Berlin
Montag, 1. Dezember, 10 Uhr
Die Schmerzen waren kaum noch zu ertragen, und er lebte jetzt schon vier Wochen damit.
Der Arzt hatte ihm Tabletten dagelassen, aber Walther Gassner hatte Angst, sie zu nehmen. Er musste immer hellwach bleiben, durfte sich nicht einlullen lassen. Sonst würde Anna noch einmal versuchen, ihn umzubringen. Oder zu fliehen.
»Sie müssen sofort in ein Krankenhaus«, hatte der Arzt gesagt. »Sie haben eine Menge Blut verloren.«
»Nein!« Nur das nicht! Das Krankenhaus war das letzte, das für ihn in Frage kam. Walther wusste, Stichwunden wurden der Polizei gemeldet. Er hatte nach dem Werksarzt geschickt, weil er dessen Diskretion kannte. Der würde die Wunde nicht melden. Walther konnte einfach nicht riskieren, dass die Polizei in seinem Haus herumschnüffelte. Jetzt nicht. Schweigend hatte der Arzt die klaffende Wunde genäht. Als er fertig war, hatte er gefragt: »Soll ich Ihnen eine Schwester schicken, Herr Gassner?«
»Nein, vielen Dank. Meine - meine Frau wird mich versorgen.«
Das war vor einem Monat gewesen. Walther hatte seiner Sekretärin telefonisch Bescheid gegeben, er hätte einen Unfall gehabt und müsste das Bett hüten.
Wieder dachte er an den schrecklichen Augenblick, als Anna versucht hatte, ihn mit der Schere zu töten. Er hatte sich gerade noch rechtzeitig umgedreht und bekam die Spitze in die Schulter, sonst wäre sie ihm durch das Herz gefahren. Vor Schmerzen und vom Schock wäre er fast ohnmächtig geworden, doch er hatte sich lange genug bei Bewusstsein halten können, um Anna wieder ins Schlafzimmer zu zerren und sie einzuschließen. Während der ganzen Zeit schrie sie gellend: »Was hast du mit den Kindern gemacht? Was hast du mit den Kindern gemacht?«
Seit damals hatte Walther sie im Schlafzimmer eingesperrt gehalten. Er bereitete ihr alle Mahlzeiten und trug sie auf einem Tablett nach oben. Wenn er die Tür aufschloss und hineinging, saß sie fast immer in eine Ecke gekauert, versuchte, sich vor ihm in den äußersten Winkel zu verkriechen, und flüsterte: »Was hast du mit den Kindern gemacht?«
Manchmal, wenn er das Zimmer betrat, fand er sie mit dem Ohr an die Wand gepresst. Sie lauschte auf ein Lebenszeichen ihres Sohnes und der Tochter. Das Haus war jetzt still und verlassen, beherbergte nur Walther und Anna. Walther wusste, er hatte nicht mehr viel Zeit. Seine Gedanken wurden unterbrochen. Ein leises Geräusch drang an seine Ohren. Er passte genau auf. Da war es wieder! Oben im Flur bewegte sich jemand. Außer ihnen beiden konnte niemand im Haus sein. Er selbst hatte alle Türen versiegelt...
Oben staubte Frau Mendler die Möbel ab. Sie arbeitete tagsüber und war erst zum zweitenmal in diesem Haus, das ihr im übrigen auf die Nerven ging. Beim ersten Mal, am vorigen Mittwoch, war Herr Gassner ihr auf Schritt und Tritt gefolgt, als ob er aufpassen wollte, dass sie nichts stahl. Als sie in den ersten Stock gehen und dort saubermachen wollte, hatte er sich ihr wütend in den Weg gestellt, ihr den Lohn ausgezahlt und sie nach Hause geschickt. Sein Gesichtsausdruck hatte ihr eine Heidenangst eingejagt.
Gott sei Dank, heute war er nirgends zu sehen. Frau Mendler hatte selbst aufgeschlossen, mit dem Schlüssel, den sie in der vergangenen Woche mitgenommen hatte. Dann war sie gleich nach oben gegangen. Im Haus herrschte eine unnatürliche Stille, und sie schloss daraus, dass niemand anwesend war. Sie hatte ein Schlafzimmer aufgeräumt und dabei etwas Kleingeld und eine goldene Pillendose gefunden. Dann ging sie über den Flur zur nächsten Tür. Die war abgeschlossen. Merkwürdig. Ob da drinnen wohl Wertsachen aufbewahrt wurden? Sie drückte noch einmal die Klinke herunter. Von drinnen flüsterte eine Frauenstimme: »Wer ist da?«
Frau Mendler riss die Hand von der Klinke, als hätte sie einen Stromschlag bekommen.
Wieder das Flüstern. »Wer ist da? Wer ist da draußen?«
»Frau Mendler, die Putzfrau. Soll ich Ihr Schlafzimmer saubermachen?«
»Das geht nicht. Ich bin eingeschlossen.« Die Stimme war jetzt lauter, voller Hysterie. »Bitte, helfen Sie mir. Rufen Sie die Polizei. Sagen Sie, mein Mann hat unsere Kinder umgebracht. Jetzt will er mich umbringen. Schnell! Laufen Sie aus dem Haus, bevor er -«
Eine Hand packte ihre Schulter und wirbelte Frau Mendler herum, und sie starrte in das Gesicht von Herrn Gassner. Er war blass wie ein Leichentuch.
»Was schnüffeln Sie hier herum?« fuhr er sie an. Er hielt ihren Arm wie in einem Schraubstock. Es tat weh.
»Ich - ich schnüffle nicht herum«, antwortete sie ängstlich. »Heute ist mein Putztag hier. Die Agentur -«
»Ich hab’ doch der Agentur ausdrücklich gesagt, ich will niemanden mehr hier haben. Ich -« Er unterbrach sich. Hatte er die Agentur wirklich angerufen? Vorgehabt hatte er es auf jeden Fall. Aber die Schmerzen waren so stark, dass er sich nicht mehr erinnern konnte. Frau Mendler sah ihm in die Augen, und es fuhr ihr eiskalt über den Rücken.
»Das haben die mir aber nicht gesagt«, antwortete sie.
Walther stand ganz still, horchte auf Geräusche hinter der verriegelten Tür. Aber es blieb alles still.
Er drehte sich zu Frau Mendler um. »Gehen Sie. Sofort. Und kommen Sie nie wieder.«
Sie konnte das Haus gar nicht schnell genug verlassen. Er hatte sie nicht entlohnt, aber in ihrer Tasche trug sie die Pillendose und das Kleingeld von der Kommode. Die arme Frau hinter der verriegelten Tür tat ihr ehrlich leid. Sie hätte ihr gern geholfen, aber mit der Polizei konnte sie sich nicht einlassen. Dort war sie keine Unbekannte.
In Zürich las Inspektor Hornung ein an ihn adressiertes Telegramm von Interpol:
»Nummer der Rechnung über Filmmaterial Mord-Porno weist Roffe und Söhne als Bezieher aus. Einkäufer bei Firma nicht mehr beschäftigt. Fahnden nach ihm. Halten Sie auf dem laufenden. Ende.«
In Paris fischte die Polizei einen nackten Frauenkörper aus der Seine. Das Mädchen war blond, keine Zwanzig. Es trug ein rotes Band um den Hals.
In Zürich war Elizabeth Williams unter Polizeischutz gestellt worden, rund um die Uhr.