In der Friedhofshalle von Sihlfeld herrschte drangvolle Enge. Es war ein altmodisches, mit Ornamenten versehenes Bauwerk aus Stein und Marmor, enthielt Aufbahr-Räume und ein Krematorium. Der Trauergottesdienst fand in der weitläufigen Kapelle statt. Zwei Dutzend leitende Angestellte und Mitarbeiter von Roffe und Söhne nahmen die vorderen Sitzreihen ein. Weiter hinten saßen Freunde, Mitglieder der Kirchengemeinde und die Presse. Inspektor Hornung hatte sich die letzte Reihe ausgesucht. Er sann über den Tod nach. Für ihn eine ganz und gar unlogische Angelegenheit. Der Mensch erreichte den Gipfel seines Lebens, und dann, wenn er am meisten zu geben hatte und es sich für ihn erst voll zu leben lohnte, dann starb er. Welche Verschwendung.
Der Sarg war aus Mahagoni und über und über mit Blumen bedeckt. Ebensolche Verschwendung, dachte Inspektor Hornung. Der Sarg war bereits versiegelt. Max konnte sich denken, warum. Der Geistliche sprach mit dem Tonfall des Jüngsten Gerichts. »... Tod in der Mitte des Lebens, geboren in Sünde, Asche zu Asche.« Hornung hörte kaum zu. Er beobachtete die Anwesenden.
»Der Herr gibt, und der Herr nimmt.«
Die Trauergemeinde erhob sich und strebte dem Ausgang zu. Die Feier war vorüber.
Hornung stand an der Tür. Als eine Frau und ein Mann sich näherten, trat er vor. »Miss Elizabeth Roffe? Ich hätte gern ein paar Worte mit Ihnen gewechselt.«
Gegenüber der Friedhofskapelle lag eine Konditorei. An einem Ecktisch nahm der Inspektor mit Elizabeth Roffe und Rhys Williams Platz. Durch das Fenster beobachteten sie, wie der Sarg in einen grauen Leichenwagen geschoben wurde. Elizabeth wandte den Blick ab.
»Was soll das alles eigentlich?« wollte Rhys wissen. »Miss Roffe hat vor der Polizei bereits ihre Aussage gemacht.«
Hornung sah ihn an. »Mr. Williams, nicht wahr? Es gibt nur noch einige Details, die ich überprüfen möchte.«
»Kann das nicht warten? Miss Roffe ist großen seelischen -«
Elizabeth berührte seine Hand. »Schon gut, Rhys. Wenn ich irgendwie helfen -« Sie wandte sich an Max. »Was möchten Sie wissen, Herr Inspektor?«
Max starrte sie an und war zum ersten Mal in seinem Leben um Worte verlegen. Frauen waren ihm so fremd wie Wesen von einem anderen Stern. Sie waren unlogische und unberechenbare Geschöpfe, die emotional reagierten und nicht dem Verstand gehorchten. Man konnte sie nicht programmieren. Max verspürte nur selten sexuelle Regungen, denn er war ein Verstandesmensch, doch die präzise Logik sexueller Vorgänge imponierte ihm. Der sexuelle Akt war der mechanische Ablauf verschiedener Bewegungen, die zueinander passten und ein koordiniertes, funktionelles Ganzes ergaben, das ihn erregte. Darin drückte sich für Max die Poesie der Liebe aus, in der reinen Dynamik des Ablaufs. Seiner Ansicht nach hatten die Dichter diesen Punkt bisher übersehen. Gefühle waren unpräzise und unordentlich, eine Energieverschwendung, die nicht einmal ein Sandkorn verschieben konnte. Logik dagegen bewegte die ganze Welt. Jetzt aber staunte Max über sich selbst. Elizabeths Nähe bereitete ihm kein Unbehagen, ganz im Gegenteil. Das wiederum raubte ihm die Worte. Keine Frau hatte jemals derart auf ihn gewirkt. Offensichtlich hielt sie ihn nicht, wie andere Frauen, für einen hässlichen und lächerlichen Zwerg. Er zwang sich, den Blick von ihr abzuwenden. Was er brauchte, war Konzentration.
»War es üblich, Miss Roffe, dass Sie abends spät noch arbeiteten?«
»Sehr oft, ja«, erwiderte Elizabeth.
»Wie spät?«
»Das war verschieden. Manchmal bis zehn, manchmal bis Mitternacht oder länger.«
»Also eine Art Gewohnheit? Das heißt, den Leuten in Ihrer Umgebung war das bekannt?«
Sie sah ihn erstaunt an. »Ich denke schon.«
»Am Abend, als der Aufzug abstürzte, da haben Sie, Mr. Williams und Kate Erling noch spät gearbeitet?«
»Ja.«
»Aber Sie gingen nicht gemeinsam weg?«
»Ich musste früher gehen«, warf Rhys ein. »Hatte eine Verabredung.«
Max musterte ihn einen Moment, wandte sich dann wieder Elizabeth zu. »Wann sind Sie gegangen, ich meine, wie lange nach Mr. Williams?«
»Etwa eine Stunde später, nehme ich an.«
»Sind Sie zusammen mit Kate Erling weggegangen?«
»Ja. Wir holten unsere Mäntel und traten auf den Flur.« Elizabeths Stimme schwankte. »Der Aufzug war bereits da, die Tür stand offen.«
Der Direktionsexpreß.
»Was geschah dann?« fragte Max.
»Wir stiegen beide ein. Im Büro klingelte das Telefon. Kate - Miss Erling sagte: >Ich gehe ran< und wollte aus dem Aufzug aussteigen. Aber ich erwartete ein ÜberseeGespräch, das ich zuvor angemeldet hatte, und darum sagte ich, ich würde selbst ans Telefon gehen.« Elizabeth unterbrach sich. In ihren Augen stiegen Tränen auf. »Ich verließ den Aufzug. Sie fragte, ob sie auf mich warten sollte, und ich sagte: >Nein, fahren Sie schon los.< Sie drückte auf den Knopf für das Erdgeschoß. Ich ging zum Büro, und als ich gerade die Tür aufmachte, hörte ich - da kam das furchtbare Schreien, und dann...« Sie konnte nicht weitersprechen.
Rhys wandte sich zornig an den Inspektor. »Jetzt reicht’s aber. Würden Sie uns bitte verraten, was das alles soll? Worum geht es eigentlich?«
Es geht um Mord, dachte Hornung. Jemand hatte versucht, Elizabeth Roffe umzubringen. Er saß da, in tiefer Konzentration versunken. Er ließ alles an sich vorbeiziehen, was er in den vergangenen achtundvierzig Stunden über Roffe und Söhne in Erfahrung gebracht hatte. Ein Unternehmen, das offenbar unter dem Zorn der Götter stand. Da mussten astronomische Summen aufgrund von Schadensersatzklagen gezahlt werden, die Öffentlichkeit reagierte entsprechend: Kunden sprangen ab, und der Konzern schuldete seinen Gläubigern enorme Summen. Und die Gläubiger, die Banken, wurden immer ungeduldiger. Kurz, das Unternehmen schien für eine Veränderung reif. Sein Präsident, Sam Roffe, im Besitz der Anteilsmehrheit, starb plötzlich. Ein hervorragender Bergsteiger erlitt einen tödlichen Unfall in den Bergen. Die Anteilsmehrheit ging an seine Tochter Elizabeth über, die wiederum ums Haar in einem Jeep auf Sardinien umgekommen wäre und kurz danach nur ebenso knapp dem Tod in einem außer Kontrolle geratenen Aufzug entging, einem Lift noch dazu, der kurz zuvor eine Inspektion gehabt hatte. Irgend jemand spielte tödliche Spiele.
Inspektor Hornung hätte eigentlich zufrieden sein müssen. Er hatte ein loses Ende gefunden. Aber jetzt, da er Elizabeth Roffe begegnet und sie für ihn nicht nur ein Name war, reagierte er ganz anders. Diese Frau war keine Gleichung in einem mathematischen Puzzle. Sie war etwas ganz Besonderes. Max spürte den Drang, sie zu beschützen, die Gefahr von ihr abzuwenden.
»Ich habe gefragt, was das alles soll«, wiederholte Rhys.
Max sah ihn an. Seine Antwort war vage. »Äh - na ja, Sie wissen schon, Mr. Williams. Die üblichen Routinenachforschungen. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.«
Max Hornung hatte Dringendes zu erledigen.