Kapitel 37

Das Schiff sank. Es gab einen Ton von sich wie ein riesiges metallisches Rülpsen. Sachen blubberten an der Oberfläche, dann verschwanden sie. Alles brüllte: der Wind, die See, mein Herz. Vom Rettungsboot sah ich etwas im Wasser.

»Richard Parker«, rief ich, »Richard Parker, bist du das? Richard Parker! Wenn doch nur der Regen aufhören würde! Richard Parker, tatsächlich!«

Ich konnte seinen Kopf sehen. Mit aller Macht kämpfte er, um über Wasser zu bleiben.

»Jesus, Maria, Mohammed und Vishnu, was für ein Glück, dass du da bist, Richard Parker! Nicht aufgeben, bitte. Komm ins Rettungsboot. Hörst du die Trillerpfeife? PRRRIIII! PRRRIIII! PRRRIIII! Ja, hier bin ich. Du musst nur schwimmen. Schwimmen! Du bist doch ein guter Schwimmer. Keine dreißig Meter!«

Er hatte mich gesehen. Er war in Panik. Jetzt schwamm er auf mich zu. Rings um ihn schlugen die Wellen hoch. Er sah klein und hilflos aus.

»Richard Parker, kannst du glauben, was mit uns geschehen ist? Sag mir, dass es ein böser Traum ist. Sag mir, es ist alles nur Einbildung. Sag mir, dass ich noch in meiner Koje auf der Tsimtsum liege, ich wälze mich, ich strample, und gleich erwache ich aus dem Alptraum. Sag mir, dass ich noch immer glücklich bin. Mutter, mein sanfter, kluger Schutzengel, wo bist du? Und du, Vater, mein Peiniger aus Liebe? Wo bist du, Ravi, strahlender Held meiner Kindheit? Vishnu schütze mich, Allah stehe mir bei, Christus errette mich, allein bin ich verloren. PRRRIIII! PRRRIIII! PRRRIIII!«

Körperlich war ich unversehrt, doch nie hatte ich so unglaublichen Schmerz gespürt, ein solches Zucken der Nerven, ein solches Stechen im Herzen.

Er schaffte es nicht. Er würde ertrinken. Er kam kaum noch voran, und seine Bewegungen waren schlaff. Immer wieder tauchte der Kopf halb unter. Nur die Augen waren fest auf mich gerichtet.

»Was ist denn mit dir, Richard Parker? Hängst du denn gar nicht am Leben? Dann schwimm! PRRRIIII! PRRRIIII! PRRRIIII! Kräftig, mit den Beinen! Und stoßen! Und stoßen! Und stoßen!«

Man sah, wie er sich im Wasser einen Ruck gab und schwamm.

»Und was ich sonst noch an Familie hatte - Vögel, Säuger, Reptilien? Auch sie ertrunken. Alles, was mir im Leben lieb war, jedes einzelne Ding, ist verloren. Und ich bin nicht einmal eine Erklärung wert? Ich durchleide die Hölle, und kein Wort aus dem Himmel? Da frage ich dich, Richard Parker, wozu ist denn dann all unsere Klugheit gut? Haben wir unseren Verstand nur, dass wir durchs Leben kommen - für Nahrung, Kleidung, Unterkunft? Warum hat die Vernunft auf die großen Fragen keine Antwort? Warum können wir eine Frage weiter auswerfen, als wir die Antwort einholen können? Warum ein so großes Netz, wenn es nur so kleine Fische zu fangen gibt?«

Sein Kopf ragte nun kaum noch aus dem Wasser. Er blickte auf, sah zum letzten Mal den Himmel. Im Boot war ein Rettungsring mit einem Seil daran. Ich packte ihn und hielt ihn in die Höhe.

»Siehst du den Ring, Richard Parker? Siehst du, was ich hier habe? Halt dich daran fest. UFF! Ich versuch's noch einmal. UFF!«

Er war zu weit draußen. Aber er sah, dass ich ihm einen Rettungsring zuwarf, und das machte ihm neuen Mut. Er nahm seine Kräfte zusammen und peitschte das Wasser mit energischen, verzweifelten Zügen.

»So ist's richtig! Eins, zwei. Eins, zwei. Eins, zwei. Und tief durchatmen. Nimm dich in Acht vor den Wellen. PRRRIIII! PRRRIIII! PRRRIIII!«

Mein Herz war kalt wie Eis. Der Kummer drehte mir den Magen um. Aber für die Lähmung des Schocks blieb keine Zeit. Mein Schock war ein tätiger Schock. Etwas in mir wollte nicht aufgeben, wollte das Leben nicht loslassen, wollte kämpfen bis zur letzten Sekunde. Wo dieses Etwas den Mut hernahm, ist mir ein Rätsel.

»Ist das nicht zum Lachen, Richard Parker? Wir sind mitten in der Hölle, und trotzdem fürchten wir uns vor der Unsterblichkeit. Sieh doch nur, wie nahe du schon bist! PRRRIIII! PRRRIIII! PRRRIIII! Hurra, hurraaa! Du schaffst es, Richard Parker, du schaffst es! Fang! UFF!«

Ich warf den Rettungsring mit aller Macht. Direkt vor seiner Nase landete er im Wasser. Mit letzten Kräften reckte er sich und hielt sich daran fest.

»Halt gut fest, ich ziehe dich an Bord. Du ziehst mit den Augen, ich mit den Händen. Gleich sitzen wir beide im Boot. Moment mal-wir sitzen beide im selben Boot? Bin ich denn noch bei Trost?«

Erst da begriff ich, was ich gerade tat. Ich riss an der Leine.

»Lass den Rettungsring los, Richard Parker! Loslassen, sage ich! Ich will dich nicht hier oben haben, hörst du? Schwimm anderswohin. Lass mich in Ruhe. Weg mit dir. Meinetwegen kannst du ertrinken! Los, ertrinke!«

Mit kräftigen Stößen kam er näher. Ich schnappte mir ein Ruder. Ich stach damit nach ihm, wollte ihn wegstoßen. Ich stach daneben, und das Ruder fiel ins Wasser.

Ich nahm ein zweites. Ich steckte es in eine Dolle und zog, so fest ich konnte. Doch statt das Rettungsboot von ihm fortzubringen, drehte ich es nur ein wenig, und das eine Ende war Richard Parker näher denn je.

Ich würde ihm einen Schlag auf den Kopf versetzen! Ich hob das Ruder in die Höhe.

Er war zu schnell. Schon war er am Bootsrand und hievte sich an Bord.

»Herr im Himmel!«

Ravi hatte Recht gehabt. Die nächste Ziege war ich. Ich hatte einen nassen, schlotternden, halb ertrunkenen, keuchenden und hustenden ausgewachsenen dreijährigen bengalischen Tiger in meinem Rettungsboot. Richard Parker rappelte sich auf der Plane auf, unsicher auf den Pranken, seine Augen schossen Blitze, als sie in die meinen blickten, die Ohren hatte er angelegt, alle Krallen ausgestreckt. Sein Kopf hatte die Umrisse und die Farbe des Rettungsrings, nur mit Zähnen.

Ich drehte mich um, kletterte über das Zebra und sprang von Bord.

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