Inspektor Max Hornung saß tief in Gedanken versunken an seinem Platz. Das Großraumbüro der Abteilung war erfüllt von Geräuschen, Stimmen, bimmelnden Telefonen, klappernden Schreibmaschinen, doch Hornung sah und hörte nichts von alledem. Er besaß die Konzentrationskraft eines Computers. Gegenstand seiner Grübelei war der Konzern Roffe und Söhne, genauer, seine Satzung, wie sie seinerzeit von dem alten Samuel bestimmt worden war: das Unternehmen nie aus dem Familienbesitz zu entlassen. Geradezu genial, dachte Hornung. Und gefährlich. Er fühlte sich an den italienischen Versicherungsplan des Bankiers Lorenzo Tonti Anno 1695 erinnert. Jedes Mitglied der sogenannten Tontine hatte eine gleich große Geldsumme beizubringen, und immer, wenn ein Mitglied starb, erbten die Hinterbliebenen den Anteil. Damit war ein starkes Motiv unter den Mitgliedern geschaffen, sich gegenseitig umzubringen. Wie bei Roffe und Söhne. War es nicht eine zu große Versuchung, jemanden Aktien im Werte von Abermillionen erben zu lassen, um ihm dann zu sagen, er dürfe sie nur mit allgemeiner Zustimmung verkaufen?
Max wusste, Sam Roffe hatte nicht zugestimmt. Und Sam Roffe war tot. Elizabeth Roffe hatte ebenfalls ihre Einwilligung verweigert. Zweimal war sie mit knapper Not dem Tod entgangen. Zu viele Unfälle, dachte Max. Er glaubte nicht an derartige Zufälle. Darum ließ er sich bei Chefinspektor Schmied melden.
Der war wenig beeindruckt. Nachdem er den Bericht über Sam Roffes Bergunfall angehört hatte, brummte er: »Na schön, da hat man eben den Namen des Bergführers verwechselt. Daraus kann man kaum auf Mord schließen, Hornung. Solche Hirngespinste reichen für meine Abteilung nicht aus, verstanden?«
Der Inspektor ließ sich nicht einschüchtern. »Ich glaube, es steckt mehr dahinter. Roffe und Söhne hat enorme Schwierigkeiten, intern, meine ich. Möglich, dass jemand die Lösung darin sah, Sam Roffe ins Jenseits zu befördern.«
Der Chefinspektor lehnte sich zurück und beäugte seinen Mitarbeiter. Natürlich steckte hinter dessen Theorien auch nicht ein Körnchen Wahrheit. Auf der anderen Seite lockte die Aussicht ungemein, Max Hornung für eine Weile loszuwerden. Seine Abwesenheit würde die Laune der ganzen Abteilung beträchtlich heben. Und dann gab es noch etwas anderes zu bedenken: die Leute, denen Max Hornung nachschnüffeln wollte. Niemand anders als ausgerechnet die mächtige Roffe-Dynastie. Normalerweise hätte Schmied seinen Untergebenen angewiesen, sich von denen so fern wie möglich zu halten. Wenn Hornung sie auch nur im geringsten reizte - und wie konnte der jemanden nicht reizen? -, hatten sie jederzeit genügend Machtmittel, um ihn aus dem Polizeidienst zu werfen. Und zwar schneller, als er Amen sagen konnte. In diesem Fall aber konnte niemand ihm, dem Chefinspektor Schmied, einen Vorwurf machen. War ihm Max Hornung nicht ohnehin aufgezwungen worden? Also eröffnete er ihm: »Das ist Ihr Fall. Nehmen Sie sich nur Zeit.« »Danke, Chefinspektor.« Max war im siebten Himmel.
Beim Rückweg in sein Büro stieß Hornung im Korridor auf den Leichenbeschauer. »Hornung!« rief der. »Sagen Sie, kann ich mir mal für einen Moment Ihr phänomenales Gedächtnis ausleihen?«
Max zwinkerte. »Wie bitte?«
»Die Wasserpolizei hat gerade ein Mädchen aus der Limmat gefischt. Würden Sie sich die Leiche mal ansehen?«
Max schluckte. »Wenn Sie Wert darauf legen.«
Das war ein Aspekt seines Berufs, den er nicht besonders schätzte, aber das Pflichtgefühl obsiegte.
Das Mädchen lag in dem üblichen unpersönlichen Stahlfach in der Leichenhalle. Sie hatte blondes Haar, war offenbar Anfang Zwanzig. Der Körper, vom Wasser aufgedunsen, war nackt. Nur um den Hals trug sie ein rotes Band.
»Allen Anzeichen nach hatte sie unmittelbar vor dem Tod Geschlechtsverkehr«, sagte der Leichenbeschauer. »Sie wurde erwürgt, dann in den Fluss geworfen. In den Lungen war kein Wasser. Ihre Fingerabdrücke sind nicht registriert. Haben Sie das Opfer schon einmal irgendwo gesehen?«
Max betrachtete lange das Gesicht der Toten. »Nein.«
Und er machte sich aus dem Staub. Er wollte den Bus zum Flughafen erreichen.