Samuel Roffes früheste Erinnerung, las Elizabeth, war der Tod seiner Mutter. Sie kam 1855 bei einem Pogrom ums Leben, als Samuel fünf Jahre alt war. Er selbst war im Keller des kleinen Holzhauses, das die Roffes im Ghetto von Krakau mit anderen Familien teilten, versteckt worden. Viele quälende Stunden später, als der blutige Terror endlich vorüber war und das einzig Vernehmbare das Wimmern der Überlebenden, verließ Samuel vorsichtig sein Versteck und suchte in den Straßen des Ghettos nach seiner Mutter. Dem kleinen Jungen kam es vor, als stünde die ganze Welt in Flammen. Überall brannten die Holzhäuser, der Himmel war glutrot von der Feuersbrunst, und über den Straßen lag schwarzer Qualm in dicken Wolken. Männer und Frauen suchten verzweifelt nach ihren Angehörigen oder mühten sich ab, ihre Läden, Wohnungen und überhaupt die wenige Habe zu retten. In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gab es in Krakau zwar eine Feuerwehr, doch für Juden durfte sie nicht eingesetzt werden. Hier im Ghetto, am Rande der Stadt, mussten sie die Gluthölle aus eigener Kraft bekämpfen, mit Wasser, das sie mühsam aus ihren Brunnen holten. Dutzende von Menschen bildeten Eimerketten. Wohin Samuel auch blickte, begegnete er dem Tod, sah er verstümmelte Körper, nackte, vergewaltigte Frauen, Kinder, die blutend um Hilfe schrieen.
Samuel fand seine Mutter auf der Straße liegend, nur halb bei Bewusstsein, das Gesicht voller Blut. Mit wild klopfendem Herzen kniete der Junge neben ihr nieder. »Mama!«
Sie öffnete die Augen, erkannte ihn, versuchte zu sprechen, und Samuel wusste, dass sie im Sterben lag. Er hatte den verzweifelten Wunsch, sie zu retten, aber keine Ahnung, wie er das anstellen sollte, und als er ihr sanft das Blut vom Gesicht wischte, war es schon vorbei.
Später stand Samuel stumm daneben, als der Beerdigungstrupp kam und behutsam den Boden unter der Leiche seiner Mutter aushob. Die Erde war mit ihrem Blut getränkt und musste nach den Regeln der Schrift zusammen mit ihr begraben werden, damit sie Gott als Ganzes wiedergegeben wurde.
In jenem Augenblick fasste Samuel einen Entschluss: Er würde Arzt werden.
Zusammen mit acht anderen Familien bewohnten die Roffes ein schmales dreistöckiges Holzhaus. Der kleine Samuel hauste in einem engen Gemach zusammen mit seinem Vater und der Tante Rachel. Sein Leben lang hatte er nie ein eigenes Zimmer besessen oder allein gegessen oder geschlafen. Jeder Moment seines Daseins war mit dem Klang von Stimmen angefüllt, doch Samuel sehnte sich nicht nach Abgeschiedenheit; er hatte keine Ahnung, dass es so etwas überhaupt gab. Sein Leben vollzog sich in einem überfüllten Labyrinth.
Jeden Abend wurden Samuel, seine Verwandten und Freunde von den Nicht-Juden in das Ghetto eingesperrt, genauso, wie die Juden selbst ihre Ziegen, Kühe und Hühner in die Pferche trieben.
Bei Sonnenuntergang wurden die massiven hölzernen Doppeltore des Ghettos geschlossen und mit einem großen Eisenschlüssel versperrt. Am folgenden Morgen, bei Sonnenaufgang, wurden die Tore wieder geöffnet, und die jüdischen Händler durften nach Krakau hinein und mit den Nicht-Juden Handel treiben, doch wenn es zu dämmern begann, mussten sie wieder innerhalb ihrer Mauern sein.
Samuels Vater stammte aus Russland. Er hatte einem Pogrom in Kiew entkommen und sich nach Krakau durchschlagen können, wo er auch seine Frau kennenlernte. Samuel kannte seinen Vater nur als gebeugten grauhaarigen Mann mit tief gefurchtem Gesicht. Der alte Roffe war ein Hausierer, der mit seinem Karren voller Kurzwaren, Tand und Gebrauchsgegenständen durch die engen, gewundenen Straßen des Ghettos zog. Der kleine Samuel lief sehr gern durch das emsige Menschengewühl auf den Pflastersteinstraßen. Er liebte die Gerüche von frischgebackenem Brot, getrocknetem Fisch, Käse, reifenden Früchten, Sägespänen und Leder. Stundenlang konnte er zuhören, wie die Trödler im Singsang ihre Waren anpriesen und die Hausfrauen sich keifend mit ihnen um die Preise stritten. Es gab kaum etwas, das hier nicht feilgeboten wurde: Linnen, Spitzen, Stoffe, Nähgarn, Leder, Fleisch, Gemüse, Nadeln, Schmierseife, gerupfte Hühnchen, Bonbons, Knöpfe.
An Samuels zwölftem Geburtstag nahm sein Vater ihn zum ersten Mal mit in die Stadt, nach Krakau. Schon die Aussicht auf den Ausflug erfüllte den Jungen mit großer Spannung: durch die verbotenen Tore zu gehen, Krakau kennenzulernen, zu sehen, wo die anderen Menschen wohnten, die Privilegierten, die Nicht-Juden.
Früh um sechs stand Samuel in seinem einzigen guten Anzug neben seinem Vater vor dem riesigen Tor zur Stadt, inmitten einer lauten Menge: Männer mit roh gezimmerten Hand- oder Schubkarren. Die Luft war schneidend kalt, und Samuel verkroch sich tief in seinen abgeschabten Mantel aus Schafswolle.
Es kam ihm vor, als seien Stunden vergangen, bis eine orangefarbene Sonne über dem östlichen Horizont erschien und erwartungsvolle Bewegung durch die Menge lief. Minuten später schwangen die gewaltigen Torflügel auf, und wie ein Heer emsiger Ameisen strömten die Händler der Stadt zu.
Als sie sich der wunderbaren, schrecklichen Stadt näherten, schlug Samuels Herz immer schneller. Vor sich sah er die klotzigen Festungsbauten, die sich über der Vistula türmten. Fester umklammerte er den Arm des Vaters. Ja, er war wirklich in Krakau, umgeben von den gefürchteten Gojim, jenen Leuten, die seinesgleichen jede Nacht einsperrten. Verstohlen warf er ängstliche Blicke auf die Gesichter der Passanten. Wie anders sie doch aussahen! Sie trugen keine langen schwarzen Gewänder wie seine Leute, und manche waren sogar glattrasiert. Samuel und sein Vater strebten dem Rynek zu, dem mit Menschen und Waren vollgepferchten Markt. Sie kamen am großen Tuchhaus vorbei, dann an der doppeltürmigen Marienkirche. Nie zuvor hatte Samuel solche Pracht gesehen. Die neue Welt steckte voller Wunder. Der mächtigste Eindruck war jedoch das aufregende Gefühl von Freiheit, von weitem, ausladendem Raum. Es nahm ihm den Atem. Die Häuser an den Straßen standen alle einzeln, nicht zusammengedrängt, und fast jedes hatte einen kleinen Vorgarten. Sicherlich, dachte Samuel, war jeder, der in Krakau lebte, ein reicher Mann. Sein Vater suchte ein halbes Dutzend Lieferanten auf, wo er Ware einkaufte, die er in den Wagen lud. Als der voll war, machten sich die beiden auf den Weg zurück zum Ghetto.
»Können wir nicht noch etwas bleiben?« bettelte Samuel.
»Nein, mein Sohn. Wir müssen heim.«
Doch Samuel wollte nicht heim. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er die Welt jenseits der Mauern gesehen, und er war so überwältigt davon, dass ihm fast der Atem stockte. Dass Menschen so leben durften, die Freiheit besaßen zu gehen, wohin immer sie wollten, zu tun, was immer ihnen beliebte... Warum war er nicht auch in Freiheit geboren? Sofort schämte er sich dieses Gedankens.
Doch an jenem Abend lag Samuel stundenlang wach. Er dachte an Krakau, die herrlichen Häuser mit ihren Blumen und Gärten. Auch für ihn musste es einen Weg in die Freiheit geben, und er musste ihn finden. Wie gern hätte er mit jemandem über die Gefühle gesprochen, die ihn bestürmten. Aber es gab weit und breit keine Menschenseele, die ihn verstanden hätte.
Elizabeth legte das Buch nieder. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen, fühlte sich in Samuels Einsamkeit versetzt, seine Aufregung und seine Frustration.
Und in diesem Moment begann Elizabeth, sich mit ihrem Vorfahren zu identifizieren, zu spüren, dass sie ein Teil von ihm war. Sein Blut floss in ihren Adern. Das Bewusstsein, irgendwo hinzugehören, war eine Offenbarung, berauschte sie.
Sie hörte das Auto ihres Vaters vorfahren, und schnell stellte sie das Buch an seinen Platz zurück. Während ihres Aufenthaltes in der Villa hatte sie keine Gelegenheit zum Weiterlesen, aber als sie nach New York zurückkehrte, lag das Buch ganz unten in ihrem Koffer versteckt.