Kapitel 29

Warum ziehen Leute fort? Was bringt sie dazu, ihre Wurzeln auszureißen und alles Vertraute zurückzulassen, aufzubrechen zu einem großen Unbekannten jenseits des Horizonts? Warum den Mount Everest der Behörden besteigen und sich wie ein Bettler dabei fühlen? Warum in einen fremden Dschungel gehen, wo alles neu, anders und gefährlich ist?

Die Antwort ist überall die gleiche: Sie ziehen fort, weil sie auf ein besseres Leben hoffen.

Die mittleren 1970er waren schwierige Jahre in Indien. Das sah ich an den tiefen Furchen, die auf Vaters Stirn erschienen, wenn er die Zeitung las. Oder aus dem, was ich von den Gesprächen zwischen ihm und Mutter und Mamaji und anderen mitbekam. Nicht dass ich diesen Gesprächen nicht hätte folgen können - sie interessierten mich nur einfach nicht. Die Orang-Utans waren nach wie vor versessen auf Chapattis, den Affen war das Neueste aus Delhi immer noch egal, Nashörner und Ziegen lebten weiterhin in Eintracht miteinander, die Vögel zwitscherten, die Wolken brachten Regen, die Sonne schien, die Erde atmete, Gott war da - es war alles in Ordnung mit der Welt.

Schließlich hielt mein Vater MrsGandhi nicht mehr aus. Im Februar 1976 stürzte Delhi die Regierung von Tamil Nadu, die MrsGandhi mutiger als andere kritisiert hatte. Premierminister Karunanidhi »bat« um seine Entlassung, und was macht die Absetzung einer Lokalregierung schon für einen Unterschied, wenn ohnehin seit acht Monaten die Verfassung des ganzen Landes suspendiert ist? Aber für Vater hatte sich MrsGandhi damit nun vollends zum Diktator über ganz Indien aufgeschwungen. Keiner hatte den Kamelen im Zoo ein Haar gekrümmt, und doch brachte dieser Vorfall für Vater das Fass zum Überlaufen.

»Bald kommt sie zu uns und erzählt uns, ihre Gefängnisse sind voll«, brüllte er, »sie braucht mehr Platz. Können wir bitte Desai zu den Löwen stecken?«

Morarji Desai war ein Oppositionspolitiker. Nicht gerade ein Freund von MrsGandhi. Es quälte mich, wie die Sorgen an Vater nagten. Meinetwegen hätte MrsGandhi persönlich den Zoo in die Luft jagen können, wenn nur Vater wieder froh geworden wäre. Wenn er nur nicht so gelitten hätte. Es ist schlimm für einen Sohn, wenn er sieht, dass sein Vater krank vor Sorge ist.

Aber Sorgen machte er sich nun einmal. Kein Geschäft ohne Risiko, und je kleiner das Geschäft, desto mehr riskiert man das Hemd am Leibe. Ein Zoo ist eine Kulturinstitution. Wie eine öffentliche Bibliothek, wie ein Museum dient er der Volkserziehung und der Wissenschaft. Und ist gerade deswegen kein allzu profitables Unternehmen, denn Gemeinwohl und volle Kassen vertragen sich, sehr zum Kummer meines Vaters, nicht gut. Wir waren eben keine reiche Familie, jedenfalls bestimmt nicht nach kanadischen Maßstäben. Wir waren eine arme Familie, der durch Zufall eine Menge Tiere ins Haus gekommen war, und zwar in ein Haus, das ihr nicht gehörte. Das Leben eines Zoos hängt genauso am seidenen Faden wie das Leben der Tiere in der Wildnis. Er ist kein so großer Betrieb, dass er auf das Gesetz nicht angewiesen wäre, aber auch kein so kleiner, dass er sich durchmogeln könnte. Damit ein Zoo wächst und gedeiht, braucht er eine demokratische Regierung, freie Wahlen, Redefreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und alles, was sonst noch in der indischen Verfassung festgeschrieben ist. Ohne das kann keiner einen Zoobesuch genießen. Schlechte Politik, noch dazu wenn sie auf unabsehbare Zeit schlecht bleiben wird, ist schlecht fürs Geschäft.

Leute ziehen fort, weil sie die Unsicherheit nicht mehr aushalten. Weil das Gefühl sie zermürbt, dass sie sich noch so abmühen können und trotzdem nichts erreichen werden, dass das, was sie in einem Jahr aufbauen, andere in einem Tag wieder einreißen werden. Weil sie nicht mehr an die Zukunft glauben, nicht für sich und schon gar nicht für ihre Kinder. Weil sie zu dem Schluss gekommen sind, dass sich nie etwas ändern wird und dass Glück und Wohlstand nur anderswo zu finden sind.

Das Neue Indien in Vaters Kopf wurde brüchig, und schließlich fiel es ganz auseinander. Mutter willigte ein. Wir würden uns davonmachen.

Die Ankündigung kam beim Abendessen. Kanada! Andhra Pradesh, unser Nachbar im Norden, wäre schon Ausland gewesen, Sri Lanka, ein Katzensprung übers Meer, die Rückseite des Mondes. Da kann man sich ausmalen, wie uns Kanada vorkam. Kanada war schlicht und einfach unvorstellbar. Es war wie Timbuktu, ein Name, der nichts anderes bedeutete als unendlich weit fort.

Загрузка...