Kapitel 83

Ganz allmählich zog eines Nachmittags der Sturm auf. Die Wolken sahen aus, als stolperten sie ängstlich vor dem Wind her. Das Meer verstand den Wink und wusste, was es zu tun hatte. Ein Auf und Ab begann, das mir Angst und Bange machte. Ich holte die Destillieranlagen und das Netz an Bord. Was für eine Landschaft dort draußen! Was ich bis dahin gekannt hatte, waren allenfalls Hügel aus Wasser gewesen. Jetzt türmten sich ganze Gebirge aus Wellen, mit Tälern dazwischen, finster und tief. Die Abhänge waren so steil, dass das Rettungsboot ins Rutschen geriet, fast wie ein Surfbrett. Das Floß hatte besonders schwer zu kämpfen; es wurde aus dem Wasser gerissen und wild hin- und hergeschleudert. Ich warf beide Treibanker aus, unterschiedlich weit, damit sie sich nicht in die Quere gerieten.

Wenn das Boot einen riesigen Wellenberg erklomm, hing es an den Treibankern wie ein Bergsteiger an seinem Seil. Wir schossen aufwärts, bis wir mitten in einer Explosion von Licht und Schaum den schneeweißen Gipfel erreichten und das Boot nach vorn kippte. In solchen Augenblicken konnte man meilenweit sehen. Doch der Berg war in Bewegung, und der Boden unter unseren Füßen sauste so schnell in die Tiefe, dass unsere Mägen rebellierten. Ehe wir uns versahen, waren wir wieder am Grund eines finsteren Tals, anders als das vorherige und dennoch gleich. Über uns türmten sich gewaltige Wassermassen, und nur die Tatsache, dass wir so leicht waren, konnte uns retten. Dann geriet das Land erneut in Bewegung, die Ankertaue waren zum Zerreißen gespannt, und es begann eine neue Achterbahnfahrt.

Die Treibanker taten ihre Arbeit sehr gut - fast zu gut, könnte man sagen. Jeder Wellenkamm wollte uns mit auf die Reise nehmen, doch die Anker hielten uns zurück - mit dem Erfolg, dass das Boot vorn heruntergezogen wurde und der Bug durch eine Wolke von Schaum und Gischt tauchte. Ich war jedes Mal völlig durchnässt.

Schließlich kam eine Welle, die uns noch stürmischer als die anderen davontragen wollte. Diesmal tauchte der Bug unter die Wasseroberfläche. Ich war wie gelähmt und außer mir vor Angst. Ich konnte mich kaum festhalten. Das Boot stand unter Wasser. Ich hörte Richard Parker brüllen. Wir schwebten in Todesgefahr, das spürte ich. Mir blieb nur die Wahl, ob die See mich verschlang oder ein Tier. Ich wählte das Tier.

Auf dem Weg nach unten sprang ich auf die Plane und rollte sie zum Heck hin aus, sodass Richard Parker darunter eingeschlossen war. Mag sein, dass er protestierte, aber ich hörte ihn nicht. Schneller als eine Nähmaschine ein Stück Stoff verarbeitet, hakte ich die Plane auf beiden Seiten des Bootes fest. Es ging wieder aufwärts. Das Boot schoss unaufhaltsam nach oben. Ich konnte nur schwer das Gleichgewicht halten. Das Rettungsboot war jetzt verschlossen und die Plane ringsum befestigt, außer an meinem Ende. Ich zwängte mich zwischen die Seitenbank und die Plane und zog sie so gut es ging über meinen Kopf. Ich hatte nur sehr wenig Platz. Der Abstand zwischen Bank und Bootsrand maß nur etwa dreißig Zentimeter, und die Seitenbänke waren keinen halben Meter breit. Aber selbst im Angesicht des Todes war ich nicht so leichtsinnig, dass ich hinunter ins Boot gestiegen wäre. Vier Haken waren noch zu befestigen. Ich schob eine Hand durch die Öffnung und versuchte mein Glück mit der Leine. Je mehr Haken geschlossen waren, desto schwieriger wurde es. Ich schaffte immerhin zwei. Blieben noch zwei. Das Boot bewegte sich gleichmäßig und unaufhaltsam aufwärts, mit einer Neigung von gut dreißig Grad. Ich spürte, wie die Schwerkraft mich hinunter zum Heck zog. Ich reckte die Hand in einer verzweifelten Anstrengung und führte das Seil durch einen weiteren Haken. Aber mehr war nicht möglich. Es war einfach nicht vorgesehen, dass man die Plane vom Inneren des Boots aus befestigte. Ich zog das Seil straff, was mir nicht schwer fiel, denn ich musste mich ohnehin daran festhalten, wenn ich nicht durch das ganze Boot rutschen wollte. Nicht lange, und die Fünfundvierzig-Grad-Marke war erreicht.

Es müssen sechzig Grad gewesen sein, als wir hoch oben den Wellenkamm durchbrachen. Nur ein winziger Bruchteil der Wassermassen stürzte auf uns ein. Dennoch war mir, als träfe mich ein gewaltiger Fausthieb. Das Rettungsboot kippte unvermittelt nach vorn, und nun verkehrte sich alles ins Gegenteil: Jetzt befand ich mich am unteren Ende des Rettungsboots, und das Wasser, das eingedrungen war, schwappte nun, mit einem nassen Tiger darin, in meine Richtung. Ich spürte nichts von dem Tiger - ich konnte nur ahnen, wo Richard Parker war; es war stockdunkel unter der Plane -, doch bevor wir das nächste Wellental erreichten, war ich halb ertrunken.

Den ganzen restlichen Tag über und noch bis weit in die Nacht hinein ging es unablässig auf und ab, auf und ab, auf und ab, bis der Schrecken zur Routine wurde und einer dumpfen Betäubung und schließlich der Teilnahmslosigkeit wich. Mit einer Hand hielt ich das Befestigungsseil der Plane umklammert, mit der anderen die Kante der vorderen Bank, den Körper auf die Seitenbank gedrückt. In dieser Lage - bald im Wasser und bald wieder draußen - war ich wehrlos dem Schlagen der Plane ausgesetzt; ich war nass und kalt, und ich hatte Prellungen und Schürfwunden von Knochen und Schildkrötenpanzern, die durchs Boot geschleudert kamen. Unablässig toste der Sturm, und unablässig fauchte Richard Parker.

Irgendwann in der Nacht merkte ich plötzlich, dass der Sturm vorüber war. Das Boot tanzte wieder wie immer auf den Wellen. Durch einen Riss in der Plane sah ich den Nachthimmel. Sternenklar und wolkenlos. Ich löste die Plane und legte mich oben darauf.

Bei Tagesanbruch sah ich, dass das Floß nicht mehr da war. Alles was übrig geblieben war, waren zwei aneinander gebundene Ruder und die Schwimmweste dazwischen. So musste jemandem zumute sein, der vor dem letzten aufrechten Balken seines heruntergebrannten Hauses steht. Ich blickte mich um und musterte den Horizont. Nichts. Meine kleine schwimmende Stadt war verschwunden. Dass die Treibanker, so unglaublich das war, nicht verloren waren - sie zerrten noch immer brav am Boot -, war ein geringer Trost. Für den Körper mochte der Verlust des Floßes nicht tödlich sein, doch für die Moral schon.

Das Boot war in schlimmem Zustand. Die Plane war an mehreren Stellen eingerissen; einige Risse waren offensichtlich von Richard Parkers Krallen verursacht. Ein großer Teil unserer Nahrungsvorräte war verloren, entweder über Bord gegangen oder vom eindringenden Wasser zerstört. Mir tat alles weh, und am Oberschenkel hatte ich eine böse Wunde; die Wunde war geschwollen und weiß. Ich wagte kaum, den Inhalt des Stauraums zu mustern. Gott sei Dank war keiner der Wassersäcke geplatzt. Das Netz und die Destilliervorrichtungen, die ich nicht vollständig zerlegt hatte, hatten den Hohlraum ausgefüllt und verhindert, dass sich die Säcke zu sehr bewegten.

Ich fühlte mich erschöpft und niedergeschlagen. Ich löste die Plane im Heck. Richard Parker lag so reglos da, dass ich zuerst dachte, er sei ertrunken. Aber er lebte. Als ich die Plane zur Mitte der Bank zurückrollte und das Tageslicht ins Bootsinnere drang, rührte er sich und knurrte. Er kletterte aus dem Wasser und setzte sich auf die hintere Bank. Ich holte Nadel und Faden und begann, die Risse in der Plane zu flicken.

Später band ich einen der Eimer an ein Seil und schöpfte das Boot aus. Richard Parker beobachtete mich ohne großes Interesse. Anscheinend fand er meine Arbeiten langweilig. Es war ein heißer Tag, und ich kam nur langsam voran. In einem Eimer fand ich etwas, das ich verloren glaubte. Ich betrachtete es. In meiner Hand lag alles, was jetzt noch zwischen mir und dem Tod stand: die letzte der orangefarbenen Trillerpfeifen.

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