Kapitel 94

Als wir Land erreichten, Mexiko, um genau zu sein, war ich so schwach, dass ich kaum noch die Kraft hatte, mich darüber zu freuen. Die Landung war sehr mühsam. Fast wäre das Rettungsboot noch in der Brandung gekentert. Ich warf die Treibanker aus - was noch von ihnen übrig war -, in ganzer Breite, damit wir im rechten Winkel zu den Wellen blieben, und zog sie sogleich ein, wenn ein Wellenkamm uns erfasste. Auf diese Weise, durch Auswerfen und Einholen der Anker, ritten wir auf den Wellen ans Land. Es war gefährlich. Aber einmal erwischten wir eine Welle in genau dem richtigen Augenblick, und sie nahm uns ein großes Stück mit, über die hohen und dann in sich zusammenstürzenden Wasserwände hinaus. Ein letztes Mal holte ich die Anker ein, und das letzte Stückchen Wegs trieb die Strömung uns an Land. Mit einem Knirschen kam das Boot im Sand zum Stehen.

Ich hangelte mich an der Bootswand herunter. Ich traute mich nicht loszulassen, fürchtete mich, dass ich so kurz vor der Rettung im halbmeterhohen Wasser ertrinken würde. Ich blickte hinüber zum Ufer, um zu sehen, wie weit es noch war. Dieser Blick bescherte mir zugleich eins meiner letzten Bilder von Richard Parker, denn in just diesem Moment sprang er über mich hinweg. Ich sah seinen Körper, so voller Leben, lang ausgestreckt in der Luft über mir, ein flüchtiger, pelziger Regenbogen. Er landete im Wasser, die Hinterbeine gespreizt, den Schwanz in die Höhe gereckt, und von da war er mit einigen wenigen Sätzen am Strand. Er lief zunächst nach links, und seine Pranken hinterließen Abdrücke im feuchten Sand, dann überlegte er es sich anders und machte kehrt. Auf seinem Weg nach rechts kam er direkt vor mir vorbei. Er beachtete mich gar nicht. Etwa dreißig Meter lief er am Ufer entlang, dann wandte er sich inlands. Er lief unter Mühen, stolperte über seine eigenen Beine. Mehrere Male stürzte er. Als er den Dschungel erreichte, blieb er stehen. Ich war mir sicher, dass er sich nun zu mir umdrehen würde. Er würde mich ansehen. Er würde die Ohren anlegen. Er würde knurren. Etwas in dieser Art würde er tun, zum Abschluss der Zeit, die wir miteinander verbracht hatten. Aber er dachte gar nicht daran. Sein Blick war starr auf den Dschungel gerichtet. Und dann verschwand Richard Parker, der Gefährte meiner langen Reise, der mächtige, angsteinflößende Tiger, der mich gerettet hatte, mit einem kleinen Sprung für immer aus meinem Leben.

Ich stolperte an Land und sank auf dem Sand zusammen. Ich sah mich um. Nun war ich wirklich allein, verlassen nicht nur von meiner Familie, sondern auch von Richard Parker, und beinahe auch von Gott. Nur dass Er mich nie verlassen würde. Dieser Strand, so weich, so klar, so unendlich, war wie die Wange Gottes, und irgendwo waren zwei Augen, die vor Freude funkelten, ein Mund, der lächelte, weil ich angekommen war.

Stunden vergingen, doch dann fand mich ein Vertreter meiner eigenen Art. Er lief davon und kehrte mit mehreren zurück. Sechs oder sieben waren es. Als sie sich näherten, hielten sie sich Nasen und Münder zu. Ich fragte mich, was ihnen fehlte. Sie redeten in einer Sprache mit mir, die ich noch nie gehört hatte. Sie zogen das Rettungsboot auf den Sand. Sie trugen mich mit sich fort. Das eine Stück Schildkrötenfleisch, das ich von Bord mitgebracht hatte, wanden sie mir aus den Fingern und warfen es fort.

Ich weinte wie ein Kind. Nicht weil ich überwältigt von dem Gedanken war, dass ich meine Leiden überstanden hatte. Obwohl ich auch das war. Auch nicht, weil ich wieder meine Brüder und Schwestern um mich hatte, obwohl mich das sehr rührte. Ich weinte, weil Richard Parker mich ohne einen Abschiedsgruß verlassen hatte. Es ist entsetzlich, wenn man sich nicht anständig verabschieden kann. Ich bin ein Mensch, der an Formen glaubt, an die Harmonie des geordneten Lebens. Wo immer wir können, müssen wir den Dingen eine Gestalt geben, denn Gestalt bedeutet Sinn. Ob es wohl zum Beispiel möglich wäre, meine konfuse Geschichte in genau einhundert Kapiteln zu erzählen, keins mehr und keins weniger? Das ist - nebenbei bemerkt - etwas, das ich an meinem Spitznamen hasse, die Art wie diese Zahl weiter und immer weiter ins Unendliche läuft. Es ist wichtig im Leben, dass etwas anständig zu Ende gebracht wird. Nur dann kann man es loslassen. Sonst bleibt man mit Worten zurück, die man hätte sagen sollen, aber nie herausbekam, und das Herz ist schwer vor Unglück darüber. Dass uns dieser Abschied misslang, quält mich bis zum heutigen Tag. Ich wünsche mir so sehr, dass ich noch einen letzten Blick auf ihn hätte werfen können, wie er im Rettungsboot saß, dass ich ihn noch ein klein wenig geärgert hätte, damit er mich nicht vergaß. Ich wünschte, ich hätte damals zu ihm gesagt - ja, ich weiß, dass er ein Tiger ist, aber trotzdem -, ich wünschte, ich hätte gesagt: »Richard Parker, unsere Reise ist zu Ende. Wir haben überlebt. Kannst du das glauben? Ich bin dir mehr Dank schuldig, als ich je in Worte fassen könnte. Ohne dich wäre ich jetzt nicht hier. Deshalb sage ich in aller Form: Richard Parker, ich danke dir. Ich danke dir, dass du mir das Leben gerettet hast. Und nun geh, wohin du gehen musst. Fast dein ganzes Leben hast du im freien Gefängnis des Zoos zugebracht; nun wirst du in der Freiheit des Dschungels gefangen sein. Ich wünsche dir alles Gute. Nimm dich in Acht vor den Menschen. Sie sind nicht deine Freunde. Aber ich hoffe, mich wirst du als Freund im Gedächtnis behalten. Ich werde dich nie vergessen, das steht fest. Du wirst für alle Zeiten bei mir bleiben, in meinem Herzen. Hörst du das Knirschen? Unser Boot kommt an Land. Dann lebe wohl, Richard Parker, lebe wohl. Und Gott sei mit dir.«

Die Leute, die mich fanden, nahmen mich mit in ihr Dorf, und ein paar Frauen steckten mich in eine Badewanne und schrubbten mich dermaßen ab, dass ich mich schon fragte, ob sie vielleicht nicht verstanden, dass ich von Natur aus braunhäutig war und nicht ein so schmutziger weißer Junge. Ich versuchte es ihnen zu erklären. Sie nickten und lächelten und schrubbten mich weiter wie das Deck eines Schiffs. Ich fürchtete schon fast, sie würden mir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen. Aber sie gaben mir zu essen. Wunderbare Sachen. Als ich erst einmal angefangen hatte zu essen, konnte ich nicht mehr aufhören. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass dieser Hunger je gestillt würde.

Am nächsten Tag kam ein Polizeiwagen und brachte mich zu einem Krankenhaus, und dort geht meine Geschichte zu Ende.

Die Großzügigkeit meiner Retter überwältigte mich. Bettelarme Menschen gaben mir Kleider und Nahrung. Ärzte und Krankenschwestern versorgten mich wie ein frühgeborenes Kind. Staatsbeamte in Mexiko und Kanada öffneten mir sämtliche Türen, und vom Strand in Mexiko zum Haus meiner Pflegemutter zu den Lehrsälen der Universität von Toronto war alles nur ein einziger großer Spaziergang. All diesen Menschen möchte ich von Herzen danken.

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