Kapitel 89

Alles löste sich auf. Alles wurde von der Sonne gebleicht und vom Wetter gegerbt. Das Rettungsboot, das Floß, bis es dann ganz verlorenging, die Plane, die Destillen, die Regensammler, die Plastiksäcke, die Leinen, die Decken, das Netz - alles wurde fadenscheinig, ausgeleiert, schlaff, rissig, trocken, morsch, zerschlissen, farblos. Was einst orange war, verblasste zu einem weißlichen Gelb. Was glatt war, wurde rau. Was rau war, wurde glatt. Was scharf war, wurde stumpf. Was ganz war, hing in Fetzen. Da half es auch nichts, dass ich alles mit Fischhäuten und Schildkrötenfett einrieb, um die Sachen ein wenig geschmeidig zu halten. Das Salz fraß unerbittlich weiter, Millionen hungriger Mäuler. Und die Sonne verbrannte alles. Immerhin hielt sie Richard Parker in Schach, zeitweise zumindest. Sie reinigte Skelette und bleichte sie aus zu strahlendem Weiß. Sie brannte mir die Kleider vom Leib und hätte mir auch die Haut noch versengt, obwohl sie so dunkel war, hätte ich mich nicht mit Decken und Schildkrötenpanzern geschützt. Sobald die Hitze unerträglich wurde, nahm ich einen Eimer und übergoß mich mit Meerwasser; manchmal war das Wasser so warm, dass es sich anfühlte wie Sirup. Die Sonne vertrieb auch sämtliche Gerüche. Ich kann mich jedenfalls an keinen Geruch erinnern. Nur an den der abgebrannten Signalfackeln. Habe ich schon erzählt, dass sie nach Kreuzkümmel rochen? Ich weiß nicht einmal mehr, wie Richard Parker roch.

Wir siechten dahin. Es ging ganz langsam, so langsam, dass es mir nicht immer bewusst war. Aber es fiel mir doch auf. Wir waren zwei ausgemergelte Säuger, vertrocknet und verhungert. Richard Parkers Fell hing matt und schlaff an Schultern und Hüfte. Er hatte sehr abgenommen, nur noch ein Knochengerüst in einem viel zu großen Sack aus schütterem Fell. Auch ich schwand zusehends; alle Feuchtigkeit war aus meinem Körper gewichen, die Knochen zeichneten sich durch die Haut deutlich ab.

Ich nahm mir an Richard Parker ein Beispiel und schlief die meiste Zeit. Es war kein echter Schlaf, eher ein halbwacher Dämmerzustand, in dem Tagträume und Wirklichkeit kaum noch zu unterscheiden waren. Mein Traumtuch leistete mir gute Dienste.

Dies sind die letzten Seiten aus meinem Tagebuch:

Heute der größte Hai bisher. Urtümlich, bestimmt zwei Meter lang. Gestreift. Ein Tigerhai - sehr gefährlich. Umkreiste uns. Fürchtete schon, er würde angreifen. Hatte den einen Tiger überlebt, jetzt würde ich vom anderen gefressen. Griff nicht an. Schwamm davon. Wolkiges Wetter, aber kein Regen.


Trocken. Nur Morgendunst. Delphine. Wollte einen fangen. Konnte mich nicht auf den Beinen halten. R. P. schwach und missgelaunt. Bin so schwach, könnte mich nicht verteidigen, wenn er angreift. Keine Kraft mehr, die Pfeife zu blasen.

Windstiller, glutheißer Tag. Sonne brennt gnadenlos. Als ob das Gehirn in meinem Schädel kocht. Fühle mich schrecklich.


Körper und Seele am Boden zerstört. Werde bald sterben. R. P. atmet, aber bewegt sich nicht. Wird auch sterben. Wird mich nicht töten.


Erlösung. Eine Stunde lang heftiger, köstlicher, wunderbarer Regen. Füllte Mund, füllte Säcke und Dosen, trank bis kein Tropfen mehr hineinpasste. Ließ mich nassregnen, um Salz abzuwaschen. Kroch hinüber zu R. P. Reagierte nicht. Körper zusammengerollt, Schwanz am Boden. Fell nass und ungepflegt. Wirkt kleiner wenn nass. Knochig. Habe ihn zum ersten Mal berührt. Wollte wissen, ob er tot ist. Nicht tot. Körper noch warm. Seltsames Gefühl, die Berührung. Sogar jetzt noch fest, muskulös, lebendig. Berührte ihn, und er schauderte, als liefe eine Mücke über sein Fell. Schließlich hob er den Kopf, halb im Wasser. Lieber trinken als ertrinken. Noch besseres Zeichen: Schwanz zuckte. Warf ihm Schildkrötenfleisch vor. Nichts. Richtete sich endlich halb auf - um zu trinken. Trank und trank. Fraß. Richtete sich nicht ganz auf. Leckte sich eine gute Stunde lang am ganzen Körper. Schlief.


Es ist sinnlos. Heute sterbe ich.


Heute werde ich sterben.


Ich sterbe.

Das war mein letzter Eintrag. Ich starb dann doch nicht, ich hielt auch weiterhin durch, aber ich schrieb nichts mehr. Hier, die Abdrücke, unsichtbare Kringel auf den Rändern der Seiten. Ich hatte immer befürchtet, mir würde das Papier ausgehen. Stattdessen hatten die Kugelschreiber keine Tinte mehr.

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