Kapitel 80

Unter all den Doraden, die ich fing, ist mir eine ganz besonders im Gedächtnis geblieben. Es war frühmorgens an einem bewölkten Tag, und wieder einmal suchte uns ein Schwarm Fliegender Fische heim. Richard Parker schlug danach wie ein Boxer. Ich hatte mich hinter einem Schildkrötenpanzer verschanzt und hielt einen Fischhaken mit einem Stück Netz in die Höhe, in der Hoffnung, dass Fliegende Fische sich darin verfingen. Aber der Erfolg war mä-ßig. Ein Fliegender Fisch zischte vorbei. Die Dorade, die ihn verfolgte, sprang aus dem Wasser. Aber sie hatte sich verschätzt. Der Fisch segelte vorüber, knapp über mein Netz hinweg, und die Dorade schlug gegen die Bootswand wie eine Kanonenkugel. Das ganze Boot bebte von dem Aufprall. Blut spritzte auf die Plane. Ich reagierte sofort. Ich tauchte unter dem Hagel Fliegender Fische hindurch und packte die Dorade, als schon ein Hai von unten heraufkam. Ich zog sie an Bord. Sie war tot, oder doch so gut wie, und durchlief eben alle Farben des Regenbogens. Was für ein Fang! Was für ein Fang!, jubilierte es in meinem Kopf. Dank sei dir, Jesus-Matsya. Es war ein Prachtexemplar, fett und fleischig. Sie wog gut und gern ihre vierzig Pfund. Davon konnte eine ganze Horde satt werden. Augen und Rückgrat brächten eine Wüste zum Blühen.

Doch leider hatte Richard Parkers mächtiges Haupt sich mir zugewandt. Ich sah es aus den Augenwinkeln. Die Fliegenden Fische hagelten nach wie vor herunter, aber die interessierten ihn jetzt nicht mehr; der Fisch in meinen Händen hielt seine ganze Aufmerksamkeit gebannt. Der Abstand zwischen uns war zweieinhalb Meter. Das Maul hatte er halb geöffnet, aus dem Mundwinkel hing noch eine Schwanzflosse. Sein Rücken rundete sich. Seine Hinterhand tänzelte. Sein Schwanz zuckte. Die Haltung war eindeutig : er kauerte sich zum Sprung. Zur Flucht war es zu spät, selbst an meine Trillerpfeife kam ich jetzt nicht mehr heran. Mein Stündlein hatte geschlagen.

Aber man darf sich nicht alles gefallen lassen. Ich hatte schon so viel gelitten. Mein Hunger war so groß. Ich konnte einfach nur eine bestimmte Zahl von Tagen aushalten, ohne etwas zu essen.

Und so blickte ich in einem Augenblick des Wahnsinns, des wahnsinnigen Hungers -weil es mir wichtiger war zu essen als am Leben zu bleiben - ohne jedes Mittel der Verteidigung, nackt in jeglichem Sinne des Wortes, Richard Parker fest ins Gesicht. Mit einem Male war all seine rohe Kraft nur schwache Moral. Sie war nichts im Vergleich zu meiner Willensstärke. Ich starrte ihm trotzig in die Augen, und das Duell begann. Jeder Zoowärter weiß, dass ein Tiger, wie alle Katzen, nicht angreift, solange sein Opfer ihn direkt ansieht; er wartet, bis die Antilope oder der Hirsch oder der Büffel den Blick abwendet. Aber da klafft zwischen Theorie und Praxis eine große Lücke (und es nützt einem überhaupt nichts bei Katzen, die gesellig leben; während man den einen Löwen mit seinen Blicken lähmt, langt der andere von hinten zu). Zwei, vielleicht drei Sekunden lang fochten ein Junge und ein Tiger einen erbitterten Kampf, den Kampf ihrer Persönlichkeiten um Rang und Autorität. Er brauchte ja nur einen winzigen Satz zu machen, schon hatte er mich gepackt. Aber ich hielt seinem Blick stand.

Richard Parker leckte sich die Nase, knurrte und wandte sich ab. Wütend schlug er nach einem Fliegenden Fisch. Ich war Sieger. Ungläubig stand ich da und rang nach Luft. Dann packte ich die Dorade und kletterte hinunter zum Floß. Bald darauf brachte ich Richard Parker seinen fairen Anteil an dem Fisch.

Von jenem Tage an stand fest, dass ich Herrscher über das Boot war, und ich verbrachte immer mehr Zeit darauf, zunächst im Bug, dann, als mein Selbstvertrauen wuchs, oben auf der bequemeren Plane. Nach wie vor fürchtete ich mich vor Richard Parker, aber nur noch wenn wirklich Grund dazu bestand. Dass er ebenfalls auf dem Boot lebte, war keine Belastung mehr für mich. Man gewöhnt sich an alles - habe ich das nicht schon gesagt? Und sagen das nicht alle Überlebenden?

Anfangs legte ich, wenn ich auf der Plane lag, den Kopf auf das aufgerollte Bugende. Dort lag ich ein wenig höher - die beiden Enden des Bootes waren leicht erhöht - und konnte besser ein Auge auf Richard Parker halten.

Später legte ich meinen Kopf dann auf das andere aufgerollte Ende, knapp über der Mittelbank, mit dem Rücken zu Richard Parker und seinem Revier. In dieser Lage, weiter vom Bootsrand, bekam ich nicht ganz so viel Wind und Gischt ab.

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