Kapitel 36
Indische Städte sind groß und unglaublich geschäftig, aber wenn man sie erst einmal hinter sich lässt, reist man durch endlos leere Landschaften, in denen man kaum eine Menschenseele sieht. Ich weiß noch, wie ich mich gefragt habe, wo sich 950 Millionen Inder verstecken können.
Ähnlich geht es mir in seinem Haus.
Ich bin ein wenig zu früh. Ich setze gerade den Fuß auf die unterste Treppenstufe, da kommt ein Teenager zur Tür herausgestürmt. Er ist im Baseballtrikot, Schläger in der Hand, und er hat es sehr eilig. Als er mich sieht, hält er inne, überrascht. Er dreht sich um und brülltins Haus: »Dad, der Schriftsteller ist da!« Zu mir sagt er »Hi!«, und schon ist er fort.
Sein Vater kommt an die Haustür. »Hallo«, sagt er.
»Das war Ihr Sohn?«, frage ich ungläubig.
»Ja.« Er lächelt stolz. »Eigentlich hätte ich Sie bekannt machen sollen. Aber er war schon zu spät zum Training. Er heißt Nikhil. Genannt Nick.«
Ich komme auf den Flur. »Ich habe ja gar nicht gewusst, dass Sie einen Sohn haben«, sage ich. Ein kleiner Mischlingsköter, schwarzbraun, kommt auf mich zu, hechelnd und schnüffelnd. Er springt an meinem Bein hoch. »Oder einen Hund«, füge ich hinzu.
»Der tut keinem was. Tata, lass das!«
Tata denkt gar nicht daran zu gehorchen. Ich höre ein weiteres »Hallo«, aber nicht so knapp und energisch wie Nicks Gruß. Ein lang gezogenes, näselndes und ein wenig weinerliches Hallooooooooo, das oooooooo nach mir ausgestreckt wie ein Finger, der mir auf die Schulter pocht, oder ein leises Ziehen am Hosenbein.
Ich drehe mich um. Ans Wohnzimmersofa gelehnt steht ein kleines braunes Mädchen, hübsch in ihrem rosa Kleid, und blickt schüchtern zu mir auf. Sie hält eine gelbliche Katze in den Armen. Nur zwei ausgestreckte Vorderpfoten und der Kopf sind über ihren gekreuzten Armen zu sehen, der Rest hängt hinunter bis zum Boden. Der Katze macht es anscheinend überhaupt nichts aus, dass sie so aufs Streckbett gespannt wird.
»Und das ist Ihre Tochter?«, sage ich.
»Ja. Usha. Usha, Schatz, meinst du, das gefällt Moccasin, wenn du ihn so hältst?«
Usha lässt Moccasin fallen. Er geht zu Boden, als sei nichts dabei.
»Hallo, Usha«, sage ich.
Sie läuft zu ihrem Vater und versteckt sich hinter seinem Bein.
»Was machst du denn da, meine Kleine?«, fragte er. »Warum versteckst du dich?«
Sie antwortet nicht, sieht mich an, lächelt und verbirgt dann wieder ihr Gesicht.
»Wie alt bist du, Usha?«, frage ich.
Sie bleibt stumm.
Da beugt Piscine Molitor Patel, besser bekannt als Pi Patel, sich hinunter und hebt seine Tochter hoch.
»Na, die Frage kannst du doch beantworten, oder? Hmmm? Du bist vier Jahre alt. Eins, zwei, drei, vier.«
Bei jeder Zahl stupst er sie sanft mit dem Zeigefinger auf die Nase. Sie findet das ungeheuer lustig. Sie kichert und vergräbt ihren Kopf an seinem Nacken.
Diese Geschichte nimmt ein gutes Ende.