Kapitel 5

Die Geschichte mit meinem Namen ist noch nicht zu Ende. Wenn jemand Bob heißt, dann fragt keiner: »Wie schreibt sich das?« Bei Piscine Molitor Patel ist das anders.

Manche glaubten, der Vorname heiße P. Singh; sie schlossen daraus, dass ich Sikh bin und fragten, wo mein Turban sei.

In Studientagen bin ich einmal mit Freunden nach Montreal gefahren. Abends wurde Pizza bestellt, und einmal war ich damit an der Reihe. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass wieder einer von den Frankokanadiern losprustete, wenn ich meinen Namen sagte, und als der Mann vom Pizzaservice am Telefon fragte: »Ihren Nam' bitte?«, antwortete ich auf Englisch: »I am who I am«, ich bin, wer ich bin. Eine halbe Stunde darauf kamen zwei Pizzas, adressiert an »Ian Hoolihan«.

Eine Weisheit sagt, dass Menschen, denen wir begegnen, uns verändern, und manchmal verändern sie uns so sehr, dass wir danach nicht mehr dieselben sind, ja nicht einmal mehr denselben Namen haben. Denken Sie an Simon, der zum Petrus wird, Matthäus, der einmal Levi hieß, Nathaniel, der sich zum Bartholomäus wandelte, Judas -nicht Ischariot —, der den Namen Thaddäus annahm; Simeon hatte einmal Niger geheißen, und Saulus wurde zum Paulus.

Mein römischer Soldat stand eines Morgens, als ich zwölf Jahre alt war, auf dem Schulhof. Ich war eben eingetroffen, und ein Geistesblitz des Bösen fuhr ihm durch seinen dumpfen Verstand. Er hob den Arm, zeigte mit dem Finger auf mich und brüllte: »He, da ist Pisser Patel!«

Im nächsten Augenblick lachten alle. Es verebbte, als wir zum Unterrichtsbeginn Aufstellung nahmen. Ich trat als Letzter in die Klasse, auf dem Haupt meine Dornenkrone.

Jeder weiß, wie grausam Kinder sind. Immer wieder drangen unerwartet, unvorbereitet die Worte über den Schulhof zu mir: »Ich muss mal. Wo ist denn hier für Pisser?« Oder: »Du stehst ja da an der Wand wie 'n Pisser.« Oder sonst etwas in dieser Art. Ich stand da wie erstarrt oder machte im Gegenteil umso beflissener mit dem weiter, womit ich gerade beschäftigt war, und tat, als hätte ich nichts gehört. Der Klang verschwand, aber der Schmerz blieb, so wie es weiter nach Pisse riecht, wenn sie schon längst getrocknet ist.

Selbst die Lehrer machten mit. Es muss die Hitze gewesen sein. Als der Tag voranschritt, weitete sich die Erdkundestunde, die am Morgen kompakt wie eine Oase begonnen hatte, zur Wüste Thar; die Geschichtsstunde, so lebendig, als der Tag noch jung war, trocknete ein; die Mathematikstunde, die so präzise ihren Anfang nahm, verlief im Sande. In der Erschöpfung des Nachmittags, als sie sich Stirn und Nacken mit ihren Taschentüchern wischten, vergaßen selbst die Lehrer, die mir nichts Böses, nicht einmal einen Lacher ernten wollten, das Versprechen des kühlen Nass, das mein Name war, und sprachen ihn aus schierer Trägheit auf seine beleidigende Weise aus. Es waren kaum wahrnehmbare Veränderungen der Laute, aber ich hörte sie doch. Ihre Zungen waren wie antike Wagenlenker, denen die Pferde durchgingen. Die erste Silbe, das Pi, bewältigten sie noch gut, aber dann wurde die Hitze zu groß, sie ließen den Rössern, die mit schäumendem Maul dahinstoben, die Zügel schießen, und es gelang ihnen nicht mehr, sie durch die zweite Silbe, das scine, zu steuern. Das Wort verlief sich, war kaum noch mehr als ein se, und schon war der Schaden angerichtet. Ich meldete mich, wollte eine Antwort geben, und wurde mit einem »Ja, Pisser?« drangenommen. Oft merkten die Lehrer überhaupt nicht, was sie da gerade gesagt hatten. Sie warteten, dann sahen sie mich fragend an, weil keine Antwort kam. Und manchmal war die ganze Klasse so niedergedrückt von der Hitze, dass keiner mehr reagierte. Kein Kichern, kein Lächeln. Aber ich hörte die Demütigung doch.

Mein letztes Jahr an der Sankt-Joseph-Schule verbrachte ich wie der verfolgte Prophet Mohammed in Mekka, Friede sei mit ihm. Doch so wie er seine Flucht nach Medina plante, die Hedschra, die zum Anfang der muslimischen Zeitrechnung werden sollte, so plante ich meinen Schulabgang als den Beginn einer neuen Ära.

Als ich die Joseph-Schule hinter mir hatte, ging ich aufs Petit Seminaire, die beste englischsprachige Privat-Oberschule in Pondicherry. Ravi war schon dort, und wie jeder jüngere Bruder hatte ich es schwer, als ich in die Fußstapfen des erfolgreichen älteren trat. Er war am Petit Seminaire der beste Sportler seiner Generation, ein perfekter Ball- und ein gefürchteter Schlagmann, Captain der besten Cricketmannschaft der Stadt, der Kapil Dev von Pondicherry. Dass ich schwimmen konnte, rührte keinen; es ist anscheinend ein Naturgesetz, dass Leute, die am Meer wohnen, nichts von Schwimmern halten, so wie Bergbewohner den Bergsteigern misstrauen. Aber nicht der Schatten, den mein großer Bruder warf, sollte mein Entkommen sein, auch wenn mir jeder Name lieber gewesen wäre als »Pisser«, sogar »Ravis Bruder«. Aber ich hatte einen besseren Plan.

Gleich am ersten Schultag setzte ich ihn in die Tat um, in der ersten Stunde. Ich saß zwischen anderen Schülern von Sankt Joseph in meiner Bank. Der Unterricht begann, wie stets der erste Schultag beginnt, mit dem Aufsagen der Namen. Jeder sagte seinen Namen, in der Reihenfolge, in der wir saßen.

»Ganapathy Kumar«, sagte Ganapathy Kumar.

»Vipin Nath«, sagte Vipin Nath.

»Shamshool Hudha«, sagte Shamshool Hudha.

»Peter Dharmaraj«, sagte Peter Dharmaraj.

Bei jedem Namen machte der Lehrer ein Häkchen auf seiner Liste und sah kurz auf, um sich das Gesicht einzuprägen. Ich war entsetzlich aufgeregt.

»Ajith Giadson«, sagte Ajith Giadson, vier Reihen weiter vorn ...

»Sampath Saroja«, sagte Sampath Saroja, drei Reihen ...

»Stanley Kumar«, sagte Stanley Kumar, zwei Reihen ...

»Sylvester Naveen«, sagte Sylvester Naveen, direkt vor mir.

Jetzt war ich dran. Zeit, Satan in seine Schranken zu weisen. Auf nach Medina.

Ich sprang auf und lief an die Tafel. Bevor der Lehrer etwas einwenden konnte, griff ich mir ein Stück Kreide und schrieb mit, was ich sagte:

Ich heiße


Piscine Molitor Patel,


besser bekannt als

— ich unterstrich doppelt die ersten beiden Buchstaben meines Vornamens —

Pi Patel

Und um es noch deutlicher zu machen, fügte ich hinzu:

π = 3,14

und zeichnete einen großen Kreis, den ich dann mit einem Strich durch die Mitte in zwei Hälften teilte, damit auch der Letzte begriff, auf welchen Grundsatz der Geometrie ich anspielte.

Alles schwieg. Der Lehrer starrte die Tafel an. Mir stockte der Atem. Dann sagte er: »Gut, Pi. Setzen. Aber das nächste Mal fragst du um Erlaubnis, bevor du deinen Platz verlässt.«

»Jawohl, Sir.«

Er machte sein Häkchen hinter meinen Namen. Und sah den nächsten Jungen an.

»Mansoor Ahamad«, sagte Mansoor Ahamad.

Ich war gerettet.

»Gautham Selvaraj«, sagte Gautham Selvaraj.

Ich konnte wieder atmen.

»Arun Annaji«, sagte Arun Annaji.

Ein neuer Anfang.

Ich wiederholte das Kunststück bei jedem Lehrer. Wiederholung ist wichtig, ob man nun Tiere trainiert oder Menschen. Eingerahmt von zwei Jungen mit ganz gewöhnlichen Namen, stürmte ich nach vorn und schrieb, bisweilen unter grässlichem Quietschen, den Namen meiner Neugeburt an die Wand. Es dauerte nicht lange, und die Jungs sprachen im Gleichklang mit, ein Crescendo, das, nachdem alle in dem Augenblick, in dem ich die richtige Note unterstrich, Luft geholt hatten, so triumphal in meinem neuen Namen gipfelte, dass es der Stolz jedes Chorleiters gewesen wäre. Ich schrieb, so schnell ich konnte, und ein paar Jungs feuerten mich mit einem »Drei! Komma! Eins! Vier!« an, und das Konzert endete mit meinem Strich durch den Kreis, den ich mit einer solchen Vehemenz zog, dass die Kreidestücke flogen.

Wenn ich an jenem Tag die Hand hob - und ich tat es bei jeder Gelegenheit -, dann erteilten die Lehrer mir das Wort mit einer einzigen Silbe, die Musik in meinen Ohren war. Die Schüler schlossen sich an, selbst die Teufel von Sankt Joseph. Der Name setzte sich durch. Wahrlich, wir sind eine Nation von Baumeistern: kurz danach benannte ein Junge namens Omprakash sich in Omega um, ein anderer nannte sich Ypsilon, und eine Zeit lang hatten wir auch Gamma, Lambda und Delta. Aber ich war der Erste und Dauerhafteste unter den Griechen vom Petit Seminaire. Selbst mein Bruder, der Captain der Cricketmannschaft, Liebling der Stadt, fand Gefallen daran. In der folgenden Woche nahm er mich beiseite.

»Ich höre, du hast einen neuen Spitznamen?«, fragte er.

Ich blieb still. Was immer er sich an Gemeinheit ausgedacht hatte, würde ich ertragen müssen. Es gab kein Entkommen.

»Wusste ja gar nicht, dass du so für die Farbe Gelb schwärmst.«

Gelb? Ich sah mich um. Keiner durfte hören, was jetzt kommen würde, schon gar nicht die Schläger. »Ravi, was meinst du damit?«, flüsterte ich.

»Oh, mir ist das egal, Bruderherz. Alles ist besser als ›Pisser‹. Sogar ›Pipi‹.«

Als er sich davonmachte, sagte er noch: »Du siehst ziemlich rot im Gesicht aus.«

Aber er behielt es für sich.

Und so fand ich in dem griechischen Buchstaben, der aussieht wie ein Schuppen mit einem Wellblechdach drauf, in jener rätselhaften, irrationalen Zahl, mit der die Wissenschaftler das Universum begreifen wollen, meine Zuflucht.

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