27. Kapitel

Berlin

Samstag, 3. November, 18 Uhr

Anna Roffe-Gassner wusste nicht, wie lange sie ihre Lage noch würde ertragen können.

Sie war zur Gefangenen in ihrem eigenen Haus geworden. Nur die Putzfrau kam einmal pro Woche für ein paar Stunden. Sonst waren Anna und die Kinder allein, auf Gnade und Ungnade Walther ausgeliefert. Er machte sich gar nicht mehr die Mühe, seinen Hass zu verbergen. Anna war im Kinderzimmer gewesen und hatte mit ihnen eine Platte gespielt, einer ihrer Lieblingsmelodien gelauscht:

»Welch ein Singen, Jubilieren, Pfeifen, Zwitschern, Tirilieren...«

Die Tür war aufgeflogen, Walther kam hereingestürmt. »Ich hab’ jetzt genug davon!« hatte er gebrüllt.

Und er hatte die Platte zerbrochen. Die Kinder verkrochen sich zitternd in eine Ecke.

Anna hatte versucht, ihn zu besänftigen. »Es tut mir so leid, Walther. Ich hab’ nicht gewusst, dass du schon zu Hause bist. Möchtest du etwas?«

Er hatte sich dicht vor ihr aufgebaut, seine Augen loderten, und er sagte kalt: »Wir werden uns die Kinder vom Hals schaffen, Anna.«

Und das vor ihren Ohren!

Er legte ihr die Hände auf die Schultern. »Was in diesem Haus geschieht, muss unser Geheimnis bleiben.« Unser Geheimnis. Unser Geheimnis. Unser Geheimnis.

Die Worte dröhnten ihr im Kopf. Sie fühlte, wie sich seine Arme um sie schlangen. Er presste sie so hart an sich, dass ihr der Atem verging. Sie sank in Ohnmacht.

Als Anna aufwachte, lag sie in ihrem Bett. Die Vorhänge waren zugezogen. Sie blickte auf die Uhr. Sechs Uhr abends. Das Haus lag ganz still. Zu still. Ihr erster Gedanke galt den Kindern. Angst griff mit eisigen Händen nach ihr. Sie stand auf, stolperte auf zittrigen Beinen zur Tür. Abgeschlossen. Von außen. So fest sie konnte, presste sie das Ohr an das Holz, lauschte. Sie hätte die Kinder hören müssen. Warum hörte sie nichts von ihnen? Sie müssten heraufgelaufen kommen, zu ihr. Das taten sie immer. Warum jetzt nicht? Sie müssten doch dasein.

Wenn sie noch gelebt hätten.

Ihre Beine zitterten so stark, dass sie kaum zum Telefon kam. Leise sprach sie ein Gebet, dann nahm sie den Hörer ab. Das vertraute Freizeichen ertönte. Noch zögerte sie. Sie durfte gar nicht daran denken, was Walther ihr antun würde, wenn er sie erwischte. Nein, nicht daran denken! Anna versuchte, 110 zu wählen. Doch ihre Hände zitterten zu stark. Sie verwählte sich, ebenso beim zweitenmal. Schluchzen stieg in ihr auf. Sie hatte nur noch wenig Zeit! Sie bekämpfte die Hysterie, versuchte es abermals, brachte ihren ganzen Willen auf. Immer mit der Ruhe. Sie hörte es klingeln. Dann - welch ein Wunder - eine Männerstimme. »Hier Polizeinotruf.«

Anna brachte kein Wort heraus.

»Hier Polizeinotruf«, wiederholte die Stimme. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ja!« Es war ein mühsam unterdrückter Schrei. »Ja, bitte! Ich bin in großer Gefahr. Bitte, schicken Sie jemanden -«

Walther ragte riesig vor ihr auf. Er riss ihr den Hörer aus der Hand, schleuderte sie gegen das Bett. Dann knallte er den Hörer auf die Gabel. Sein Atem ging keuchend. Er riss die Telefonschnur aus dem Stecker und drehte sich zu ihr um.

»Die Kinder«, flüsterte Anna. »Was hast du mit den Kindern gemacht?«

Walther antwortete ihr nicht.

Die Zentrale der Berliner Kriminalpolizei lag in der Keithstraße 28-32 in einer ruhigen Wohn- und Geschäftsgegend im Westen Berlins. Die Abteilung »Delikte am Menschen« war mit einer automatischen Fangschaltung ausgestattet. Der Anruf konnte zurückverfolgt werden, selbst wenn das Gespräch unterbrochen war. Auf diese Weise konnte jeder Anrufer festgestellt werden, so kurz er sich auch fassen mochte. Die hochmoderne Anlage war der Stolz der Abteilung.

Keine fünf Minuten nach Anna Gassners Anruf kam Wachtmeister Paul Lange mit einem Kassettenrecorder in das Büro seines Vorgesetzten, Hauptkommissar Wagemann.

»Hören Sie sich das einmal an.« Wachtmeister Lange betätigte das Gerät. Eine metallische Stimme sagte: »Hier Polizeinotruf. Kann ich Ihnen helfen?«

Dann eine Frauenstimme, in höchster Angst. »Ja! Ja, bitte! Ich bin in großer Gefahr. Bitte, schicken Sie jemanden -«

Darauf ein dumpfer Ton, wie ein Schlag, ein Klicken, und die Leitung war tot. Hauptkommissar Wagemann sah Wachtmeister Lange an. »Und? Haben Sie die Anruferin festgestellt?«

»Wir wissen, von wo der Anruf kam.« Lange drückte sich betont vorsichtig aus.

»Na und? Was behelligen Sie mich dann damit?« raunzte Wagemann ungehalten. »Sagen Sie der Zentrale Bescheid, sie soll einen Wagen schicken zum

Überprüfen.«

»Ich wollte doch lieber erst Ihre Meinung hören.« Und Wachtmeister Lange legte einen Zettel vor seinen Chef.

»Verdammte Scheiße!« Der Hauptkommissar starrte ihn an. »Sind Sie sicher?«

»Absolut.«

Wagemann betrachtete noch einmal den Zettel. Das Telefon lief auf den Namen Gassner, Walther. Wagemann wusste nur zu gut: Er war der Chef der deutschen Niederlassung von Roffe und Söhne, einem der Industriegiganten der Stadt.

Über die Folgen brauchten sich die beiden nicht zu unterhalten. Nur ein Hornochse hätte da nicht geschaltet. Eine falsche Bewegung, und sie beide stünden auf der Straße, konnten sich beim Arbeitsamt melden. Wagemann überlegte einen Moment. »Also gut. Gehen Sie der Sache nach. Ich will, dass Sie selbst hinfahren. Und, verdammt noch mal, behandeln Sie die Angelegenheit wie rohe Eier. Haben Sie verstanden?«

»Jawohl, Herr Kommissar.«

Die Villa Gassner lag in Wannsee, dem exklusiven Stadtteil im Südwesten Berlins. Wachtmeister Lange nahm den Weg über den Hohenzollerndamm bis zum Roseneck. Dann bog er in die Clay-Allee ein, fuhr am USIA-Gebäude vorbei. Nachdem er das amerikanische Hauptquartier passiert hatte, bog er rechts ab in die Potsdamer Chaussee, eine der längsten Ausfallstraßen Berlins, die nach Wannsee führt. Hier gab es vorwiegend Privatvillen, alle schön und eindrucksvoll gelegen, mit herrlichen Gärten, manche mit einem eigenen Bootssteg. Sonntags ging Wachtmeister Lange manchmal mit seiner Frau dort spazieren, um die schönen Grünanlagen zu betrachten und die Segelboote auf dem Wannsee.

Er fand die gesuchte Adresse und bog in die lange Auffahrt zum Anwesen der Gassners ein. Es verkörperte mehr als nur Reichtum. Es war die zu Stein gewordene Macht. Die Dynastie Roffe war mächtig genug, um Regierungen zu stürzen. Wagemann hatte völlig recht gehabt: Er musste mit äußerster Vorsicht zu Werk gehen.

Wachtmeister Lange hielt vor dem Portal der dreistöckigen Villa. Er stieg aus und klingelte. Ihn umfing die lastende Stille eines einsamen Hauses. Aber er wusste, das konnte nicht sein. Er klingelte ein zweites Mal. Kein Echo, gleichbleibende Stille. Gerade überlegte er, ob er um das Haus herum nach hinten gehen sollte, als die Tür plötzlich geöffnet wurde. Auf der Schwelle stand eine Frau. Sie war mittleren Alters, keinesfalls hübsch und trug einen zerknitterten Morgenrock. Wachtmeister Lange meinte, es mit der Haushälterin zu tun zu haben. Er zeigte seinen Dienstausweis. »Ich möchte bitte Frau Gassner sprechen. Sagen Sie ihr, Wachtmeister Lange wäre hier.«

»Ich bin Frau Gassner«, erklärte die Frau.

Wachtmeister Lange versuchte, sein Erstaunen zu verbergen. Die Frau entsprach so gar nicht seinen Vorstellungen von der Herrin dieses Hauses.

»Ich - wir haben bei der Kripo vor kurzem einen Notruf erhalten«, begann er umständlich.

Sie sah ihn regungslos an. Wachtmeister Lange hatte das unbestimmte Gefühl, die Situation zu verpatzen; wie und warum, wusste er selbst nicht. Auf jeden Fall war ihm, als entginge ihm etwas Wichtiges.

»Haben Sie angerufen, Frau Gassner?«

»Ja«, kam die Antwort. »Es war ein Irrtum.«

Ihre Stimme klang tot, fast körperlos. Ihn überlief ein merkwürdiges Kribbeln. Nur zu genau erinnerte er sich an die schrille, fast hysterische Stimme der Anruferin vor kaum mehr als einer halben Stunde.

»Leider muss ich dennoch einen Bericht machen. Darf ich also fragen, um welche Art von Irrtum es sich handelte?«

Ihr Zögern war kaum wahrnehmbar. »Da war - ich glaubte, von meinen Juwelen hätte ein Stück gefehlt. Ich habe es gefunden.«

»Verstehe.« Wachtmeister Lange zögerte. Er hätte gern das Haus betreten, um herauszufinden, was er offensichtlich nicht herausfinden sollte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu sagen: »Vielen Dank, Frau Gassner. Tut mir leid, Sie gestört zu haben.«

Frustriert stand er da und sah zu, wie die Haustür sich schloss. Direkt vor seiner Nase. Langsam stieg er ins Auto und fuhr davon.

Hinter der Tür drehte sich Anna um.

Walther nickte. Seine Stimme war ganz leise. »Das hast du sehr gut gemacht, Anna. Und jetzt gehen wir wieder nach oben.«

Er wandte sich zur Treppe, und Anna brachte eine große Schere aus den Falten des Morgenmantels zum Vorschein. Sie stieß ihm das spitze Instrument tief in den Rücken.

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