Kapitel 20

Er war ein Sufi, ein muslimischer Mystiker. Er strebte nach fana, der Einheit mit Gott, und seine Beziehung zu Gott war persönlich und voller Liebe. »Wenn du auch nur zwei Schritte auf Gott zumachst«, sagte er immer, »kommt Gott dir entgegengelaufen!«

Er war ein sehr unauffälliger Mann - nichts an seinem Gesicht oder seiner Kleidung gab dem Gedächtnis Halt. Es wundert mich gar nicht, dass ich ihn anfangs nicht sah, als wir uns das erste Mal begegneten. Selbst als ich ihn schon sehr gut kannte, hatte ich jedes Mal von neuem Mühe, ihn zu erkennen. Er hieß Satish Kumar. Beides sind häufige Namen in Tamil Nadu, und der Zufall ist nicht so verblüffend, wie man denken könnte. Aber es machte mir doch Vergnügen, dass dieser fromme Bäcker, unauffällig wie ein Schatten und bei bester Gesundheit, und der kommunistische Biologielehrer und Wissenschaftsanbeter, der Berg von Mann, der, geschlagen von der Kinderlähmung, auf Beinen wie Stelzen daherkam, denselben Namen trugen. Mr und MrKumar lehrten mich Biologie und Islam. Mr und MrKumar verdanke ich es, dass ich Zoologie und Religionswissenschaften an der Universität von Toronto studierte. Mr und MrKumar waren die Propheten meiner indischen Jugend.

Wir beteten gemeinsam und übten uns im dhikr, dem Rezitieren der neunundneunzig offenbarten Namen Gottes. Er war ein hafiz, einer, der den Koran auswendig gelernt hat, und sang ihn in klaren, gedämpfen Tönen. Viel Arabisch konnte ich nicht, aber ich hörte mit Begeisterung zu. Die kehligen Laute, die langen, fließenden Vokale strömten, wenn auch unverstanden, wie ein freundlicher Bach dahin. Stundenlang saß ich am Ufer und blickte ins Wasser. Der Strom war nicht breit, nur die Stimme eines einzelnen Mannes, aber er war so tief wie die Welt.

Ich habe MrKumars Behausung eine Hütte genannt. Aber keine Moschee, keine Kirche, kein Tempel kam mir je so heilig vor. Oft genug trat ich aus dieser Backstube wie ein Gesegneter. Ich stieg dann auf mein Fahrrad, und wo ich fuhr, ließ ich eine Spur des Segens zurück.

Einmal fuhr ich nach einem solchen Erlebnis aus der Stadt hinaus, und auf der Rückfahrt kam ich an eine Stelle, ein wenig erhöht, wo ich links von mir das Meer und vor mir ein langes Stück des Weges sehen konnte, und plötzlich fühlte ich mich im Himmel. Es war eine Stelle, an der ich erst vor ein paar Minuten vorbeigekommen war, aber nun sah ich sie mit neuen Augen. Es war ein wunderbar intensives, wohliges Gefühl, eine paradoxe Mischung aus pulsierender Energie und tiefstem Frieden. Wo zuvor Straße, See, Luft und Bäume jedes mit seiner eigenen Stimme zu mir gesprochen hatten, sprachen sie nun in einer gemeinsamen Sprache, in der alles eins war. Der Baum sah die Straße, die wiederum spürte die Luft, die sich alles Umgebende mit der Sonne teilte. Jedes Element lebte im Einklang mit seinen Nachbarn, und alles war in Harmonie miteinander. Als Sterblicher war ich gekommen, als Unsterblicher fuhr ich davon. Ich kam mir vor wie der Mittelpunkt eines kleinen Zirkels, der im Zentrum eines weit größeren lag. Atman begegnete Allah.

Ein weiteres Mal spürte ich Gott mir so nahe. Es war in Kanada, viele Jahre später. Ich war zu Besuch bei Freunden auf dem Lande. Es war Winter. Ich hatte einen Spaziergang in den Feldern gemacht und kehrte zum Haus zurück. Es war ein klarer, sonniger Tag. In der Nacht war Schnee gefallen, und alle Natur lag unter einer weißen Decke verborgen. Als ich mich dem Haus näherte, blickte ich noch einmal zurück. Hinter mir lag ein Wäldchen, darin eine kleine Lichtung. Ein Lufthauch, vielleicht war es auch ein Tier, hatte einen Zweig in Bewegung gebracht. Pulverschnee rieselte herab und glitzerte im Sonnenlicht. In diesem goldenen Regen, in dieser sonnendurchfluteten Lichtung sah ich die Jungfrau Maria. Warum gerade sie, konnte ich nicht sagen. Ich war kein großer Marienverehrer. Aber es konnte niemand anderes sein. Ihre Haut war hell, sie trug ein weißes Kleid mit blauem Umhang; ich weiß noch, wie plastisch ich den Faltenwurf sah. Wenn ich sage, dass ich sie sah, trifft das die Sache nicht ganz, obwohl sie durchaus körperliche Gestalt hatte. Ich spürte, dass ich sie sah, es war eine Vision, die über das rein Sichtbare hinausging. Ich blieb stehen, sah genauer hin. Sie war wunderschön, eine Königin. Sie lächelte mir zu, und es war ein Lächeln der Liebe. Ein paar Sekunden, dann verließ sie mich wieder. Mir pochte das Herz, erschrocken und glücklich zugleich.

Die Gegenwart Gottes ist der höchste Lohn.

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