Kapitel 92

Ich machte eine bemerkenswerte botanische Entdeckung. Viele werden der folgenden Episode keinen Glauben schenken. Ich erzähle sie trotzdem, weil sie Teil meiner Geschichte ist und sich tatsächlich so zugetragen hat.

Ich lag auf der Seite. Es war ein oder zwei Stunden nach Mittag an einem ruhigen, sonnigen Tag, und es wehte eine sanfte Brise. Ich hatte ein Weilchen geschlafen - ein leichter Schlaf, der mir weder Erquickung noch Träume bescherte. Ich drehte mich auf die andere Seite, vorsichtig, damit es so wenig Energie wie möglich kostete. Dann schlug ich die Augen auf.

Nicht weit von uns sah ich Bäume. Ich reagierte nicht. Ich war sicher, dass es eine Illusion war, die nach ein paar Lidschlägen verschwinden würde.

Die Bäume verschwanden nicht. Im Gegenteil: es wurde ein ganzer Wald daraus. Sie standen auf einer flachen Insel. Ich richtete mich auf. Noch immer traute ich meinen Augen nicht. Doch es war aufregend-eine Sinnestäuschung von solcher Perfektion. Die Bäume waren wunderschön. Ich hatte solche Bäume noch nie gesehen. Ihre Rinde war blass, die gleichmäßig verteilten Äste mit erstaunlich dichtem Laub besetzt. Das Laub war leuchtend grün, ein so intensives Smaragdgrün, dass selbst das Grün der Monsunmonate im Vergleich matt und bräunlich schien.

Ich blinzelte mit den Augen und rechnete damit, dass mein Lidschlag die Bäume zu Fall bringen würde. Aber sie fielen nicht.

Ich ließ den Blick nach unten schweifen. Was ich sah, bestätigte mir meine Erwartung, enttäuschte mich aber auch. Die Insel hatte keinen Grund. Nicht dass die Bäume im Wasser gestanden hätten. Sie wuchsen anscheinend auf einem undurchdringlichen Geflecht von Pflanzen, die ebenso leuchtend grün waren wie das Laub. Wer hatte je von einem Land ohne Erdboden gehört? Wo Bäume auf anderen Pflanzen wuchsen? Ich war erleichtert, denn das bestätigte meine Überzeugung, dass diese Insel nur eine Chimäre sein konnte, ein reines Hirngespinst. Zugleich aber war ich enttäuscht, denn eine Insel, jede noch so merkwürdige Insel, wäre mir hochwillkommen gewesen.

Da die Bäume blieben, blieb auch mein Blick. Nach so viel Blau war der Anblick von etwas Grünem wie Musik für meine Augen. Grün ist eine wunderbare Farbe. Die Farbe des Islam. Meine Lieblingsfarbe.

Eine sanfte Strömung trug das Rettungsboot näher an die Illusion heran. Von einem Strand konnte nicht die Rede sein, denn es gab weder Sand noch Kiesel und auch keine Brandung, weil die Wellen, sobald sie auf die Insel trafen, einfach in der porösen Oberfläche versickerten. Von einer rund dreihundert Meter landeinwärts gelegenen Anhöhe fiel das Land zum Meer hin und bis etwa vierzig Meter über den Uferstreifen hinaus sanft ab, danach ging es steil hinab in die Tiefen des Pazifiks; es musste der kleinste Kontinentalsockel der Welt sein.

Allmählich gewöhnte ich mich an die Sinnestäuschung. Ich stellte sie nicht auf die Probe, denn ich wollte sie nicht vertreiben, und als das Rettungsboot sanft an die Insel stieß, regte ich mich nicht und träumte einfach weiter. Das Material, aus dem die Insel bestand, war offenbar ein dichtes Knäuel aus röhrenförmigem Seetang, im Durchmesser gut zwei Finger dick. Was für eine verrückte Insel, dachte ich.

Nach einigen Minuten kroch ich auf die Seite des Bootes. »Halten Sie Ausschau nach allem, was grün ist«, riet das Überlebenshandbuch. Nun, grün war diese Insel allerdings. Ein wahres Chlorophyllparadies. Ein Grün, das intensiver leuchtete als Lebensmittelfarben und Leuchtreklamen. Ein Grün, das trunken machte. »Letztlich kann nur der Fuß beurteilen, ob Sie auf festem Boden stehen«, fuhr das Handbuch fort. Wenn ich den Fuß ausstreckte, konnte ich die Insel berühren. Probieren - und enttäuscht werden - oder nicht probieren, das war die Frage.

Ich entschied mich für das Probieren. Ich vergewisserte mich, dass keine Haie in der Nähe waren. Ich drehte mich auf den Bauch, hielt mich an der Plane fest und streckte langsam ein Bein nach unten. Mein Fuß tauchte ins Wasser. Es war angenehm kühl. Die Insel lag nur ein klein wenig tiefer und schimmerte im Wasser. Ich streckte mich. Ich rechnete damit, dass die Illusion jeden Augenblick zerplatzen würde wie eine Seifenblase.

Aber das tat sie nicht. Mein Fuß tauchte ins klare Wasser und traf auf federnden, doch festen Grund. Ich verlagerte mehr Gewicht auf den Fuß. Die Illusion verschwand noch immer nicht. Jetzt stellte ich mich ganz darauf. Und sank nach wie vor nicht ein. Ich konnte es nicht glauben.

Am Ende war es doch nicht der Fuß, sondern die Nase, die entschied, dass ich Land gefunden hatte. Üppig und frisch und überwältigend eroberte er meine Geruchsnerven: der Duft der Vegetation. Ich sog ihn tief ein. Nach Monaten, in denen alles, was meine Nase zu riechen bekam, nach Salzwasser gerochen hatte, war der organische Geruch von grünen Pflanzen geradezu betörend. Nun war ich überzeugt, und das Einzige, was ins Schwimmen geriet, war mein Verstand; meine Gedanken wurden immer wirrer. Das Bein zitterte.

»Mein Gott! Mein Gott!«, stöhnte ich.

Ich fiel über Bord.

Der doppelte Schock von festem Untergrund und kühlem Wasser brachte mich genügend zur Besinnung, dass ich mich auf die Insel schleppen konnte. Ich stammelte noch ein paar unzusammenhängende Worte als Dank an Gott, dann sank ich zusammen.

Aber ich konnte nicht ruhig liegen bleiben. Dazu war ich zu aufgeregt. Ich mühte mich, wieder auf die Beine zu kommen. Alles Blut strömte aus meinem Kopf. Der Boden unter mir schwankte heftig. Die Welt verschwamm mir vor den Augen. Ich dachte, ich würde ohnmächtig. Ich atmete tief durch. Zu mehr als Keuchen schien ich nicht fähig. Immerhin konnte ich mich wieder aufsetzen.

»Land, Richard Parker!«, rief ich. »Land! Wir sind gerettet!«

Der Pflanzengeruch war außerordentlich stark. Und das Grün hatte etwas so Frisches, Beruhigendes, dass es war, als strömten Trost und Stärke im wahrsten Sinne des Wortes durch meine Augen in mich ein.

Was war dieses merkwürdige Röhren-Seegras mit seinen endlosen Windungen? Konnte man es essen? Es schien eher eine Art Alge, aber weitaus kräftiger als die Algen, die man sonst im Meer findet. Wenn man es anfasste, fühlte es sich feucht und frisch an. Ich zog daran. Ranken ließen sich ohne allzu große Mühe abbrechen. Sie bestanden aus zwei konzentrischen Röhren: der feuchten, ein wenig rauen und so betörend grünen äußeren Hülle und einer zweiten etwa auf halbem Wege zwischen Außenwand und Mittelpunkt. Da die innere weiß war, war deutlich zu sehen, wo die eine Röhre endete und die andere begann; die Intensität des Grüns der äußeren Röhre nahm nach innen hin ab. Ich roch an einem Stück Alge. Es roch angenehm nach Gemüse, aber einen besonderen Geruch hatte es nicht. Ich leckte daran. Mein Puls schlug schneller. Süßwasser tropfte heraus.

Ich biss hinein. Es war ein Schock. Die innere Röhre war bitter und salzig - aber die äußere war nicht nur genießbar, sie schmeckte wunderbar. Meine Zunge zitterte wie ein Finger, der in einem Wörterbuch blättert, auf der Suche nach einem lang vergessenen Wort. Ich fand es, und ich schloss die Augen vor Verzückung, als ich es hörte: süß. Nicht im Sinne von Süßwasser, sondern zuckersüß. Man kann vieles über den Geschmack von Fischen und Schildkröten sagen, aber niemals, unter keinen Umständen, sind sie süß. Die leichte Süße des Algensafts war noch köstlicher als der Sirup, den wir hier in Kanada aus unseren Ahornbäumen gewinnen. Den Biss der äußeren Röhre würde ich am ehesten mit Wasserkastanien vergleichen.

Speichel bahnte sich einen Weg durch das dick verkrustete Innere meines Munds. Unter lauten Begeisterungsrufen rupfte ich ein Algenstück nach dem anderen ab. Die beiden Röhren ließen sich ohne weiteres voneinander trennen. Mit beiden Händen stopfte ich mir die süßen Stücke in den Mund, der schon lange nicht mehr so schnell und so heftig gearbeitet hatte. Ich aß so viel, dass bald um mich herum ein regelrechter Graben klaffte.

Ein einzelner Baum stand etwa sechzig Meter weit entfernt. Es war der einzige Baum nahe am Wasser; die anderen standen oben auf der Anhöhe, die recht weit fort schien. Obwohl das Wort Anhöhe vielleicht eine zu große Erhebung erwarten lässt. Die Insel war, wie gesagt, flach. Der Anstieg zur Mitte hin war sanft, und die Höhe mag fünfzehn oder zwanzig Meter betragen haben. Aber bei der Verfassung, in der ich war, war mir, als türme sich ein Berg über mir. Den Baum fand ich einladender. Er warf einen Schatten. Noch einmal versuchte ich, auf die Beine zu kommen. Ich kam bis in die Hocke, doch sobald ich versuchte mich aufzurichten, drehte sich mir alles und ich verlor das Gleichgewicht. Und selbst wenn ich die Balance gehalten hätte, wären meine Beine zu schwach gewesen. Aber ich war fest entschlossen. Ich kroch, schleppte mich, hüpfte zu dem Baum wie ein entkräfteter Frosch.

Ich weiß, ich werde nie wieder so froh sein wie in dem Augenblick, in dem ich in den flirrenden, schimmernden Schatten des Baumes eintauchte und das kühle, trockene Rauschen der Blätter hörte. Der Baum war nicht so groß und so hoch wie die Bäume weiter landeinwärts, und da er auf der falschen Seite der Anhöhe stand, da wo er Wind und Wetter mehr ausgesetzt war, sah er ein wenig zerzaust aus und nicht ganz so ebenmäßig wie seine Artgenossen. Aber es war ein Baum, und ein Baum ist ein wunderbarer Anblick, wenn man so lange Zeit schiffbrüchig auf dem Ozean getrieben ist. Ich sang ein Loblied auf diesen Baum, auf seine ruhige, unerschütterliche Reinheit, seine gelassene Schönheit. Könnte ich doch nur sein wie er, tief verwurzelt in der Erde und die Hände gen Himmel erhoben, um Gott zu preisen! Ich weinte.

Im Herzen pries ich Allah, doch mein Verstand hatte sich bereits an die Arbeit gemacht und studierte Allahs Werke. Die Bäume wuchsen tatsächlich auf den Algen, so wie ich es vom Rettungsboot aus gesehen hatte. Nirgendwo eine Spur von Erde. Entweder konnte man sie von oben nicht sehen, oder diese Bäume waren ein bemerkenswertes Beispiel für Schmarotzertum. Der Stamm hatte etwa den gleichen Durchmesser wie der Brustkorb eines erwachsenen Mannes. Die Rinde war graugrün gefärbt, dünn und glatt und so weich, dass ich sie mit dem Fingernagel einritzen konnte. Die breiten herzförmigen Blätter endeten in einer Spitze. Die Krone des Baumes war rund und ebenmäßig wie die eines Mangobaums, aber es war kein Mangobaum. Der Geruch erinnerte mich an einen Lotosbaum, aber es war auch kein Lotosbaum. Und auch keine Mangrove. Einen solchen Baum hatte ich noch nie gesehen. Ich weiß nur, dass er schön und grün und üppig belaubt war.

Ich hörte ein Knurren. Ich wandte mich um. Richard Parker beobachtete mich vom Rettungsboot aus. Auch er musterte die Insel. Offenbar wollte er an Land kommen und traute sich nicht. Nachdem er eine Zeit lang fauchend auf- und abgewandert war, sprang er schließlich von Bord. Ich setzte die orangefarbene Trillerpfeife an die Lippen. Aber er führte nichts Böses im Schilde. Er hatte große Mühe, das Gleichgewicht zu halten, und war ebenso unsicher auf den Beinen wie ich. Er kroch geduckt über den Boden und zitterte wie ein Neugeborenes. Er machte einen weiten Bogen um mich und bewegte sich auf die Anhöhe zu, dann verschwand er im Inneren der Insel.

Ich verbrachte den Tag mit Essen, Ausruhen und vorsichtigen Stehversuchen und fühlte mich wie im siebten Himmel. Wenn ich mich zu sehr anstrengte, wurde mir übel. Und ich hatte ständig das Gefühl, als schwanke der Boden unter meinen Füßen, als würde ich jeden Moment umfallen, sogar wenn ich still saß.

Am späten Nachmittag machte ich mir allmählich Gedanken über Richard Parker. In dieser neuen Umgebung, wo alte Reviergrenzen nicht mehr galten, war schwer zu sagen, wie er sich verhalten würde, wenn wir uns wieder begegneten.

Widerstrebend, nur der Sicherheit halber, schleppte ich mich zurück zum Boot. Wie auch immer Richard Parker von der Insel Besitz ergriff, der Bug und die Plane blieben mein Territorium. Ich suchte nach einer Möglichkeit, wie ich das Rettungsboot festmachen konnte. Offenbar war das gesamte Ufer von einer dicken Algenschicht bedeckt, denn ich fand nichts anderes. Schließlich löste ich die Aufgabe, indem ich ein Ruder mit dem Stiel voraus tief in den Algenteppich stieß und das Boot daran vertäute.

Ich kroch auf die Plane. Ich war todmüde. Mein Körper war erschöpft von so viel Nahrung, und die unerwartete Wendung meines Schicksals machte mich nervös und angespannt. Ich erinnere mich dunkel, dass ich irgendwann abends Richard Parker in der Ferne brüllen hörte, doch dann übermannte mich der Schlaf.

Ich erwachte in der Nacht von einem unangenehmen Ziehen im Unterbauch. Ich hielt es für einen Krampf und dachte, die Algen seien womöglich giftig gewesen. Dann hörte ich ein Geräusch und blickte auf. Richard Parker war an Bord. Er war zurückgekehrt, während ich schlief. Er miaute und leckte sich die Ballen an den Füßen. Ich staunte, dass er wieder da war, dachte aber nicht weiter darüber nach - die Krämpfe verschlimmerten sich immer mehr. Ich krümmte mich vor Schmerz, fing an zu zittern, als ein für die meisten Menschen ganz normaler, für mich jedoch längst vergessener Vorgang einsetzte: mein Darm entleerte sich. Es war eine schmerzhafte Prozedur, aber danach sank ich in den tiefsten, erquickendsten Schlaf seit der Nacht bevor die Tsimtsum untergegangen war.

Als ich am Morgen erwachte, fühlte ich mich spürbar stärker. Nun kroch ich schon viel energischer zu dem einzelnen Baum. Meine Augen genossen von neuem seinen Anblick, mein Magen genoss die Algen. Ich frühstückte so ausgiebig, dass ein großes Loch entstand.

Wieder zögerte Richard Parker stundenlang, bevor er vom Boot sprang. Als er es am späten Vormittag schließlich wagte, sprang er, als er den Algenboden berührte, sofort zurück und landete halb im Wasser; er schien äußerst nervös. Er zischte und schlug mit den Pranken in die Luft. Es war ein seltsamer Anblick. Ich hatte keine Ahnung, was er da tat. Schließlich verflog seine Furcht, und wieder verschwand er hinter dem Hügel, schon sichtlich besser auf den Beinen als am Vortag.

Diesmal nahm ich den Baumstamm zu Hilfe und richtete mich auf. Mir war schwindlig. Nur wenn ich die Augen schloss und mich am Stamm festhielt, hörte der Boden auf zu schwanken. Ich stieß mich ab und versuchte zu gehen. Ich stürzte schon beim ersten Schritt. Der Boden kam mir entgegen, bevor ich mich überhaupt gerührt hatte. Weh tat ich mir nicht. Die Insel mit ihrem federnden Pflanzenboden war genau der richtige Ort, um das Gehen neu zu lernen. Ich konnte fallen, wie ich wollte, und würde mich nicht verletzen.

Am nächsten Tag, nach einer weiteren erholsamen Nacht auf dem Boot - wohin auch Richard Parker wiederum zurückgekehrt war -, gelang es mir. Ich fiel ein halbes Dutzend Mal, aber ich schaffte es bis zum Baum. Ich spürte, wie meine Kräfte stündlich wuchsen. Ich hatte einen Fischhaken mitgebracht und zog damit einen Ast zu mir herunter. Ich pflückte ein paar Blätter. Sie waren weich und fein, aber sie schmeckten bitter. Richard Parker sah die Höhle auf dem Rettungsboot als sein Quartier - das war meine Erklärung dafür, dass er auch diesmal zurückgekehrt war.

Am Abend sah ich ihn kommen, bei Sonnenuntergang. Ich hatte das Boot an dem eingesteckten Ruder noch einmal neu festgemacht. Ich stand am Bug und überprüfte eben, ob das Seil auch gut am Vorderende angebunden war. Mit einem Male war er da. Anfangs erkannte ich ihn gar nicht. Das prachtvolle Tier, das da vom Hügel herabgaloppiert kam, konnte doch nicht der abgehärmte struppige Tiger sein, der mit mir übers Meer gekommen war? Aber er war es. Es war Richard Parker, und er stürmte in vollstem Tempo auf mich zu. Zielstrebig. Den Kopf hatte er geduckt, sodass der mächtige Nacken in die Höhe stand. Fell und Muskeln bebten bei jedem Schritt, das Grün vibrierte unter seinen Pranken. Es klang wie ein Trommeln.

Ich habe gelesen, dass es zwei Angstreaktionen gibt, die man einem Menschen nicht abtrainieren kann: das Zusammenfahren bei einem unerwarteten Geräusch und der Schwindel. Ich möchte eine dritte hinzufügen, nämlich die Panik, die einen packt, wenn man etwas auf sich zukommen sieht, das tödliche Macht hat.

Ich angelte nach meiner Pfeife. Als er noch zehn Meter vom Boot entfernt war, blies ich mit aller Macht hinein. Ein markerschütternder Pfiff zerriss die Luft.

Er tat seine Wirkung. Richard Parker blieb abrupt stehen. Aber sofort machte er Anstalten weiterzulaufen. Ich blies noch einmal. Er drehte sich halb um und hüpfte seltsam auf der Stelle, wie eine Antilope, und fauchte dabei wild. Ich blies noch einmal. Jedes Haar seines Körpers sträubte sich. Alle Krallen waren ausgestreckt. Er war in äußerster Erregung. Ich hatte das Gefühl, dass der Schutzwall, den ich mir mit meiner Trillerpfeife gebaut hatte, jeden Moment einstürzen und dass Richard Parker mich angreifen würde.

Stattdessen tat er das, womit ich am wenigsten gerechnet hätte: Er sprang ins Wasser. Ich war verblüfft. Gerade das, was ich immer für undenkbar gehalten hatte, tat er, und ohne zu zögern. Mit energischen Zügen schwamm er zum Bootsheck. Ich überlegte, ob ich noch einmal blasen sollte, klappte aber dann lieber den Deckel zum Stauraum auf und verschanzte mich in meinem eigenen Revier.

Triefend kletterte er an Bord, sodass mein Ende des Bootes sich in die Höhe hob. Einen Moment lang balancierte er auf Bootsrand und Heckbank und musterte mich. Mein Herz setzte aus. Ich hätte nicht mehr die Kraft gehabt, die Trillerpfeife zu blasen. Ich sah ihn einfach nur an. Er glitt hinunter auf den Bootsboden und verschwand unter der Plane. Rechts und links vom Deckel konnte ich ihn sehen. Ich warf mich auf die Plane, außerhalb seines Gesichtsfelds - aber unmittelbar über ihm. Der Wunsch, mir mögen Flügel wachsen und ich könne davonfliegen, war übermächtig.

Schließlich beruhigte ich mich. Ich führte mir vor Augen, dass ich ja schließlich schon die ganze Zeit so lebte: auf engstem Raum mit einem ausgewachsenen Tiger.

Als mein Atem gleichmäßiger wurde, schlief ich ein.

Irgendwann in der Nacht wachte ich auf; die Angst war vergessen, und ich sah zu Richard Parker hinunter. Er träumte: Er zuckte und knurrte im Schlaf, so laut, dass ich davon wach geworden war.

Am Morgen verschwand er wiederum hinter der Anhöhe.

Ich nahm mir vor, die Insel zu erkunden, sobald ich wieder bei Kräften war. Der Küstenlinie nach zu urteilen war sie recht groß; links und rechts erstreckte sich das Ufer weithin und machte nur eine leichte Biegung, was auf einen beträchtlichen Umfang schließen ließ. Ich verbrachte den ganzen Tag damit, meine Beine zu stärken, indem ich immer wieder zwischen Ufer und Baum hin- und herging - und immer wieder stürzte. Nach jedem Sturz genehmigte ich mir eine ausgiebige Algenmahlzeit.

Als Richard Parker gegen Abend zurückkehrte, etwas früher als am Vortag, wartete ich schon auf ihn. Ich saß unbewegt da und griff diesmal nicht zur Trillerpfeife. Er kam ans Ufer und sprang mit einem mächtigen Satz auf das Boot. Er betrat sein Revier, ohne in das meine einzudringen, nur das Boot neigte sich heftig zur Seite. Es war beängstigend, wie er wieder zu Kräften gekommen war.

Am folgenden Morgen ließ ich Richard Parker einen guten Vorsprung und machte mich dann an die Erkundung der Insel. Ich stieg hinauf zur Anhöhe. Ich erreichte mein Ziel mühelos, setzte stolz einen Fuß vor den anderen, und mein Gang war beschwingt, wenn auch noch etwas steif. Wären meine Beine schwächer gewesen, wäre ich wohl in die Knie gegangen, als ich zum ersten Mal auf die andere Seite des Höhenzugs blickte und sah, was es dort zu sehen gab.

Um mit den Einzelheiten anzufangen: Ich sah, dass die gesamte Insel mit Algen bedeckt war, nicht nur die Küste. Ich sah eine große grüne Ebene mit einem grünen Wald in der Mitte. Rings um diesen Wald sah ich - in gleichmäßigen Abständen - Hunderte von gleichgroßen Teichen mit gleichmäßig dazwischen verteilten Bäumen. Alles sah ganz danach aus, als folge es einem Plan.

Das Unvergesslichste aber waren die Erdmännchen. Selbst bei vorsichtiger Schätzung sah ich auf einen Blick Hunderttausende von ihnen. Die ganze Gegend wimmelte von Erdmännchen. Und es hatte den Anschein, als drehten sie sich bei meiner Ankunft allesamt um und blickten mich verblüfft an, wie die Hühner in einem Hühnerhof, und als stünden sie zu meiner Begrüßung auf.

In unserem Zoo hatte es keine Erdmännchen gegeben. Aber ich hatte darüber gelesen. Ich kannte sie aus Büchern und aus der Fachliteratur. Das Erdmännchen ist ein kleines südafrikanisches Säugetier, ein Verwandter des Mungo, ein fleischfressender Bewohner von Erdhöhlen. Erwachsene Tiere werden etwa dreißig Zentimeter lang und wiegen bis zu zwei Pfund; sie haben einen schlanken, wieselartigen Körper und eine spitze Schnauze; die Augen sitzen weit vorn am Kopf; sie haben kurze Beine, vierzehige Pfoten mit langen, feststehenden Krallen und einen zwanzig Zentimeter langen Schwanz. Das Fell ist hellbraun oder grau, mit schwarzen oder braunen Rückenstreifen; Schwanzspitze, Ohren und die charakteristischen Augenringe sind immer schwarz. Das Erdmännchen ist ein flinkes Tier mit sehr guten Augen; es ist tagaktiv und gesellig und ernährt sich in seiner Heimat - der Wüste Kalahari im südlichen Afrika - unter anderem von Skorpionen, gegen deren Gift es völlig immun ist. Wenn es nach Feinden Ausschau hält, stellt das Erdmännchen sich aufrecht auf die Hinterpfoten und stützt sich mit dem Schwanz ab. Oft nehmen mehrere Erdmännchen gleichzeitig diese eigentümliche Position ein; dann stehen sie in einer Gruppe beisammen und starren alle in die gleiche Richtung wie Pendler an einer Bushaltestelle. Mit ihren ernsten Mienen und der Art, wie sie die Vorderpfoten vor den Körper halten, sehen sie aus wie Kinder, die widerwillig und unnatürlich für einen Fotografen posieren, oder wie nackte Patienten in einer Arztpraxis, die verschämt versuchen, ihre Blöße zu bedecken.

Das war der Anblick, der sich mir bot: Hunderttausende - nein, eine Million - von Erdmännchen, die sich zu mir umdrehten und strammstanden, als warteten sie auf meine Befehle. Selbst auf die Zehenspitzen gereckt ist ein Erdmännchen höchstens fünfundvierzig Zentimeter groß; nicht die Größe dieser Tiere beeindruckte so, sondern ihre schier unendliche Zahl. Ich stand wie angewurzelt da, sprachlos. Wenn ich eine Million Erdmännchen zu panischer Flucht aufscheuchte, wäre das Chaos unbeschreiblich. Aber ihr Interesse an mir verflog schnell. Ein paar Sekunden, dann ließen sie sich wieder auf die Vorderpfoten fallen und machten mit dem weiter, womit sie vor meiner Ankunft beschäftigt gewesen waren, das heißt, entweder knabberten sie an den Algen, oder sie starrten in die Teiche. Alle neigten sich gleichzeitig zu Boden, wie die Gläubigen in einer Moschee.

Die Tiere kannten anscheinend keine Furcht. Als ich den Hügel hinunterkam, ergriff keines die Flucht oder zeigte auch nur die kleinste Anspannung darüber, dass ich da war. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich eins berühren, sogar in die Höhe heben können. Aber das tat ichnicht. Ich spazierte einfach mitten hinein in das, was mit Sicherheit die größte Erdmännchenkolonie der Welt war, eines der seltsamsten, aber auch wunderbarsten Erlebnisse meines Lebens. Die Luft war erfüllt von einem unablässigen Geräusch. Es war ihr Quietschen, Zirpen, Schnattern und Schnauben. So groß war ihre Zahl, so vielfältig ihre Erregung, dass es an- und abschwoll wie die Laute eines Vogelschwarms, manchmal ein lautstarkes Schwirren rundum, dann plötzlich leiser, wenn die Erdmännchen, bei denen ich stand, verstummten und dafür andere, weiter fort, losschnatterten.

Hatten sie keine Furcht vor mir, weil ich Furcht vor ihnen haben sollte? Der Gedanke kam mir. Aber die Antwort - dass sie harmlos waren - lag auf der Hand. Um an einen der Teiche zu kommen, um die sie dicht gepackt standen, musste ich einige mit dem Fuß beiseite schieben, damit ich nicht auf sie trat. Sie ließen sich meine Drängelei ohne Grollen gefallen und machten mir Platz wie eine gutmütige Menschenmenge. Ich spürte die warmen, pelzigen Körper an meinen Waden und beugte mich vor zum Teich.

Alle Teiche waren kreisrund und ungefähr gleich groß - etwa zwölf Meter im Durchmesser. Ich hatte erwartet, dass sie flach sein würden, aber ich blickte in tiefes, klares Wasser. Ja, sie schienen sogar unendlich tief. Und soweit ich hinunterblicken konnte, bestanden die Seiten aus grünen Algen. Die Algenschicht auf der Insel musste sehr dick sein.

Ich sah nichts, was die gebannte Aufmerksamkeit der Erdmännchen erklärte, und ich hätte das Rätsel wohl ungelöst gelassen, wäre nicht großes Quietschen und Schnattern an einem Nachbarteich ausgebrochen. Erdmännchen hüpften in sichtlicher Erregung auf und ab. Und plötzlich sprangen sie zu Hunderten in den Teich. Ein großes Gedränge setzte ein, denn die weiter hinten Stehenden wollten nun alle gleichzeitig ans Ufer. Der Drang steckte alle an, und selbst die kleinsten Erdkinder drängelten zum Wasser, von Müttern oder Kindergärtnern gerade noch zurückgehalten. Ich schaute ungläubig zu. Das waren nicht die Erdmännchen, wie man sie aus der Kalahariwüste kannte. Wüsten-Erdmännchen führten sich nicht auf wie Frösche. Was ich hier vor mir hatte, war eindeutig eine eigene Untergattung, die hier ihre ebenso kuriose wie faszinierende Nische gefunden hatte.

Ich ging hinüber zu dem Teich, vorsichtig, damit ich auf keines von ihnen trat, und als ich über die Kante blickte, sah ich Erdmännchen, die darin schwammen - tatsächlich schwammen - und Dutzende von Fischen ans Ufer holten, und zwar nicht nur kleine Fische. Manche waren Doraden, die uns auf dem Rettungsboot als Festmahl gegolten hätten. Sie waren größer als die Erdmännchen. Es war mir unbegreiflich, wie Erdmännchen solche Fische fangen konnten.

Erst als sie mit bemerkenswerter Teamarbeit die Fische an Land hievten, fiel mir etwas auf: Jeder davon, jeder einzelne Fisch, war tot. Noch nicht lange, aber eindeutig tot. Die Erdmännchen bargen Fische, die sie nicht selbst gefangen hatten.

Ich kniete mich ans Ufer, wozu ich einige nasse, aufgeregte Erdmännchen beiseite schieben musste. Ich tauchte die Hand ins Wasser. Es war kälter als ich erwartet hatte. Eine Strömung brachte kühles Wasser von unten herauf. Ich schöpfte ein wenig Wasser mit der Hand und führte sie an den Mund. Ich probierte.

Es war Süßwasser. Das erklärte, woran die Fische gestorben waren - denn jeder Salzwasserfisch, der ins Süßwasser kommt, quillt binnen kurzem auf und stirbt. Aber was taten denn Meeresfische in diesem Teich? Wie kamen sie dorthin?

Ich bahnte mir einen Weg durch die Erdmännchen zu einem weiteren Teich. Auch er enthielt Süßwasser. Genau wie der nächste. Und der vierte ebenfalls.

Sämtliche Teiche waren voll mit Süßwasser. Doch woher kam all dieses Wasser, fragte ich mich. Die Antwort lag auf der Hand: von den Algen. Die Algen entzogen dem Meerwasser beständig auf natürlichem Wege das Salz, deswegen waren sie im Inneren salzig und außen mit Süßwasser benetzt: Sie schwitzten sozusagen das Süßwasser aus. Ich fragte mich nicht, warum die Algen das taten oder wie sie es taten oder was mit dem Salz geschah. Solche Fragen stellte mein Verstand einfach nicht mehr. Ich lachte nur darüber und sprang in einen Teich. Ich konnte mich nur mit Mühe an der Wasseroberfläche halten; ich war noch immer sehr schwach und hatte keine Fettpolster, die für Auftrieb gesorgt hätten. Ich hielt mich am Ufer des Teiches fest. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, so ein Bad in klarem, sauberem, salzfreiem Wasser. Nach der langen Zeit auf dem Meer war meine Haut wie Leder, und die Haare waren lang, verfilzt und klebrig wie ein Fliegenfänger. Mir war, als hätte das Salz sogar meine Seele zerfressen. So genoss ich mein Bad unter den Blicken von tausend Erdmännchen und wartete, bis das Süßwasser mich von allem, was an mir klebte, gereinigt hatte.

Die Erdmännchen wandten den Blick ab. Sie drehten sich wie auf Kommando alle zum gleichen Zeitpunkt in die gleiche Richtung. Ich stieg aus dem Wasser, um zu sehen, was geschah. Es war Richard Parker. Er bestätigte meine Vermutung, dass diese Erdmännchen schon seit so vielen Generationen ohne natürliche Feinde lebten, dass jede Vorstellung von Fluchtabstand, überhaupt von Flucht oder Angst aus ihren Erbanlagen getilgt war. Richard Parker schritt durch die Menge und hinterließ eine Spur von Mord und Gewalt. Er verschlang ein Erdmännchen nach dem anderen, das Blut troff ihm aus dem Maul, und seine Opfer, Auge in Auge mit einem wilden Tiger, hüpften auf der Stelle, als wollten sie rufen »Ich bin dran! Ich bin dran! Ich bin dran!« Solche Szenen sollte ich immer wieder sehen. Nichts konnte die Erdmännchen aus ihrem gewohnten Leben reißen, das sie mit In-den-Teich-Starren und Algenknabbern verbrachten. Ob Richard Parker sich formvollendet anschlich, wie es sich für einen Tiger gehört, bevor er mit donnerndem Gebrüll über sie herfiel, oder ob er nur gleichgültig angeschlendert kam, für die Erdmännchen machte es keinen Unterschied. Sie waren nicht aus der Ruhe zu bringen und ließen sich alles gefallen.

Er tötete mehr, als er brauchte. Er tötete Erdmännchen, die er nicht fraß. Bei Tieren ist der Trieb zum Töten unabhängig vom Hunger. Nachdem ihm so lange kein Beutetier begegnet war, war nun, wo plötzlich so viele auf einmal zu haben waren, sein aufgestauter Jagdtrieb nicht zu bremsen.

Er war weit weg. Ich war nicht in Gefahr. Zumindest für den Augenblick.

Am nächsten Morgen, nachdem er verschwunden war, reinigte ich das Rettungsboot. Es war dringend nötig. Ich will mir die Beschreibung dieser Ansammlung von Menschen- und Tierskeletten, umgeben von den Überresten zahlloser Fische und Schildkröten, ersparen. Ich warf die ganze stinkende, ekelhafte Masse über Bord. Da ich nicht wagte, den Boden des Bootes zu betreten, aus Angst, Richard Parker könne Spuren meines Eindringens finden, musste ich alles mit dem Fischhaken von der Plane aus oder im Wasser stehend von der Seite erledigen. Gerüche und Flecken - gegen die der Fischhaken nichts nützte - spülte ich mit Eimern voll Meerwasser ab.

Am Abend bezog er kommentarlos sein neues, sauberes Quartier. Im Maul hatte er eine Reihe von toten Erdmännchen, die er im Laufe der Nacht verspeiste.

Ich verbrachte die folgenden Tage mit Essen und Trinken und Baden, beobachtete die Erdmännchen, machte Spaziergänge und Dauerläufe, ruhte mich aus und sammelte neue Kräfte. Wenn ich lief, bewegte ich mich geschmeidig und locker, und das Laufen versetzte mich in eine euphorische Stimmung. Meine Haut heilte. Die Schmerzen und Beschwerden verschwanden. Kurz gesagt: ich kehrte ins Leben zurück.

Ich erkundete die Insel. Eigentlich wollte ich sie umrunden, doch den Versuch gab ich auf. Ihren Durchmesser würde ich auf zehn bis elf Kilometer schätzen, und daraus ergab sich ein Umfang von rund dreißig Kilometern. So weit ich sah, war das Ufer überall gleich. Überall das gleiche, intensive Grün, der gleiche Höhenzug, der zum Ufer hin abfiel, und als Unterbrechung der Monotonie hie und da ein zerzauster Baum. Bei der Erkundung des Ufers machte ich eine außergewöhnliche Beobachtung: Je nach Wetter waren die Algen, und folglich die Insel selbst, unterschiedlich dicht und hoch. An sehr heißen Tagen war das Algengeflecht fest und dicht, die Insel wurde höher und der Aufstieg zur Mitte hin steiler. Die Veränderung ging langsam vonstatten und begann erst nach mehreren heißen Tagen hintereinander. Aber sie war unübersehbar. Ich glaube, sie hatte etwas mit dem Wasserhaushalt zu tun, damit, dass dann ein geringerer Teil der Algenoberfläche den Sonnenstrahlen ausgesetzt war.

Das umgekehrte Phänomen - dass die Insel schlaffer wurde - stellte sich schneller ein, es war dramatischer anzusehen und leichter zu erklären. Zu solchen Zeiten senkte sich der Hügel, und der Kontinentalschelf, wenn wir ihn so nennen wollen, war weniger steil; am Ufer wurde die Alge so schlaff, dass ich mit den Füßen darin hängen blieb. Dieses Abschlaffen wurde von trübem Wetter verursacht und noch schneller von stürmischer See.

Einmal erlebte ich auf der Insel einen größeren Sturm, und nach den Erfahrungen dabei würde ich vermuten, dass sie auch dem schlimmsten Hurrikan standhält. Es war ein atemberaubendes Schauspiel. Ich saß in einem Baum und sah zu, wie gewaltige Wellen auf die Insel einstürmten, offenbar im Begriff, über die Uferkante zu schlagen und alles niederzuwalzen - und konnte mit ansehen, wie jede einzelne davon verschwand, als sei sie auf Treibsand gekommen. Das hatte die Insel mit Gandhi gemein: sie widerstand, indem sie keinen Widerstand leistete. Jede Welle wurde lautlos von der Insel aufgefangen, und nur ein wenig Schaum blieb zurück. Ein Beben im Boden und ein leichtes Schwappen der Teichoberflächen waren das einzige Zeichen, was für eine Kraft durch die Insel hindurchging. Und hindurch ging sie tatsächlich: auf der Windschattenseite traten, deutlich gedämpft, Wellen wieder aus und zogen ihres Weges. Es war ein äußerst kurioser Anblick, Wellen, die vom Ufer fortzogen. Der Sturm und die kleinen Erdbeben, die er mit sich brachte, erschütterte die Erdmännchen nicht im Geringsten. Sie gingen ihren Geschäften nach, als existierten die Elemente gar nicht.

Noch unverständlicher war, wie karg die Insel war. Noch nie war mir ein dermaßen reduziertes Ökosystem begegnet. In der Luft gab es keine Fliegen, keine Schmetterlinge, keine Bienen, überhaupt keine Insekten. Kein Vogel sang in den Bäumen. In der Ebene gab es keinen Nager, keine Made, keinen Wurm; keine Schlange und kein Skorpion verbarg sich dort, kein anderer Baum wuchs, kein Busch, keine Gräser, keine Blumen. In den Teichen lebten keine Süßwasserfische. Am Ufer gab es weder Tang noch Krabben noch Krebse, keine Kiesel, keine Korallen, keine Felsen. Mit der einen, allerdings großen Ausnahme der Erdmännchen gab es keine einzige andere Materie auf der Insel, ob organisch oder anorganisch. Sie bestand aus nichts als leuchtend grünen Algen mit leuchtend grünen Bäumen darauf.

Parasiten waren die Bäume nicht. Das stellte ich fest, als ich einmal unter einem jungen Baum saß und so viel Algen aß, dass ich seine Wurzeln freilegte. Ich sah, dass die Wurzeln nicht als eigenständige Gebilde in die Algen hineinwuchsen, sondern aus diesen heraus, dass sie eins mit ihnen waren. Es musste also entweder eine symbiotische Beziehung zwischen Baum und Alge sein, bei der beide zu beider Vorteil gaben und nahmen, oder, einfacher noch, der Baum war schlichtweg Bestandteil der Alge. Ich würde vermuten, dass es Letzteres war, denn die Bäume trugen anscheinend keine Blüten oder Früchte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein eigenständiger Organismus, auch wenn er sich auf eine noch so enge Symbiose einlässt, einen so entscheidenden Teil des Lebens wie die Fortpflanzung aufgeben würde. Die Blätter liebten das Sonnenlicht, sonst wären sie nicht so reichlich, so groß und so chlorophyllgrün gewesen, und daraus schließe ich, dass sie hauptsächlich zur Energiegewinnung da waren. Aber das ist Vermutung.

Eine letzte Beobachtung möchte ich noch anfügen. Sie beruht eher auf Intuition als auf echten Beweisen. Und zwar bin ich der Ansicht, dass die Insel gar keine Insel im herkömmlichen Sinne des Wortes war - keine Landmasse, die fest mit dem Ozeanboden verbunden ist -, sondern eher ein schwimmender Organismus, ein Algenknäuel von gigantischen Ausmaßen. Ich würde auch vermuten, dass die Teiche bis auf die Unterseite dieser gewaltigen schwimmenden Masse reichten und mit dem Meer in Verbindung standen, denn anders ist die Gegenwart von Doraden und anderen Hochseefischen nicht zu erklären.

All das wäre weitere Untersuchung wert, aber leider habe ich die Algen, die ich mitnahm, verloren.

Genau wie ich erwachte auch Richard Parker zu neuem Leben. So wie er sich mit Erdmännchen vollstopfte, setzte er bald wieder Fleisch an, sein Fell glänzte von neuem, und schließlich sah er wieder genauso gesund aus wie zu Anfang unserer Reise. Er blieb seiner Gewohnheit treu und kehrte am Ende jedes Tages zum Rettungsboot zurück. Ich achtete immer darauf, dass ich vor ihm dort war, und markierte mein Revier reichlich mit Urin, damit auch klar war, wer von uns welchen Rang hatte und was wem gehörte. Aber er verließ das Boot immer schon im ersten Morgenlicht und machte weitaus größere Ausflüge als ich; da die Insel ja überall gleich aussah, blieb ich meistens, wo ich war. Den Tag über sah ich ihn nur selten. Und ich machte mir Sorgen. Ich sah, wie er mit den Vorderpranken an den Bäumen kratzte - tiefe Furchen in den Stämmen. Ich hörte sein heiseres Brüllen, den Aaonh-Schrei, so mächtig wie Gold und Honig, so angsteinflößend wie der Schacht einer brüchigen Mine oder tausend wütende Bienen. Dass er auf der Suche nach einer Gefährtin war, beunruhigte mich nicht als solches; aber es bedeutete, dass er sich auf der Insel wohl genug fühlte, dass er an Nachwuchs dachte. Der Gedanke beschäftigte mich, dass er in dieser Stimmung wohl keinen anderen männlichen Tiger in seinem Territorium dulden würde, schon gar nicht nachts und schon gar nicht wenn seine Rufe unbeantwortet blieben, wie es mit Sicherheit geschehen würde.

Einmal machte ich einen Spaziergang im Wald. Ich ging recht schnell und war ganz in Gedanken. Ich kam an einem Baum vorbei - und wäre beinahe mit Richard Parker zusammengestoßen. Wir waren beide erschrocken. Er fauchte und stellte sich drohend auf die Hinterbeine, die riesigen Pranken zum Schlag erhoben. Ich stand wie angewurzelt, gelähmt vor Angst und Entsetzen. Er ließ sich wieder auf alle viere fallen und entfernte sich. Nach drei, vier Schritten, drehte er sich um und richtete sich erneut auf, diesmal begleitet von Knurren. Ich stand noch immer reglos wie eine Statue. Er machte erneut ein paar Schritte und wiederholte die Drohgebärde ein drittes Mal. Als er sicher war, dass ich ihm nicht gefährlich werden konnte, machte er sich davon. Sobald ich wieder Luft bekam und nicht mehr zitterte, setzte ich die Trillerpfeife an die Lippen und stürmte hinterher. Er hatte schon ein gutes Stück Vorsprung, war aber noch in Sichtweite. Ich rannte schnell. Er drehte sich um, sah mich, duckte sich - und ergriff die Flucht. Ich pfiff so laut ich konnte und hoffte, dass das Geräusch ebenso weit im Umkreis zu hören war wie der Schrei eines einsamen Tigers.

In der Nacht, als er wieder einen halben Meter unter mir lag, beschloss ich, dass ich noch einmal in die Manege steigen musste.

Die größte Schwierigkeit bei der Dressur ist, dass Tiere entweder instinktiv handeln oder gewohnheitsmäßig. Die Möglichkeit, auf dem kurzen Weg über die Intelligenz neue, nicht angeborene Verbindungen zu schaffen, ist nur im Ansatz vorhanden. Daher kann man einem Tier nur durch endlose, nervenaufreibende Wiederholungen beibringen, dass ein bestimmtes Verhalten - das Wälzen am Boden zum Beispiel — eine Belohnung nach sich zieht. Es ist ein mühsamer, langwieriger Prozess, der ebenso viel Glück wie harte Arbeit braucht, erst recht, wenn es sich um ein erwachsenes Tier handelt. Ich blies in die Trillerpfeife, bis meine Lungen schmerzten. Ich schlug mir an die Brust, bis sie mit blauen Flecken übersät war. Ich rief »Hep! Hep! Hep!«, mein Wort in der Tigersprache für »Los!« — viele tausendmal. Ich warf ihm Hunderte von Fleischstückchen hin, Fleischstückchen, die ich liebend gern selbst gegessen hätte. Eine Tigerdressur ist keine leichte Aufgabe. Tiger sind geistig längst nicht so beweglich wie andere Tiere, die gern im Zirkus oder Zoo dressiert werden - Seelöwen und Schimpansen beispielsweise. Aber ich will mich nicht zu sehr mit meinen Erfolgen bei Richard Parker brüsten. Ein glückliches Schicksal, dem ich auch mein Leben verdanke, wollte es, dass er nicht nur noch recht jung war, sondern dazu sehr gefügig, ein Omegatier. Ich machte mir Sorgen, dass die Verhältnisse auf der Insel das Blatt gegen mich wenden könnten - dass er angesichts eines solchen Überangebots an Nahrung, Wasser und Raum entspannt und selbstbewusst werden könnte, weniger leicht zu beeinflussen. Aber er blieb nervös. Ich kannte ihn gut genug, um das zu spüren. Nachts im Rettungsboot war er unruhig und reizbar. Ich schrieb seine Anspannung der neuen Umgebung auf der Insel zu; jede Veränderung, auch zum Positiven, macht ein Tier nervös. Was immer die Ursache sein mochte, die Anspannung, unter der er stand, bedeutete, dass er auch weiterhin bereit war, meinen Wünschen nachzukommen, ja dass er es sogar für notwendig hielt.

Ich brachte ihm bei, durch einen Reifen zu springen, den ich aus dünnen Zweigen gebastelt hatte. Es war eine einfache Folge von vier Sprüngen. Für jeden bekam er einen Bissen Erdmännchen. Wenn er auf mich zugetrabt kam, hielt ich den Reifen zuerst in der ausgestreckten linken Hand, etwa einen Meter über dem Boden. Sobald er hindurchgesprungen war und langsamer wurde, nahm ich den Reifen in die rechte Hand und befahl ihm zurückzukommen und erneut durch den Reifen zu springen; dabei wandte ich ihm jetzt den Rücken zu. Für den dritten Sprung kniete ich mich auf den Boden und hielt mir den Reifen über den Kopf. Es war ein entsetzliches Gefühl, wenn ich ihn so auf mich zukommen sah. Ich lebte in ständiger Furcht, dass er mich angreifen könnte statt zu springen. Zum Glück sprang er jedes Mal. Danach stand ich auf und gab dem Reifen einen Schubs, sodass er rollte wie ein Rad. Richard Parker sollte hinterherlaufen und noch einmal hindurchspringen, bevor der Reifen zu Boden fiel. Er war nie sonderlich erfolgreich bei diesem letzten Teil, entweder weil ich den Reifen nicht ordentlich warf oder weil er ungeschickt dagegenlief. Immerhin folgte er ihm, und das bedeutete, dass er sich von mir entfernte. Er war jedes Mal erstaunt, wenn der Reifen umfiel. Er musterte ihn ausgiebig, als sei er ein anderes Tier, mit dem er um die Wette gelaufen und das plötzlich zusammengebrochen war. Er blieb in der Nähe und beschnüffelte den Reifen. Dann warf ich ihm seinen letzten Leckerbissen zu und zog mich zurück.

Schließlich suchte ich mir einen Platz außerhalb des Boots. Ich sah nicht ein, warum ich meine Nächte auf so engem Raum mit einem Tier verbringen sollte, das immer mehr Platz beanspruchte, wo ich doch eine ganze Insel für mich hatte. Allerdings konnte ich es nur riskieren, wenn ich auf einem Baum schlief. Richard Parker verbrachte zwar seine Nächte an Bord, aber ich konnte mich nicht darauf verlassen, dass es eine unumstößliche Gewohnheit war. Und wenn er sich zu einem nächtlichen Spaziergang entschloss und mich am Boden schlafend, wehrlos außerhalb meines Reviers vorfand, würde mir das nicht gut bekommen.

So machte ich mich denn eines Tages mit dem Packnetz, einem Seil und einigen Decken auf den Weg. Ich suchte mir einen hübschen Baum am Waldrand und warf das Seil über den untersten Ast. Inzwischen waren meine Kräfte schon so gut zurückgekehrt, dass ich ohne Mühe an diesem Seil hinaufkletterte. Ich fand zwei kräftige Äste, die auf einer Höhe und nahe genug beieinander lagen, und band das Netz daran fest. Am Ende des Tages kehrte ich zurück. Ich hatte eben die Decken gefaltet, die mir als Lager dienen sollten, als mir eine Unruhe unter den Erdmännchen auffiel. Ich sah nach. Ich schob ein paar Zweige beiseite, damit ich besser sehen konnte, und suchte alle Richtungen ab, bis an den Horizont. Es war unmissverständlich: Die Erdmännchen verließen die Teiche — ja, die ganze Ebene - und liefen in Windeseile zum Wald. Ein ganzes Erdmännchenvolk auf der Flucht, mit gekrümmten Rücken und flitzenden Füßen. Ich fragte mich noch, welche Überraschung diese Tiere nun wieder für mich parat haben mochten, da sah ich, dass diejenigen vom nächstgelegenen Teich sich um meinen Baum geschart hatten und den Stamm heraufgeklettert kamen. Es war ein solcher Ansturm eifriger Erdmännchen, dass der Baumstamm schon ganz unter ihnen verschwunden war. Zuerst dachte ich, sie wollten mich angreifen; ich dachte, das sei die Erklärung dafür, dass Richard Parker auf dem Boot schlief: Tagsüber waren die Erdmännchen freundlich und harmlos, doch in der Nacht kamen sie und erdrückten ihre Feinde erbarmungslos mit ihrem kollektiven Gewicht. Angst packte mich, aber auch etwas wie Empörung. Ich hatte so vieles in einem Rettungsboot auf dem Ozean überlebt, mit einem 450 Pfund schweren Königstiger an Bord, und nun sollte ich auf einem Baum und durch die Pfoten von zwei Pfund schweren Erdmännchen sterben - das war nicht nur tragisch, es war dermaßen lächerlich, dass es nicht auszuhalten war.

Sie wollten mir nichts Böses. Sie kamen zu mir heraufgeklettert, setzten sich neben mich, auf michund kletterten weiter. Sie stiegen in den Baum, bis jeder Ast dicht besetzt war. Der Baum bog sich unter ihrem Gewicht. Auch mein Bett übernahmen sie. Und so ging es überall, so weit das Auge reichte. Sie stiegen auf jeden Baum in Sicht. Der ganze Wald wurde braun, wie ein Herbst, der binnen Minuten hereinbricht. Alle zusammen, wie sie in großen Scharen vorbeigestürmt kamen, um unbesetzte Bäume tiefer im Wald zu erobern, machten mehr Lärm als eine Elefantenherde in wilder Panik.

Die Ebene lag leer und verlassen da.

Von der Koje, die ich mit einem Tiger teilte, zum entschieden überbelegten Schlafsaal der Erdmännchen - wer würde mir da widersprechen, wenn ich sage, dass das Leben schon manche Überraschung parat hält? Ich musste mit Erdmännchen rangeln, damit ich einen Platz in meinem eigenen Bett bekam. Rundum kuschelten sie sich an mich. Kein Daumenbreit blieb frei.

Sie richteten sich ein, und das Quietschen und Zirpen verstummte. Stille kehrte ein im Baum. Wir schliefen.

In der Morgendämmerung erwachte ich und fand mich unter einer lebendigen Pelzdecke. Ein paar Erdmännchenkinder hatten die wärmeren Stellen meines Körpers entdeckt. Mir war heiß von dem dichten Fellkragen um meinen Hals - und was sich so wohlig an meine Schläfe kuschelte, musste dann wohl die Mutter sein -, und andere hatten es sich zwischen meinen Beinen bequem gemacht.

Ebenso rasch und ohne Umschweife, wie sie ihn erobert hatten, verließen sie den Baum wieder. Und genauso ging es bei sämtlichen anderen Bäumen weit und breit. Die Ebene war zusehends von Erdmännchen bevölkert, und die Luft füllte sich mit den Geräuschen ihres neuen Tags. Der Baum sah verlassen aus. Und ich fühlte mich auch ein wenig verlassen. Es war schön gewesen, bei den Erdmännchen zu schlafen.

Von da an schlief ich jede Nacht in dem Baum. Ich nahm ein paar nützliche Dinge aus dem Boot mit und richtete mir ein hübsches Baumhaus ein. Ich gewöhnte mich an die Kratzer, die mir die Erdmännchen oft unabsichtlich zufügten, wenn sie über mich kletterten. Meine einzige Beschwerde wäre, dass diejenigen, die weiter oben im Baum saßen, mich manchmal bekackten.

Eines Nachts weckten mich die Erdmännchen. Sie schnatterten und waren in heller Aufregung. Ich setzte mich auf und schaute in die Richtung, in die sie blickten. Der Himmel war wolkenlos, und es herrschte Vollmond. Sämtliche Farbe war aus der Landschaft gewichen. Alles schimmerte in geheimnisvollen Schwarz-, Grau- und Weißtönen. Es war der Teich. Darin bewegten sich silberne Formen, sie tauchten auf und durchbrachen die schwarze Oberfläche des Wassers.

Fische. Tote Fische. Sie kamen aus der Tiefe an die Oberfläche. Der Teich - sein Durchmesser betrug, wie gesagt, immerhin zwölf Meter - füllte sich mit toten Fischen, bis die Oberfläche nicht mehr schwarz, sondern silbern war. Und da das Wasser nicht zur Ruhe kam, mussten wohl immer noch mehr tote Fische nachkommen.

Als schließlich ein toter Hai lautlos aus der Tiefe auftauchte, waren die Erdmännchen außer sich vor Erregung und machten einen Lärm wie tropische Vögel. Die Hysterie griff auch auf die benachbarten Bäume über. Es war ohrenbetäubend. Ich fragte mich, ob ich wohl gleich mit ansehen würde, wie sie die Fische auf die Bäume holten.

Aber kein einziges Erdmännchen kletterte hinunter zum Teich. Sie zeigten keinerlei Anstalten dazu. Sie machten nur lauthals ihrer Enttäuschung Luft.

Mir war der Anblick von so vielen toten Fischen unheimlich. Sinister.

Ich legte mich wieder hin und versuchte trotz allem Erdmännchengezeter wieder einzuschlafen. Beim ersten Tageslicht wurde ich aus dem Schlaf gerissen von dem Tumult, den sie veranstalteten, als sie alle gleichzeitig den Baum verließen. Ich gähnte und streckte mich und sah hinunter zu dem Teich, der in der Nacht für so viel Aufregung gesorgt hatte.

Er war leer. Zumindest beinahe. Aber es war nicht das Werk der Erdmännchen. Die schickten sich eben erst an, die Reste herauszufischen.

Die Fische waren verschwunden. Nun war ich vollends verblüfft. War es der falsche Teich? Nein, es war eindeutig der, den ich in der Nacht gesehen hatte. War ich sicher, dass nicht die Erdmännchen ihn leergefischt hatten? Ja, vollkommen sicher. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie einen ganzen Hai aus dem Wasser gezogen und auf ihren Rücken abtransportiert hatten. Und Richard Parker? Dem hätte ich es zugetraut, aber nicht einen ganzen Teich in einer einzigen Nacht.

Es war ein völliges Rätsel. So sehr ich auch in den Teich und auf seine grünen Flanken starrte, es gab keine Erklärung, was mit den Fischen passiert war. In der nächsten Nacht blieb ich wach, aber es tauchten keine neuen Fische auf.

Die Lösung des Rätsels fand ich einige Zeit später, tief im Wald.

In der Mitte des Waldes waren die Bäume höher und standen dicht beieinander. Darunter wuchs nichts, denn es gab keinerlei Unterholz, oben aber war das Blätterdach so dicht, dass der Himmel nicht zu sehen war, oder, um es anders auszudrücken, der Himmel war einfarbig grün. Der Abstand zwischen den Bäumen war so gering, dass ihre Äste sich berührten; sie wuchsen ineinander und bildeten ein dichtes Geflecht, sodass man kaum noch sagen konnte, wo ein Baum endete und der nächste begann. Mir fiel auf, dass sie glatte, unversehrte Stämme hatten, ohne die vielen winzigen Kratzspuren, die die Erdmännchen sonst auf der Rinde hinterließen. Ich erriet schnell, warum das so war: Die Erdmännchen mussten hier nicht hinauf- oder hinunterklettern, wenn sie von einem Baum zum anderen gelangen wollten. Den Beweis lieferten zahlreiche Bäume am äußeren Rand des dichten Waldes, deren Rinde in Fetzen herabhing. Diese Bäume dienten also als Eingangstore zu einer Baumstadt der Erdmännchen, in der es hektischer zuging als in Kalkutta.

Und dort fand ich den Baum. Es war weder der größte im Wald noch lag er genau in der Mitte, und er war auch sonst nicht bemerkenswert. Er hatte gute, waagerechte Äste, mehr nicht. Ein idealer Baum für jemanden, der den Himmel ansehen oder das nächtliche Treiben der Erdmännchen beobachten wollte.

Ich weiß noch genau, an welchem Tag ich diesen Baum entdeckte: es war der Tag, bevor ich die Insel verließ.

Der Baum fiel mir auf, weil er anscheinend Früchte trug. Wo ansonsten das Blätterdach gleichförmig grün war, hoben sich diese Früchte schwarz ab. Die Zweige, an denen sie hingen, waren in seltsamen Formen gewunden. Ich sah mich genauer um. Eine ganze Insel voller Bäume, die keine Frucht trugen - bis auf diesen einen. Und auch dieser nicht einmal ganz. Die Früchte konzentrierten sich auf eine einzige Stelle des Baums. Vielleicht war er unter den Bäumen eine Art Bienenkönigin; ich fragte mich, welche Überraschungen die eigentümliche Biologie dieser Algen wohl noch für mich bereit halten mochte.

Ich hätte gern eine Frucht probiert, aber sie hingen zu weit oben. Ich ging ein Seil holen. Wenn die Algen schon so gut schmeckten, wie würden dann erst ihre Früchte sein?

Ich schlang das Seil um den untersten Ast und zog mich hinauf, und von da drang ich Ast um Ast, Zweig um Zweig zu dem kleinen geheimnisvollen Obstgarten vor.

Von nahem betrachtet, waren die Früchte dunkelgrün. In Form und Größe ähnelten sie Orangen. Jede war von einem Geflecht von Zweigen umgeben, die bis ganz an sie heranreichten - als Schutz, nahm ich an. Als ich näher kam, sah ich, dass diese Zweige die Frucht auch hielten. Sie hing nicht an einem einzelnen Stiel, sondern an Dutzenden. Die Oberfläche war übersät mit Stängeln, die sie mit den umgebenden Zweigen verbanden. Früchte, die so viel Verankerung brauchten, waren mit Sicherheit schwer und saftig. Ich kam oben an.

Ich fasste eine Frucht und wog sie in der Hand. Ich war enttäuscht, wie leicht sie war. Sie wog so gut wie nichts. Ich zog daran und pflückte sie von all ihren Stängeln.

Ich machte es mir auf einem kräftigen Ast bequem, den Rücken an den Baumstamm gelehnt, über mir ein grünes Blätterdach, das sich im Winde wiegte und einzelne Sonnenstrahlen einließ. Rundum erstreckten sich, so weit das Auge reichte, die vielfach gewundenen Straßen der großen Baumstadt. Ein angenehmes Lüftchen wehte. Gespannt wandte ich mich der Frucht zu und untersuchte sie.

Ach, hätte es doch diesen Augenblick nie gegeben! Ohne ihn hätte ich noch jahrelang - ja, für den Rest meines Lebens - auf dieser Insel bleiben können. Nie hätte ich gedacht, dass etwas mich zurück aufs Rettungsboot treiben würde, zu dem Leid und der Entbehrung, die ich darauf erlebt hatte - nichts auf der Welt! Was sollte ich denn für einen Grund haben, die Insel zu verlassen? War nicht für all meine körperlichen Bedürfnisse gesorgt? Gab es nicht mehr Süßwasser als ich in meinem ganzen Leben trinken konnte? Mehr Algen als ich essen konnte? Und hatte ich nicht, wenn mir nach Abwechslung war, Erdmännchen und Fisch, so viel das Herz begehrte? Wenn es eine schwimmende Insel war, schwamm sie dann nicht womöglich sogar in meine Richtung? Brachte mich nicht vielleicht am Ende mein grünes Schiff sogar an Land? Und hatte ich nicht die sympathischen Erdmännchen, die mir bis dahin Gesellschaft leisteten? Hatte ich nicht Richard Parker, der noch viel üben musste, bis er den vierten Sprung beherrschte? Nicht ein einziges Mal seit meiner Ankunft war ich auf den Gedanken gekommen, dass ich wieder abfahren sollte. Ich war nun schon seit vielen Wochen dort - seit wie vielen hätte ich nicht sagen können -, und es würde immer so weitergehen. Das stand fest.

Wie sehr sollte ich mich täuschen.

Wenn in dieser Frucht ein Samenkorn war, dann war es der Same meiner neuerlichen Seefahrt.

Die Frucht war gar keine Frucht. Sie war eine dicke Kugel aus dicht gepackten Blättern. Jeder unter den Dutzenden von Stängeln war ein Blattstängel. Und mit jedem, den ich zog, löste sich ein Blatt.

Nach ein paar Schichten kam ich an Blätter, die ihre Stiele verloren hatten und die flach aneinander zur Kugel verklebt waren. Ich fasste sie mit den Fingernägeln und zog sie ab. Schicht um Schicht löste ich, wie die Häute einer Zwiebel. Ich hätte die »Frucht« auch einfach auseinanderrupfen können - ich sage weiterhin Frucht, weil ich nicht weiß, wie ich sie sonst nennen sollte -, aber gar zu sehr wollte ich meiner Neugier doch nicht nachgeben.

Von der Apfelsinen- schrumpfte sie zur Mandarinengröße. Mein Schoß und die Zweige unter mir waren mit den dünnen, weichen Blattschichten bedeckt.

Jetzt war sie nur noch so groß wie eine Pflaume.

Noch heute läuft es mir kalt den Rücken hinunter, wenn ich daran denke.

So groß wie eine Kirsche.

Und dann kam sie ans Licht, die unaussprechliche Perle im Herzen dieser grünen Auster.

Der Zahn eines Menschen.

Ein Backenzahn, um genau zu sein. Die Oberfläche grün gefärbt und fein durchlöchert.

Das Entsetzen stellte sich erst nach und nach ein. Es blieb Zeit genug, weitere Früchte zu pflücken.

In jeder einzelnen davon war ein Zahn.

Der eine ein Eckzahn.

Der nächste ein Vorderzahn.

Hier ein Schneidezahn.

Dort ein weiterer Backenzahn.

Zweiunddreißig Zähne. Das komplette Gebiss eines Menschen. Nicht ein einziger fehlte.

Allmählich dämmerte es mir.

Aufgeschrien habe ich nicht. Ich glaube, Schreckensschreie gibt es nur in Filmen. Mich überlief nur ein Schaudern, und dann machte ich mich an den Abstieg.

Es folgte ein Tag voller Qualen, an dem ich die Möglichkeiten abwog, die ich hatte. Sie waren allesamt schlecht.

In der Nacht, als ich wieder in meiner Matte im gewohnten Baum lag, prüfte ich, ob meine Schlussfolgerung stimmte. Ich griff mir ein Erdmännchen und ließ es in die Tiefe fallen.

Quiekend ging es zu Boden. Unten angekommen, lief es sofort wieder zum Baum.

Mit typischer Treuherzigkeit kehrte es an seinen Platz neben mir zurück. Dort leckte es eifrig an seinen Pfoten. Es schien in Panik. Es keuchte heftig.

Das hätte als Beweis genügt. Aber ich wollte es selbst erfahren. Ich kletterte nach unten und ließ mich am Seil herab. Ich hatte es mit Knoten versehen, damit das Klettern leichter wurde. Als ich ans untere Ende kam, hielt ich inne, die Füße ein paar Zentimeter über dem Boden. Ich zögerte.

Dann ließ ich los.

Anfangs spürte ich nichts. Plötzlich durchzuckte ein brennender Schmerz meine Füße. Ich schrie auf. Beinahe wäre ich gestürzt. Es gelang mir, das Seil zu packen und mich daran hochzuziehen, bis ich den Boden nicht mehr berührte. Wie von Sinnen rieb ich die Fußsohlen an dem Baumstamm. Es half, aber es war nicht genug. Ich kletterte zurück auf meinen Ast. Ich tauchte meine Füße in den Eimer mit Wasser neben meinem Bett. Ich rieb meine Füße mit Blättern ab. Ich nahm das Messer, tötete zwei Erdmännchen und versuchte, den Schmerz mit ihrem Blut und ihren Innereien zu lindern. Aber meine Füße brannten noch immer. Sie brannten die ganze Nacht. Das Brennen und die Angst raubten mir den Schlaf.

Es war eine Fleisch fressende Insel. Deswegen waren die Fische aus dem Teich verschwunden. Die Insel lockte Meeresfische in ihre unterirdischen Gänge - wie, weiß ich nicht; vielleicht stürzten die Fische sich ebenso gierig auf die Algen wie ich. Sie gerieten in die Falle. Verirrten sie sich? Schlossen sich irgendwann die Zugänge zum Meer? Veränderte sich der Salzgehalt des Wassers so allmählich, dass die Fische es erst bemerkten, wenn es zu spät war? Wie auch immer - sie waren gefangen im Süßwasser und starben. Einige gelangten nach oben an die Oberfläche der Teiche; das waren die Reste, von denen sich die Erdmännchen ernährten. In der Nacht stieg der Säurespiegel der räuberischen Algen durch eine mir unbekannte chemische Reaktion, die offenbar tagsüber durch das Sonnenlicht unterbunden wurde, gewaltig an, und die Teiche verwandelten sich in Säuregruben, die die Fische verdauten. Deswegen kehrte Richard Parker jeden Abend auf das Rettungsboot zurück. Deswegen schliefen die Erdmännchen auf den Bäumen. Deswegen hatte ich auf der Insel nie etwas anderes als Algen gesehen.

Und das war auch die Erklärung für die Zähne. Schon einmal war eine arme Seele an diesen schrecklichen Ufern gestrandet. Wie viel Zeit hatte er - oder war es eine Sie - hier verbracht? Wochen? Monate? Jahre? Wie viele verzweifelte Stunden in der Baumstadt mit niemandem außer den Erdmännchen zur Gesellschaft? Wie viele Träume von einem glücklichen Leben waren hier gescheitert? Wie viele Hoffnungen zunichte geworden? Wie viele Worte waren ungesagt geblieben? Wie viel Einsamkeit hatte dieser Mensch ertragen? Wie viel Mutlosigkeit hatte er getrotzt? Und was war von all dem am Ende geblieben?

Nichts als ein bisschen Zahnschmelz, wie Kleingeld in der Hosentasche. Mein Vorgänger musste auf dem Baum gestorben sein. War es eine Krankheit? Eine Verletzung? Depression? Wie lange braucht ein gebrochener Wille, um einen Körper zu töten, der Nahrung und Wasser und Unterschlupf hat? Die Bäume bestanden aus demselben Fleisch fressenden Stoff, doch ihr Säuregehalt war weit niedriger, ein sicherer Zufluchtsort für die Nacht, wenn der Rest der Insel brodelte. Aber als die Person erst einmal tot war und sich nicht mehr bewegte, musste der Baum den Körper langsam umschlungen und verdaut haben, den Knochen so lange die Nährstoffe entzogen, bis nichts mehr von ihnen übrig war. Im Laufe der Zeit wären auch die Zähne noch verschwunden.

Ich sah mich um und betrachtete die Algen. Bitterkeit erfüllte mein Herz. Statt der leuchtenden Verheißung des Tages sah ich jetzt nur den nächtlichen Verrat.

»Zähne«, murmelte ich. »Nichts weiter als ZÄHNE!«

Bei Tagesanbruch stand mein Entschluss fest. Lieber wollte ich in See stechen und auf der Suche nach Meinesgleichen untergehen als auf dieser mörderischen Insel ein einsames Halbleben führen, bei dem es dem Körper gutging, obwohl die Seele längst tot war. Ich füllte sämtliche Vorratsbehälter mir frischem Wasser und trank wie ein Kamel. Ich stopfte mich den ganzen Tag über mit Algen voll, bis mein Magen nichts mehr aufnehmen konnte. Ich tötete und häutete so viele Erdmännchen, wie ich im Stauraum und am Boden des Rettungsboots unterbringen konnte. Ich sammelte tote Fische aus den Teichen. Mit dem Beil hackte ich ein großes Bündel Algen ab und band es mit einem Seil am Boot fest.

Ich konnte Richard Parker nicht im Stich lassen. Wenn ich ihn zurückließ, war sein Schicksal besiegelt. Er würde die erste Nacht nicht überleben. Wenn ich bei Sonnenuntergang allein in meinem Rettungsboot säße, würde ich wissen, dass er bei lebendigem Leibe verbrannte. Oder dass er sich ins Meer gestürzt hatte, wo er ertrinken würde. Ich wartete auf seine Rückkehr. Ich wusste, er würde sich nicht verspäten.

Als er an Bord war, stieß ich ab. Ein paar Stunden lang hielt die Strömung uns in der Nähe der Insel. Die Geräusche des Ozeans beunruhigten mich. Und ich war nicht mehr an das Schaukeln des Bootes gewöhnt. Die Nacht verging sehr langsam.

Am Morgen war die Insel verschwunden, genau wie die Algen, die wir im Schlepp gehabt hatten. Als die Nacht kam, hatten sie mit ihrer Säure das Seil aufgelöst.

Die See war schwer und der Himmel grau.

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