Nach Sardiniens warmer Wintersonne kam ihr New York wie Sibirien vor. Die Straßen waren voll Schnee und Matsch, und vom Hast River fegte ein eiskalter Wind. Elizabeth machte das nichts aus. Sie lebte in Polen, in einem anderen Jahrhundert, erlebte die Abenteuer ihres Ururgroßvaters, teilte sein Schicksal. Jeden Nachmittag, gleich nach der Schule, eilte sie in ihr Zimmer, schloss sich ein und holte das Buch hervor. Ein paarmal hatte sie erwogen, mit ihrem Vater darüber zu sprechen, aber sie unterließ es aus Angst, er könne ihr den Band wegnehmen.
Elizabeth merkte, ihr war ein herrliches, unerwartetes Wunder beschert worden: Der alte Samuel gab ihr Mut, half ihr, in der Welt zu bestehen. Wie sehr sie doch einander ähnelten! Samuel war ein Einzelgänger, hatte niemanden, dem er sich anvertrauen konnte. Ganz genau wie ich, dachte Elizabeth. Und weil sie fast im gleichen Alter waren, wenngleich ein Jahrhundert auseinander, konnte sie sich ganz mit ihm identifizieren.
Samuel wollte Arzt werden.
Im Ghetto von Krakau waren nur drei Ärzte zugelassen, für Tausende von Menschen, die in dem ungesunden, von Epidemien bedrohten Pferch leben mussten. Der wohlhabendste von den dreien war Dr. Zeno Wal. Aus der ärmlichen Umgebung ragte sein Haus hervor wie ein Königspalast inmitten eines Elendsviertels, drei Stockwerke hoch, die Fenster geschmückt mit frischgewaschenen, spitzenverzierten Gardinen; dahinter konnte man flüchtig den Glanz polierter Möbel erkennen. Samuel malte sich den Arzt in seinem prächtigen Heim aus, wie er seine Patienten versorgte, sie heilte, all das, was er selbst sich als Lebensinhalt ersehnte. Sicherlich könnte jemand wie Dr. Wal ihm helfen, Arzt zu werden, dachte Samuel, wenn er ihn nur für sich einnehmen konnte. Aber von Samuels Warte aus war Dr. Wal ebenso unerreichbar wie die Glücklichen, die außerhalb der Ghettomauern lebten.
Hin und wieder beobachtete Samuel aus gebührendem Abstand den großen Dr. Zeno Wal, wie er in ernster Unterhaltung mit einem Kollegen durch die Straßen wandelte. Als Samuel eines Tages am Waischen Haus vorbeikam, ging die Tür auf, und der Doktor trat mit seiner Tochter heraus. Sie war ungefähr in Samuels Alter und das liebreizendste Geschöpf, das er je gesehen hatte. Im selben Augenblick wusste er, sie würde seine Frau werden. Er hatte keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen sollte, wusste nur, dass es geschehen würde.
Danach fand Samuel jeden Tag irgendeinen Vorwand, sich bei dem Haus von Dr. Wal aufzuhalten, immer in der Hoffnung, die Tochter für einen Augenblick zu Gesicht zu bekommen.
Eines Nachmittags, als ein Botengang Samuel an dem Haus vorbeiführte, hörte er Klaviermusik und wusste sofort: Das konnte nur sie sein. Er musste sie sehen. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er unbeobachtet war, schlich Samuel sich an die Seite des Hauses. Die Musik kam vom oberen Stockwerk, aus einem Fenster direkt über seinem Kopf. Samuel trat zurück und betrachtete die Hauswand. Es gab Mauervorsprünge genug, wo er Halt finden konnte, und ohne einen Moment zu zögern, machte er sich an den Aufstieg. Doch der erste Stock war höher, als es von unten ausgesehen hatte, und bevor er das Fenster erreichte, war er schon über drei Meter vom Boden entfernt. Er blickte hinunter, und ein Schwindelgefühl erfasste ihn. Aber die Musik klang lauter als vorher. Er spürte: Sie spielte für ihn. Also nahm er sich zusammen, klammerte sich an den nächsthöheren Halt und zog sich vollends aufs Fenstersims. Ganz langsam hob er den Kopf, um nach drinnen zu blicken. Durch die Scheibe sah er ein erlesen möbliertes Wohnzimmer. Das Mädchen saß an einem weiß-goldenen Klavier und spielte, und dahinter hatte es sich Dr. Wal in einem Sessel bequem gemacht, ein Buch vor den Augen. Samuel verschwendete kaum einen Blick an ihn, er konnte immer nur das schöne Mädchen dort, kaum ein paar Meter von ihm entfernt, anstarren. Er liebte sie! Er würde etwas unternehmen, etwas ganz Waghalsiges und Spektakuläres, damit sie ihm ihre Liebe schenkte. Er würde... So versunken war Samuel in seinen Tagtraum, dass er den Halt lockerte und unversehens die Reise in die Tiefe antrat. Er stieß einen Schrei aus, sah nur noch, wie ihn von drinnen zwei erschreckte Gesichter anstarrten.
Als er aufwachte, lag er auf einem Behandlungstisch in Dr. Wals Praxis, die mit zahlreichen Medizin- und Instrumentenschränken ausgestattet war. Dr. Wal hielt Samuel einen stinkenden Wattebausch unter die Nase. Samuel würgte und setzte sich auf.
»Na, das ist schon besser«, meinte der Arzt. »Eigentlich sollte ich dir das Gehirn herausoperieren, aber ich bezweifle, dass du eins hast. Also, Junge, was wolltest du stehlen?«
»Nichts.« Samuel war entrüstet.
»Wie heißt du?«
»Samuel Roffe.«
Der Arzt tastete das rechte Handgelenk ab, und der Junge schrie vor Schmerz laut auf.
»Hm. Du hast dir das Gelenk gebrochen, Samuel Roffe. Das Richten sollten wir vielleicht besser der Polizei überlassen.«
Samuel stöhnte, diesmal vor Angst. Er sah vor sich, was ihn erwartete, wenn die Polizei ihn wie einen Sünder zu Hause ablieferte. Seiner Tante Rachel würde auf der Stelle das Herz brechen, sein Vater ihn umbringen. Jedoch, was weit wichtiger war: Wie konnte er jetzt noch hoffen, jemals Dr. Wals Tochter zur Frau zu gewinnen? War er von nun an nicht ein Verbrecher, ein Gezeichneter? Samuel fühlte unvermutet einen stechenden Schmerz an seinem Handgelenk und sah voller Entsetzen zu Dr. Wal auf.
»Schon gut«, sagte dieser. »Das Gelenk ist wieder eingerenkt.« Und er machte sich daran, den Arm zu schienen. »Lebst du hier in der Nachbarschaft, Samuel?«
»Nein, Herr Doktor.«
»Aber ich hab’ dich doch schon hier herumlungern sehen.«
»Ja, das stimmt.«
»Warum?«
Warum? Wenn Samuel die Wahrheit sagte, würde ihn der Arzt auslachen.
»Ich will auch Arzt werden«, entfuhr es ihm; er hatte nicht an sich halten können.
Und plötzlich hörte Samuel seine eigene Stimme, hörte sich die ganze Geschichte preisgeben. Er erzählte, wie seine Mutter auf der Straße umgekommen war, berichtete von seinem Vater, über seinen ersten Besuch in Krakau und seine Verzweiflung darüber, jeden Abend wie ein Tier in das Ghetto eingesperrt zu werden. Er sprach von seinen Gefühlen für Dr. Wals Tochter, sagte alles, was sich in ihm angestaut hatte, und der Arzt hörte schweigend zu. Sein Bericht kam ihm selbst lachhaft und albern vor, und als er geendet hatte, fügte er schüchtern hinzu: »Ich - ich bitte um Entschuldigung. Es tut mir so leid.«
Dr. Wal sah ihn lange an. »Mir tut es auch leid«, sagte er schließlich. »Für dich und für mich, für uns alle. Jeder Mensch ist ein Gefangener, und die größte Ironie ist, Gefangener eines anderen Menschen zu sein.«
Samuel sah erstaunt zu ihm auf. »Das verstehe ich nicht.«
Der Doktor seufzte. »Eines Tages wirst du es verstehen.« Langsam erhob er sich, ging zu seinem Schreibtisch, wählte eine Pfeife aus und stopfte sie sorgfältig. »Ich fürchte, das ist ein rabenschwarzer Tag für dich, Samuel.«
Er zündete die Pfeife an, blies das Streichholz aus und wandte sich wieder dem Jungen zu. »Damit meine ich nicht dein gebrochenes Handgelenk. Das heilt schon wieder. Aber ich sehe mich gezwungen, dir etwas anzutun, was keineswegs so schnell heilen wird.« Samuel beobachtete ihn mit großen Augen. Dr. Wal trat zu ihm. Seine Stimme klang sanft und freundlich. »Sehr wenig Leute haben jemals einen Traum. Du, Samuel, hast zwei Träume. Ich fürchte, ich muss sie dir beide zerstören.«
»Ich -«
»Hör mir einmal gut zu, Samuel. Du wirst nie Arzt werden können, nicht hier in unserer Welt. Im Ghetto dürfen nur drei von uns praktizieren. Und es gibt hier Dutzende hervorragender Ärzte, die nur darauf warten, unseren Platz einzunehmen, wenn einer von uns sich zur Ruhe setzt oder stirbt. Du hast also keine Chance. Nicht die geringste. Du bist zur falschen Zeit und am falschen Ort geboren. Verstehst du, was ich damit sagen will?«
Samuel schluckte. »Jawohl, Herr Doktor.«
Nach kurzem Zögern fuhr der Arzt fort: »Und was deinen zweiten Traum betrifft, ich fürchte, der ist genauso unmöglich. Es ist undenkbar, dass du Terenia je zur Frau bekommst.«
»Warum?« brachte Samuel heraus.
Dr. Wal starrte ihn an. »Warum? Aus demselben Grund, der es dir verbietet, Arzt zu werden. Wir leben nach gesellschaftlichen Regeln, unseren Traditionen getreu. Meine Tochter wird jemanden aus ihrer eigenen Klasse heiraten, einen Mann, der ihr den Lebensstil bieten kann, den sie gewohnt ist, einen Rechtsanwalt zum Beispiel, einen Arzt oder einen Rabbi. Du aber -also, du musst sie dir aus dem Kopf schlagen.«
»Aber -«
Doch der Arzt drängte ihn schon sanft zur Tür. »Sieh zu, dass in einigen Tagen jemand nach deinem geschienten Arm schaut. Der Verband muss gewechselt werden.«
»Jawohl, Herr Doktor«, sagte Samuel. »Vielen Dank auch.« Der Doktor sah den blonden Jungen mit dem aufgeweckten Gesicht noch einmal eindringlich an. »Viel Glück, Samuel.«
Am Nachmittag darauf, gleich nach der Essenszeit, klingelte Samuel an der Tür des Waischen Hauses. Dr. Wal beobachtete ihn durch das Fenster. Ihm war klar, dass er ihn eigentlich wegschicken musste.
»Bringen Sie ihn herein«, sagte er zu dem Hausmädchen.
Danach kam Samuel zwei- bis dreimal pro Woche zu Dr. Wal. Er erledigte Botengänge für den Arzt, und zur Entschädigung durfte er dabeisein, wenn Dr. Wal Patienten behandelte oder in seinem Laboratorium Arzneien herstellte. Der Junge beobachtete, lernte, vergaß nichts. Er war ein Naturtalent. In Dr. Wal wuchsen Schuldgefühle; denn er wusste, er machte Samuel Mut für einen Weg, den er niemals beschreiten konnte. Trotzdem brachte er es nicht über sich, dem Jungen die Tür zu weisen.
Ob Zufall oder Absicht: Terenia war fast immer zugegen, wenn Samuel ins Haus kam. Manchmal erhaschte er einen Blick auf sie, wenn sie am Labor vorbeiging oder das Haus verließ. Einmal lief er ihr in der Küche aus Versehen fast in die Arme, und sein Herz hämmerte so rasend, dass er meinte, er müsse in Ohnmacht fallen. Sie betrachtete ihn lange, ihr Blick hatte etwas Forschendes. Dann verschwand sie mit einem kühlen Nicken. Wenigstens hatte sie von ihm Notiz genommen! Das war der erste Schritt, der Rest nur noch eine Frage der Zeit. In Samuel kam auch nicht der geringste Zweifel auf. Der Weg war vom Schicksal vorgezeichnet. In seinen Tagträumen von der Zukunft spielte Terenia jetzt eine Hauptrolle. Hatte er früher nur für sich selbst geträumt, so tat er es nun für sie beide. Irgendwie würde er es schaffen, sie und sich aus dem Ghetto, diesem stinkenden, überfüllten Gefängnis, zu befreien. Er selbst, das wusste er, würde großen Erfolg im Leben haben. Aber dieser Erfolg war nicht auf ihn allein beschränkt, sondern galt ihnen beiden.
Obwohl das alles ganz unmöglich war.
Über der Geschichte des alten Samuel schlief Elizabeth ein. Als sie am Morgen danach aufwachte, verbarg sie das Buch sorgfältig, bevor sie sich für die Schule fertigmachte. Samuel ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Wie stellte er es an, Terenia zu heiraten, was tat er, um dem Ghetto zu entfliehen? Und wie wurde er berühmt? Die Geschichte hatte sie ganz in Besitz genommen, und sie war ärgerlich über jede Störung, die sich zwischen sie und das Buch drängte und sie wieder in das zwanzigste Jahrhundert trieb.
Zu Elizabeths Schulpensum gehörte Ballettunterricht, den sie verabscheute. Immer, wenn es soweit war, zwängte sie sich in ihr rosa Ballettröckchen, stellte sich vor den Spiegel und versuchte, sich einzureden, sie besäße einen reifen, sinnlichen Körper. Aber aus dem Glas blickte ihr die Wahrheit entgegen: Sie war fett. Eine Ballettänzerin würde aus ihr nie werden.
Kurz nach ihrem vierzehnten Geburtstag stand ihr wieder einmal die Tortur bevor. Ihre Tanzlehrerin, Mme. Netturova, verkündete, in zwei Wochen sei die alljährliche Ballettaufführung; zu diesem Anlass würden die Eltern ins Auditorium geladen. Elizabeth geriet in Panik. Allein der Gedanke, sich vor Zuschauern auf der Bühne produzieren zu müssen, war ihr unerträglich. Da konnte sie nicht mitmachen.
Verzweifelt suchte sie nach Auswegen.
Ein Kind rannte über die Straße, direkt vor ein Auto. Elizabeth, Zeugin des Unfalls, sprang auf die Fahrbahn und rettete das Kind in letzter Sekunde aus den Klauen des Todes. Leider, meine Damen und Herren, streifte ein Rad ihren Fuß, und sie brach sich die Zehen. Deshalb kann Elizabeth Roffe heute abend nicht auftreten.
Ein Hausmädchen hatte achtlos ein Stück Seife oben an der Treppe liegenlassen. Elizabeth rutschte aus, fiel die Treppe hinunter und zog sich einen Beckenbruch zu. Keine komplizierte Angelegenheit, sagte der Arzt. In drei Wochen ist alles verheilt.
Aber das wahre Leben bot keinen Ausweg. Am Tag der Vorstellung war Elizabeth bei bester Gesundheit, aber hochgradig hysterisch. Wieder half ihr der alte Samuel. Ihr fiel ein, welche Angst er ausgestanden hatte. Und trotzdem hatte er es gewagt, Dr. Wal unter die Augen zu treten. Nein, sie würde nichts tun, um Samuel Schande zu bereiten. Das Schicksal sollte sie auf ihrem Platz finden.
Ihrem Vater gegenüber hatte Elizabeth die bevorstehende Aufführung nicht einmal erwähnt. Verschiedene Male hatte sie ihn gebeten, sie zu Schulfeiern zu begleiten oder zu Partys, bei denen die Anwesenheit der Eltern erwünscht war, aber nie hatte er Zeit gehabt.
Am Abend selbst, als Elizabeth sich gerade für die Aufführung fertigmachte, kam ihr Vater von einer zehntägigen Reise zurück.
Er ging an ihrem Schlafzimmer vorbei, sah sie und sagte: »Guten Abend, Elizabeth«, und dann, nach kurzer Musterung: »Du hast zugenommen.«
Elizabeth bekam einen roten Kopf und versuchte, den Bauch einzuziehen. »Ja, Vater.«
Er wollte etwas hinzufügen, besann sich aber anders. »Wie geht’s in der Schule?«
»Danke, sehr gut.«
»Irgendwelche Probleme?«
»Nein, Vater.«
»Na bestens.«
Der Dialog, all die Jahre über hundertmal praktiziert, war eine bedeutungslose Litanei, offenbar aber ihre einzige Kommunikationsform. Wie-geht’s-in-der-Schule-danke-sehr-gut-irgendwelche-Pro-bleme-nein-Vater-na-bestens. Zwei Fremde beim Gespräch über das Wetter, keiner hörte zu, keinem lag an der Meinung des anderen. Doch, einem von uns schon, dachte Elizabeth.
Diesmal aber blieb Sam Roffe stehen und betrachtete seine Tochter mit nachdenklichem Gesicht. Er war es gewöhnt, mit handfesten Dingen fertig zu werden, doch obwohl er spürte, dass es hier Probleme gab, hatte er keine Ahnung, worum es ging. Und hätte es ihm jemand gesagt, hätte er geantwortet: »Was für ein Blödsinn. Elizabeth hat alles, was sie sich nur wünschen kann.«
Ihr Vater wollte gerade wieder gehen, als Elizabeth sich sagen hörte: »Wir... meine Ballettklasse hat heute abend eine Aufführung. Ich mache auch mit. Du willst doch nicht kommen, oder?«
Die Worte waren noch nicht heraus, da griff es ihr eiskalt ans Herz. Sie wollte ihn nicht zum Zeugen ihrer Tolpatschigkeit haben. Warum, um alles in der Welt, hatte sie davon gesprochen? Aber sie wusste genau, warum. Weil sie nämlich das einzige Mädchen der Klasse war, dessen Eltern nicht im Zuschauerraum sitzen würden. Macht nichts, beruhigte sie sich. Er sagt sowieso nein. Wütend über sich selbst schüttelte sie den Kopf und wandte sich ab. Und traute ihren Ohren nicht, als sie hinter sich ihren Vater sagen hörte: »Aber ja, ich komme.«
Das Auditorium war überfüllt mit Eltern, Freunden und Verwandten, die den von Klaviermusik begleiteten Darbietungen der jungen Ballettratten bewundernd folgten. Die ganze Zeit über war Mme. Netturova auf der Bühne zu sehen. Sie zählte laut den Takt mit, um so ihren bedeutenden Anteil an diesen Darbietungen zu unterstreichen.
Ein paar Kinder waren ungemein graziös und zeigten echtes Talent. Die anderen ersetzten Können durch Begeisterung. Das hektographierte Programm kündigte drei Musikstücke an: Auszüge aus »Coppelia«, »Qnderella« und, natürlich, »Schwanensee«. Im piece de resistance wurde jedem Kind die Gelegenheit geboten, sich in einer Solopartie zu präsentieren.
Hinter der Bühne verging Elizabeth fast vor Angst. Das Lampenfieber hatte sie gepackt. Immer wieder lugte sie durch den Vorhang, und jedes Mal, wenn sie ihren Vater vorn, in der Mitte der zweiten Reihe, erblickte, hätte sie sich ohrfeigen können. Wie hatte sie nur auf die Idee kommen können, ihn einzuladen! Bis dahin war es ihr nicht schwergefallen, sich bei den Gruppendarbietungen im Hintergrund zu halten, versteckt hinter dem Rücken der Kameradinnen. Aber jetzt stand ihr eine Solopartie bevor. Sie fühlte sich dick und unbeholfen in ihrem Röckchen, wie ein Fettwanst im Zirkus. Wenn sie die Bühne betrat, würden bestimmt alle in helles Gelächter ausbrechen. Und sie selbst hatte ihren Vater dazu bewogen, ihrer Demütigung beizuwohnen. Ihr einziger Trost war: Es würde schnell vorbei sein. Ihr Solo dauerte nur sechzig Sekunden. Mme. Netturova war schließlich nicht auf den Kopf gefallen. In Wirklichkeit ging das so fix, dass niemand sie richtig wahrnehmen würde, sagte sich Elizabeth. Und ihr Vater brauchte nur einen Augenblick den Kopf wegzudrehen, dann war alles ausgestanden.
Als Elizabeth die anderen Mädchen beobachtete, wie sie nacheinander über die Bühne hüpften, kamen sie ihr alle vor wie die Markowa, die Maximowa und die Fonteyn. Eine kalte Hand legte sich auf ihren Arm. Mme. Netturova zischelte: »Auf die Bühne, Elizabeth, du bist dran!«
Elizabeth versuchte ein artiges »Oui, Madame«, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Die beiden Pianisten stimmten die vertrauten Eingangstakte ihres Solos an. Sie stand da wie angewurzelt, keiner Bewegung fähig. »Mach, dass du rauskommst!« presste Mme. Netturova zwischen den Zähnen hervor. Elizabeth spürte einen derben Schubs im Rücken, und da stand sie allein auf der Bühne, halb nackt, vor hundert unfreundlichen Fremden. Ihren Vater wagte sie gar nicht anzusehen. Sie wollte nur das Drama so schnell wie möglich hinter sich bringen und das Weite suchen. Ihre Darbietung war denkbar einfach, ein paar Schritte, Drehungen und Sprünge. Sie machte die ersten Tanzschritte, versuchte, im Takt der Musik zu bleiben und sich selbst als eine schlanke, hochgewachsene und biegsame Tänzerin vorzustellen. Als sie fertig war, tröpfelte höflicher Beifall. Elizabeth sah hinab in die zweite Reihe, und da saß ihr Vater, ein stolzes Lächeln auf den Lippen. Er applaudierte lebhaft - applaudierte ihr, Elizabeth! In diesem Augenblick ging etwas in ihr vor. Die Musik hatte aufgehört. Aber Elizabeth setzte ihren Tanz fort, tanzte und tanzte, drehte sich, hüpfte, schwebte in einer anderen Welt, hatte ihren plumpen Körper weit hinter sich gelassen. Die verwirrten Musiker fingen wieder zu spielen an, versuchten, ihren Takt zu erhaschen, erst der eine, dann der andere. Im Hintergrund der Bühne führte Mme. Netturova wahre Veitstänze auf, das Gesicht wutverzerrt. Aber Elizabeth nahm sie überhaupt nicht wahr. Worauf es allein ankam: Sie hatte die Bühne für sich erobert und tanzte - tanzte für ihren Vater.
»Mr. Roffe, Sie verstehen doch sicher, dass die Schule ein derartiges Benehmen einfach nicht dulden kann!« Mme. Netturovas Stimme zitterte vor Zorn. »Ihre Tochter hat sich in ihrem Egoismus über die Interessen ihrer Kameradinnen hinweggesetzt und die Bühne für sich okkupiert, als ob - als ob sie was Besonderes wäre. Das waren ja Starallüren!«
Elizabeth fühlte, wie ihr Vater sie ansah, und hatte Angst, seinen Augen zu begegnen. Sie wusste, ihr Benehmen war unverzeihlich, aber sie hatte einfach nicht aufhören können. Für ein paar unendlich kostbare Augenblicke da oben auf der kleinen Bühne hatte sie versucht, ihrem Vater ein Wunder vorzuzaubern, ihn zu beeindrucken. Damit er Notiz von ihr nahm, stolz auf sie war. Damit er sie liebte.
Jetzt hörte sie seine Stimme. »Sie haben ganz recht, Madame. Ich werde dafür sorgen, dass Elizabeth die angemessene Strafe bekommt.«
Mme. Netturova sah Elizabeth triumphierend an. »Verbindlichen Dank, Mr. Roffe. Ich überlasse die Angelegenheit selbstverständlich Ihnen.«
Dann standen Elizabeth und ihr Vater draußen auf der Straße. Seitdem sie die Schule verlassen hatten, war zwischen ihnen kein Wort gefallen. Elizabeth legte sich eine Entschuldigung zurecht - aber was konnte sie schon sagen? Wie konnte sie ihrem Vater zu verstehen geben, was sie getrieben hatte? Neben ihr stand ein Fremder, und sie hatte Angst vor ihm. Häufig war sie Zeuge gewesen, wenn er seinen Zorn an Leuten ausließ, die Fehler gemacht oder es gewagt hatten, ihm nicht zu gehorchen. Sie stand ergeben da, in Erwartung des Unvermeidlichen.
Er wandte sich ihr zu. »Elizabeth, weißt du was? Wir machen einen Abstecher zu Rumpelmayer und essen Schokoladeneis.«
Elizabeth brach in Tränen aus.
In jener Nacht lag sie hellwach in ihrem Bett, zum Schlafen viel zu aufgeregt. Immer wieder ließ sie den Abend an sich vorbeiziehen. Sie konnte ihre Erregung nicht unterdrücken. Denn das war kein gewöhnlicher Tagtraum. Das war Wirklichkeit. Sie sah sich und ihren Vater bei Rumpelmayer, umgeben von den vielen farbenprächtigen ausgestopften Tieren: Bären, Elefanten, Löwen, Zebras. Elizabeth hatte sich ein Bananensplit bestellt, das sich als zu riesig für sie erwies, aber ihr Vater hatte kein Wort der Kritik geäußert. Er unterhielt sich ganz zwanglos mit ihr. Nicht auf die übliche Weise: Wie-geht’s-in-der-Schule-danke-sehr-gut und so weiter. Nein, er sprach ganz vernünftig mit ihr. Er erzählte von seiner jüngsten Reise nach Tokio und wie sein Gastgeber ihm Heuschrecken mit Schokoladensauce und Ameisen als besondere Delikatesse servierte und er sie hatte kosten müssen, um sein Gesicht nicht zu verlieren.
Als Elizabeth das Eis aufgegessen hatte, fragte ihr Vater plötzlich: »Warum hast du das vorhin getan, Liz?«
Sie wusste, jetzt war alles vorbei, nun kam doch noch die große Schelte, und sie würde hören, wie sehr sie ihn enttäuscht hatte.
Ihre Antwort hieß: »Ich wollte besser sein als die anderen.« Was sie gern hinzugesetzt hätte, brachte sie nicht über die Lippen: für dich, Vater.
Er sah sie prüfend an; es schien ihr wie eine Ewigkeit. Dann lachte er plötzlich. »Du warst wirklich die Sensation des Abends.« Und in seiner Stimme schwang hörbar Stolz mit.
Elizabeth fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. »Du bist also nicht böse auf mich?«
In seinem Blick lag etwas, das sie nie zuvor bemerkt hatte. »Böse? Weil du die Beste sein wolltest? Das ist der Stoff, aus dem die Roffes gemacht sind.« Er tätschelte ihre Hand.
Und als Elizabeth langsam in Schlaf versank, waren ihre letzten Gedanken: Mein Vater mag mich, er mag mich wirklich. Jetzt werden wir immer Zusammensein. Er wird mich auf seine Reisen mitnehmen. Wir reden über alles und werden dicke Freunde.
Am nächsten Nachmittag rief die Sekretärin ihres Vaters an. Alle Vorbereitungen waren getroffen: Elizabeth wurde in ein Schweizer Internat geschickt.