war überstanden. Die Nacht hatte ich überstanden. Heute würde Rettung kommen. Schon der Gedanke, die Worte, die sich im Geiste zum Satz formierten, waren ein Quell der Hoffnung. Hoffnung machte Mut zu weiterer Hoffnung. Der Horizont war nun wieder eine klare, scharfe Linie, und eifrig suchte ich sie ab. Es war wieder ein klarer Tag, die Sicht war perfekt. Ich malte mir aus, wie Ravi mich als Erster begrüßen würde, mit seinem üblichen Spott. »Was ist denn das?«, würde er sagen. »Kaum sitzt du allein in einem großen Rettungsboot, schon stopfst du es mit Tieren voll. Hältst du dich etwa jetzt für Noah?« Vater würde unrasiert sein, mit wirrem Haar. Mutter würde den Blick zum Himmel heben und mich in die Arme schließen. In Dutzenden von Varianten stellte ich mir vor, wie ich auf das rettende Schiff kam, Variationen über das Thema Wiedersehen. Mochte der Horizont sich auch nach unten krümmen, der Schwung meiner Lippen ging an jenem Morgen entschieden in die andere Richtung. Ich lächelte.

Erst nach langer Zeit, so seltsam das klingen mag, sah ich, wie die Dinge im Rettungsboot standen. Die Hyäne hatte das Zebra angegriffen. Ihre Schnauze war blutverschmiert, und sie kaute noch an einem Stück Fell. Automatisch wanderte mein Blick zum Zebra, auf der Suche nach der Wunde, der Stelle, an der sie zugebissen hatte. Mir stockte der Atem.

Das gebrochene Zebrabein war verschwunden. Die Hyäne hatte es abgebissen und nach hinten geschleppt, hinter das Zebra. Ein Fellfetzen hing halb über den offenen Stumpf, aus dem noch das Blut tropfte. Das Opfer ertrug seine Leiden stoisch, ohne großen Protest. Ein langsames, gleichmäßiges Mahlen der Zähne war das einzige sichtliche Zeichen der Qualen, die es litt. Entsetzen, Abscheu und Wut wallten in mir auf. Ich hasste die Hyäne zutiefst. Ich überlegte, wie ich sie töten konnte. Aber ich unternahm nichts. Und meine Wut verflog auch schnell wieder. Das muss ich zugeben. Allzu viel Mitleid hatte ich für das Zebra nicht übrig. Wenn man selbst in Lebensgefahr ist, stumpft jedes Mitgefühl ab, und man ist überwältigt vom ungestümen, selbstsüchtigen Hunger nach Überleben. Es war traurig, dass dieses Zebra so viel leiden musste - und es war ein so großes, kräftiges Tier, dass es noch lange nicht am Ende seiner Qualen angelangt war -, aber ich konnte nichts daran ändern. Ich bedauerte es, und dann war anderes an der Reihe. Ich bin nicht stolz darauf. Es macht mich unglücklich, dass ich damals nicht mehr für es empfand. Ich habe dieses arme Zebra und das, was es durchmachen musste, nicht vergessen. Ich schließe es in jedes meiner Gebete ein.

Orangina war weiterhin nicht zu sehen. Ich wandte mich wieder dem Horizont zu.

Am Nachmittag wurde es windiger, und mir fiel etwas an dem Rettungsboot auf: Obwohl es nicht leicht sein konnte, hatte es kaum Tiefgang, wahrscheinlich weil es nicht voll besetzt war. Wir hatten reichlich Freibord - der Abstand zwischen Wasserlinie und Bordkante -, und es musste schon sehr hohe See kommen, bevor das Wasser ins Boot schwappte. Andererseits bedeutete das aber auch, dass dasjenige Ende, auf dem der Wind stand, leicht vom Kurs abkommen konnte, sodass wir eine Neigung hatten, uns quer zu den Wellen zu stellen. Bei kleineren Wellen ergab dies ein unablässiges Pochen an den Schiffsrumpf wie mit Fäusten, größere Wellen brachten das Boot jedoch unangenehm zum Rollen, und es schlingerte schwer. Von dieser unablässigen und unnatürlichen Bewegung drehte sich mir alles.

Vielleicht war es in einer anderen Stellung besser. Ich hangelte mich am Ruder entlang und kletterte wieder auf den Bug. Nun blickte ich in die Wellen, den Rest des Bootes zu meiner Linken. Damit war ich der Hyäne wieder näher, doch die rührte sich nicht.

Ich atmete tief und konzentrierte mich ganz darauf, das Schwindelgefühl zu vertreiben, und da sah ich Orangina. Ich hatte mir vorgestellt, dass sie ganz untergetaucht war, vielleicht unter der Plane zum Bug gekrochen, so weit fort von der Hyäne wie sie nur konnte. Aber nein. Sie saß auf der Seitenbank, gerade außerhalb der Hyänenrennbahn und nur knapp vom aufgerollten Planenende verborgen. Sie brauchte nur um ein paar Zentimeter den Kopf zu heben, da sah ich sie.

Nun war meine Neugier geweckt. Ich musste genauer hinsehen. So sehr das Boot auch rollte, richtete ich mich zu einer knienden Haltung auf. Die Hyäne sah mich an, blieb aber, wo sie war. Orangina kam in Sicht. Sie saß ganz zusammengesunken und hielt sich mit beiden Händen am Bootsrand fest, den Hals eingezogen. Der Mund stand offen, die Zunge bewegte sich hin und her. Man konnte sehen, dass sie schwer atmete. Bei aller Pein, in der ich war, und bei aller Übelkeit musste ich doch lachen. Alles an dem Bild, das Orangina in diesem Augenblick bot, sprach nur das eine Wort: seekrank. Ich sah mich als Entdecker einer neuen, äußerst raren Spezies: des maritimen grünen Orang-Utans. Ich kehrte wieder zu meiner Sitzposition zurück. Wie menschlich dieser arme Affe in seiner Krankheit aussah! Es ist immer ein Riesenspaß, menschliche Züge in Tiere hineinzulesen, gerade in Affen und Menschenaffen, wo es so einfach ist. Nirgends hält die Tierwelt uns so deutlich den Spiegel vor wie im Affen. Deshalb sind sie auch im Zoo immer so beliebt. Ich lachte noch einmal. Ich fuhr mir mit der Hand an die Brust, so überrascht war ich von meiner eigenen Stimmung. Meine Güte. Dieses Lachen war wie der Ausbruch eines Glücksvulkans in meinem Inneren. Und Orangina hatte mich nicht nur aufgemuntert, sie hatte auch die Bürde der Seekrankheit für uns beide auf sich genommen. Mein Schwindel war verflogen.

Mit neuer Hoffnung suchte ich den Horizont ab.

Außer der Seekrankheit gab es noch etwas zweites Bemerkenswertes an Orangina: Sie war unverletzt. Und sie saß mit dem Rücken zur Hyäne, wie überzeugt davon, dass diese ihr nichts anhaben könne. Das Ökosystem dieses Rettungsbootes war wirklich verblüffend. In der Natur begegneten sich Tüpfelhyäne und Orang-Utan nie, denn die einen gab es nicht auf Borneo und die anderen nicht in Afrika, und man konnte nicht voraussagen, wie sie aufeinander reagieren würden. Aber es schien mir doch sehr unwahrscheinlich, um nicht zu sagen undenkbar, dass ein solcher vegetarischer Baumbewohner und ein Raubtier aus der Savanne, wenn sie einander begegneten, sich dermaßen radikal in ihren eigenen Nischen einrichten würden, dass sie einander gar nicht beachteten. Mit Sicherheit würde doch eine Hyäne im Orang-Utan die Beute wittern, wenn auch eine exotische, die ihr wegen der enormen Haarknäuel, die später hervorzuwürgen waren, im Gedächtnis bleiben würde, aber eben eine, die besser schmeckte als ein Auspuffrohr und eine, nach der man in Zukunft nahe Bäumen Ausschau halten würde. Und genauso würde ein Orang-Utan auf den ersten Blick in der Hyäne den Räuber erkennen, einen, vor dem man besser auf der Hut war, wenn einem einmal eine Zibetfrucht herunterfiel. Aber die Natur überrascht uns doch immer wieder von neuem. Vielleicht stimmte das alles gar nicht. Wenn Ziegen und Rhinozerosse friedlich miteinander umgingen, warum dann nicht auch ein Orang-Utan und eine Hyäne? Das wäre ein Knalleffekt im Zoo gewesen. Wir hätten ein Schild aufstellen müssen. Ich sah es vor mir: »Liebe Besucher, sorgen Sie sich nicht um die Orang-Utans! Sie sitzen in den Bäumen, weil das ihr natürlicher Lebensraum ist, nicht weil sie sich vor den Tüpfelhyänen fürchten. Schauen Sie zur Fütterungszeit noch einmal vorbei oder am Abend, wenn die Affen durstig werden, und Sie werden sehen, wie sie von den Bäumen herunterkommen und sich frei bewegen, und die Hyänen krümmen ihnen kein Haar.« Genau nach Vaters Geschmack.

Später am Nachmittag sah ich zum ersten Mal eine Vertreterin jener Spezies, die mir zur guten, verlässlichen Freundin werden sollte. Etwas schlug gegen den Rumpf des Rettungsboots, ein scharrendes Geräusch. Ein paar Sekunden darauf kam, so nahe am Boot, dass ich mich hätte hinauslehnen und nach ihr fassen können, eine große Seeschildkröte hervor, schwamm mit trägen Flossenbewegungen vorüber und streckte den Kopf aus dem Wasser. Sie war auf ihre hässliche Art eine imposante Erscheinung, etwa einen Meter lang mit einem rauen, gelbbraunen Panzer, auf dem an manchen Stellen die Algen wuchsen, mit dunkelgrünem Kopf und scharfem Schnabel, lippenlos, mit zwei klar umrissenen Nasenlöchern und schwarzen Augen, die mich forschend anstarrten. Die ganze Erscheinung war streng und gebieterisch, wie ein hochnäsiger alter Mann, der gleich zu schimpfen anfangen wird. Das Erstaunlichste an diesem Reptil war, dass es überhaupt existierte. Es sah so unförmig aus, wie es da im Wasser schwamm, so viel weniger gelungen als die glatte, schlanke Gestalt der Fische. Und doch war die Schildkröte sichtlich in ihrem Element, und ich war derjenige, der nicht ins Bild passte. Eine ganze Weile blieb sie längsseits.

»Schwimm«, rief ich ihr zu. »Finde ein Schiff und sage ihm, dass ich hier bin. Schwimm.« Sie wandte sich ab, tauchte und schwamm mit kräftigen Stößen der beiden Hinterflossen davon.

Загрузка...