Kapitel 23

Glaube hält eine Gemeinschaft zusammen, und gerade das sollte nun leider für mich zur Schwierigkeit werden. Anfangs wussten nur die, die nichts dabei fanden oder sich darüber amüsierten, von meinen religiösen Praktiken, aber es dauerte nicht lange, bis auch diejenigen davon erfuhren, die sehr wohl etwas dabei fanden und ganz und gar nicht amüsiert waren.

»Was hat Ihr Sohn im Tempel zu suchen?«, fragte der Priester.

»Ihr Sohn ist in der Kirche gesehen worden«, sagte der Imam, »und hat sich bekreuzigt.«

»Ihr Sohn ist jetzt bei den Muslims«, klagte der Pandit.

Jawohl, sie sorgten dafür, dass es meinen bass erstaunten Eltern nicht verborgen blieb. Und erstaunt waren sie, denn sie wussten von nichts. Sie hatten keine Ahnung, dass ich gläubiger Hindu, Christ und Moslem war. Es gibt doch immer ein paar Sachen, die man als Teenager seinen Eltern nicht erzählt, oder? Jeder Sechzehnjährige hat seine Geheimnisse, nicht wahr? Aber das Schicksal wollte es, dass meine Eltern und ich und die drei Weisen, wie ich sie nennen will, uns eines Tages auf der Goubert-Salai-Esplanade begegneten, und so kam mein Geheimnis ans Licht. Es war ein schöner, heißer Sonntagnachmittag, ein Lüftchen wehte, und die Bucht von Bengalen glitzerte unter dem blauen Himmel. Die Leute aus der Stadt machten ihren Sonntagsspaziergang. Kinder tobten und lachten. Bunte Luftballons flogen auf. Die Eisverkäufer verkauften um die Wette. Warum sollte man an einem solchen Tag an Arbeit denken? Konnten sie denn nicht einfach vorübergehen, mit einem Nicken und einem Lächeln? Aber es sollte nicht sein. Es war uns beschieden, dass wir von den Weisen nicht nur einen trafen, sondern alle drei, und nicht nacheinander, sondern alle zusammen, weil offenbar jeder, als er uns sah, beschloss, dass der Augenblick gekommen war, mit dem Zoodirektor von Pondicherry ein Wörtchen über seinen ach so frommen Sohn zu wechseln. Als ich den Ersten sah, lächelte ich noch; als ich den Dritten erblickte, war das Lächeln schon zur entsetzten Fratze geworden. Als klar war, dass alle drei auf uns zuhielten, machte mein Herz noch einen Hüpfer, dann rutschte es mir in die Hose.

Die Weisen schienen verlegen, als sie merkten, dass sie alle drei dasselbe wollten. Jeder muss wohl von den beiden anderen gedacht haben, sie wollten uns in anderen Geschäften sprechen und hätten nur dummerweise denselben Augenblick gewählt. Unfreundliche Blicke wurden gewechselt.

Meine Eltern waren mehr als überrascht, als ihnen drei fremde Gottesmänner, alle drei mit schönstem Lächeln, in den Weg traten. Ich sollte dazu sagen, dass meine Familie alles andere als gläubig war. Vater sah sich als Vertreter des Neuen Indien - wohlhabend, modern und so säkular wie Eis am Stiel. Er hatte keinen Funken Frömmigkeit in sich. Er war Geschäftsmann, und für ihn steckte das Wort geschäftig darin, er war ein hart arbeitender vernünftiger Profi, den das Liebesleben seiner Löwen mehr interessierte als das Walten des Weltgeists. Sicher, neu ankommende Tiere ließ er von einem Priester segnen, und es gab im Zoo auch zwei kleine Schreine, einen für Ganesha, einen für Hanuman - beides Götter, die einem Zoodirektor gefallen mussten, denn der erste hatte einen Elefantenkopf, der zweite war ein Affe, aber Vater dachte dabei eher ans Geschäft, er wollte Public Relations, nicht seine Seele retten. Spirituelle Qualen kannte er nicht; es waren die finanziellen, die ihm den Schlaf raubten. »Eine einzige große Epidemie unter den Tieren«, sagte er immer, »und wir beschließen unsere Tage als Steineklopfer.« Mutter wusste zum Thema Religion nichts zu sagen, sie hatte keine Meinung dazu. Sie war als Hindu groß geworden und auf eine Baptistenschule gegangen; die beiden Einflüsse hatten sich exakt neutralisiert, und heraus gekommen war ein unbekümmerter Unglaube. Sie hatte wohl ihre Vermutungen, dass ich in diesen Dingen anders dachte, aber sie sagte nie etwas dazu, wenn ich als Kind die Comicversionen von Ramayana und Mahabharata verschlang und andere Göttergeschichten. Sie war einfach froh, wenn ich überhaupt las, egal welches Buch, solange es nichts Unanständiges war. Was Ravi anging: Hätte Gott Krishna statt der Flöte einen Cricketschläger in der Hand gehabt, wäre Christus ihm im Schiedsrichterdress erschienen, hätte Mohammed, Friede sei mit ihm, auch nur das leiseste Talent im Bowlingspiel gehabt, dann hätte vielleicht auch Ravi einmal fromm geblinzelt; aber so schlief er den festen Schlaf der Gottlosen.

Nach dem »Hallo« und dem »Guten Tag« kam ein verlegenes Schweigen. Der Priester brach es. »Piscine ist ein guter Christenjunge«, sagte er. »Ich hoffe, er wird bald im Kirchenchor singen.«

Meine Eltern, der Pandit und der Imam machten ein verdutztes Gesicht.

»Das muss ein Irrtum sein. Er ist ein guter Muslim. Nie versäumt er das Freitagsgebet, und er hat schon eine stattliche Zahl von Koranversen gelernt.« Sprach der Imam.

Meine Eltern, der Priester und der Pandit machten eine ungläubige Miene.

»Sie haben beide Unrecht«, meldete sich der Pandit zu Wort. »Er ist ein guter Hindu. Ständig sehe ich ihn im Tempel, er übt sich in darshan und puja.«

Meine Eltern, der Imam und der Priester waren verblüfft.

»Ein Irrtum ist ausgeschlossen«, beteuerte der Priester. »Ich kenne diesen Jungen. Das ist Piscine Molitor Patel, ein gläubiger Christ.«

»Ich kenne ihn ebenso gut«, versicherte der Imam, »und ich sage, er ist Muslim.«

»Unsinn!«, rief der Pandit. »Piscine ist als Hindu geboren, er lebt als Hindu und wird als Hindu sterben!«

Die drei Weisen starrten einander an, ungläubig, mit angehaltenem Atem.

Herr, lasse sie ihre Augen von mir abwenden, flüsterte ich im Innersten.

Aller Augen richteten sich auf mich.

»Piscine«, fragte der Imam ernst, »ist das wirklich wahr? Hindus und Christen sind Götzendiener. Sie haben viele Götter.«

»Und Muslims haben viele Frauen«, konterte der Pandit.

Der Blick des Priesters wanderte vom einen zum anderen. »Piscine«, flüsterte er beinahe, »nur Jesus kann deine Seele retten.«

»Dummes Geschwätz«, fuhr der Pandit ihn an. »Christen wissen nichts von Religion.«

»Schon vor langem sind sie vom Pfade Gottes abgekommen«, pflichtete der Imam ihm bei.

»Wo ist denn Gott in eurer Religion?«, schnaubte der Priester. »Ihr habt doch nicht ein einziges Wunder, das beweist, dass es Gott überhaupt gibt. Was ist denn das für ein Glaube, bei dem es keine Wunder gibt?«

»Es ist eben kein Zirkus, bei dem die Toten aus den Gräbern hüpfen! Uns Muslims ist das Wunder des Lebens gut genug. Ein Vogel in den Lüften, ein Regentropfen, die Ähren auf dem Felde - das sind unsere Wunder.«

»Nichts gegen Regen und Federvieh, aber wir wollen doch wissen, ob Gott mit uns ist.«

»Tatsächlich? Na, Gott hat ja gesehen, was er davon hatte, als er mit euch war - umbringen wolltet ihr ihn! Mit dicken Nägeln habt ihr ihn ans Kreuz geschlagen. Behandelt ein anständiges Volk so seine Propheten? Uns hat der Prophet Mohammed - Friede sei mit ihm - das Wort Gottes ohne erbärmlichen Firlefanz gebracht, und er ist als alter Mann gestorben.«

»Als ob das Wort Gottes einem jämmerlichen Kaufmann in der Wüste offenbart würde! Epileptische Anfälle hat er gehabt, vom Schwanken des Kamels; das hat nichts mit Gott zu tun. Oder es war ein Sonnenstich.«

»Ihr würdet etwas zu hören bekommen, wenn der Prophet - F.s.m.i. - noch am Leben wäre«, knurrte der Imam, die Augen zusammengekniffen.

»Aber das ist er eben nicht! Wir haben den lebendigen Christus, aber euer Es.m.i., der ist tot, tot, tot!«

Der Pandit ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Auf Tamilisch sagte er: »Die entscheidende Frage ist doch: Warum gibt Piscine sich mit fremden Religionen ab?«

Priester und Imam quollen fast die Augen aus den Köpfen. Sie waren beide Tamilen.

»Gott ist weltumspannend«, protestierte der Priester.

Der Imam nickte. »Es gibt nur einen Gott.«

»Und der eine Gott genügt den Muslims, dass sie am laufenden Band Unruhe und Aufruhr damit stiften. Dass der Islam nichts wert ist«, verkündete der Pandit, »sieht man doch daran, wie ungewaschen die Moslems sind.«

»Sprach der Sklaventreiber mit seinem Kastenunwesen«, schnaubte der Imam. »Hindus versklaven die Menschen und beten bunte Püppchen an.«

»Das goldene Kalb. Vor den Kühen werfen sie sich in den Staub«, stimmte der Priester ihm zu.

»Besser als vor einem Weißen! Christen sind die Lakaien des weißen Mannes. Sie sind eine Schande für alle farbigen Völker.«

»Schweinefleischesser und Kannibalen«, rief der Imam in Erinnerung.

»Piscine muss sich entscheiden« - der Priester biss die Zähne zusammen -, »ob er eine echte Religion will oder Ammenmärchen.«

»Ob er Gott verehren will oder Götzen«, sagte der Imam mit Grabesstimme.

»Unsere Götter«, zischte der Pandit, »oder Kolonialgötter.«

Schwer zu sagen, wessen Gesicht das roteste war. Es fehlte nicht viel, und sie wären mit Fäusten aufeinander losgegangen.

Vater hob die Hände. »Bitte, meine Herren, bitte!«, rief er. »Darf ich Sie daran erinnern, dass in unserem Lande Freiheit der Religion herrscht!«

Drei empörte Gesichter starrten ihn an.

»Der Religion!«, riefen die drei Weisen im Chor. Drei Zeigefinger hoben sich wie Ausrufezeichen, um zu betonen, dass es ein Singular war.

Die unbeabsichtigte Choreographie machte sie verlegen. Die Finger verschwanden eilig, und jeder seufzte und brummte für sich. Vater und Mutter blickten starr vor sich hin und wussten nicht, was sie sagen sollten.

Der Pandit brach den Bann. »MrPatel, Piscines Frömmigkeit ist bewundernswert. In diesen schlimmen Zeiten ist es eine Wohltat, einen Jungen zu sehen, dem Gott so sehr am Herzen liegt. Da sind wir uns alle einig.« Der Imam und der Priester nickten. »Aber er kann nicht Hindu, Christ und Moslem zugleich sein. Das ist unmöglich. Er muss sich entscheiden.«

»Ich finde nicht, dass es ein Verbrechen wäre«, antwortete Vater, »aber Sie haben wohl Recht.«

Die drei murmelten Beifälliges und hoben, genau wie Vater, den Blick himmelwärts, weil sie anscheinend erwarteten, dass die Entscheidung von dort kommen müsse. Mutter sah mich an.

Das Schweigen lastete schwer auf meinen Schultern.

»Hmm, Piscine?« Mutter gab mir einen Stups. »Wie stehst du dazu?«

»Bapu Gandhi sagt, alle Religionen sind wahr«, plapperte ich los. »Ich will doch nur Gott lieben.« Ich blickte zu Boden, rot im Gesicht.

Meine Verlegenheit war ansteckend. Keiner sagte mehr etwas. Der Vorfall ereignete sich nicht weit von der Gandhi-Statue an der Esplanade. Der Mahatma schritt einher, Stock in der Hand, ein Koboldlächeln auf den Lippen, den Schalk in den Augen. Wahrscheinlich hatte er unsere Unterhaltung mit angehört, aber noch aufmerksamer, stellte ich mir vor, horchte er auf mein Herz. Vater räusperte sich und sagte ein wenig kleinlaut: »Das versuchen wir ja wohl alle - Gott zu lieben.«

Ich fand es zum Piepen, dass er das sagte, er, der, soweit meine Erinnerung zurückreichte, kein einziges Mal mit ernsthafter Absicht einen Tempel betreten hatte. Aber anscheinend waren es genau die Worte, die gebraucht wurden. Man kann doch einen Jungen nicht dafür tadeln, dass er Gott lieben will. Mit gequältem, eifersüchtigem Lächeln gingen die drei Weisen ihres Weges.

Vater sah mich kurz an, als wolle er etwas sagen, dann überlegte er es sich anders, fragte: »Will jemand ein Eis?«, und war schon zum nächstbesten Stand unterwegs, bevor wir etwas sagen konnten. Mutters Blick ruhte ein wenig länger auf mir, und ihr Ausdruck war zärtlich, doch auch perplex.

Das war meine erste Erfahrung mit dem Dialog der Weltreligionen. Vater kam mit drei Eiswaffeln zurück. Wir aßen sie, wie üblich, schweigend und setzten unseren Sonntagsspaziergang fort.

Загрузка...