34. Kapitel

Eine Woche nach Kate Erlings Tod ging Elizabeth zum ersten Mal wieder ins Büro. Ängstlich, fast zitternd, betrat sie die große Halle, antwortete wie ein Automat auf die Willkommensgrüße des Portiers und der Sicherheitsbeamten. An der rückwärtigen Wand sah sie Arbeiter am Werk. Sie waren mit dem Einbau des neuen Fahrkorbs für den Direktionslift beschäftigt. Sofort fiel ihr wieder Kate Erling ein. Sie konnte nur ahnen, welch grauenvolle Sekunden Kate durchlebt haben musste während ihres zwölf Stockwerke langen Todessturzes. Elizabeth wusste, den Direktionsexpreß würde sie nie im Leben wieder benutzen.

Als sie in ihr Büro kam, hatte Henriette, ihre zweite Sekretärin, die Post schon geöffnet und ordentlich auf dem Schreibtisch sortiert. Schnell ging Elizabeth die Stapel durch, versah Memoranden mit ihren Initialen, adressierte Berichte und Anfragen an die zuständigen Abteilungsleiter um oder schrieb Bemerkungen und Order an den Rand. Ganz zuunterst lag ein großer versiegelter Umschlag mit der Aufschrift: Elizabeth Roffe persönlich. Elizabeth nahm den Brieföffner und schlitzte den Umschlag auf. Sie zog eine Fotografie heraus, Größe acht mal zehn. Es handelte sich um die Porträtaufnahme eines mongoloiden Kindes: Hervorquellende riesige Augen starrten sie aus einem deformierten Schädel an. An das Foto war ein Zettel geheftet. Darauf stand mit Bleistift: »DAS IST MEIN GELIEBTER SOHN JOHN. IHR PRÄPARAT HAT IHM DAS ANGETAN! DAFÜR BRINGE ICH SIE UM.«

Foto und Zettel flatterten auf den Tisch. Elizabeth merkte, dass ihre Hände zitterten. In diesem Augenblick kam Henriette mit einer Unterschriftsmappe herein.

»Die Briefe sind fertig, Miss -« Sie sah Elizabeths Gesichtsausdruck. »Stimmt etwas nicht?«

Elizabeth rang um Haltung. »Bitte - sagen Sie doch Mr. Williams, er möchte zu mir kommen.« Wieder wurde ihr Blick von dem Foto auf dem Schreibtisch gefangen.

Wie konnte Roffe und Söhne für derart schreckliche Dinge verantwortlich sein?

»Es war unsere Schuld«, erläuterte Rhys. »Eine Ladung Medikamente wurde falsch etikettiert. Die meisten konnten wir rechtzeitig wieder einziehen, aber -« Er hob hilflos die Hände.

»Wann ist das passiert?«

»Vor fast vier Jahren.«

»Wie viele Leute kamen zu Schaden?«

»Ungefähr hundert.« Er sah ihre Miene und fügte schnell hinzu: »Wir zahlten Entschädigung. Und, Liz, lange nicht alle hatten so schwere Folgen wie das Kind da. Sie können sicher sein, wir sind verdammt vorsichtig. Alle nur denkbaren Sicherheitsvorkehrungen werden getroffen. Aber es gibt nun mal so was wie menschliches Versagen. Fehler lassen sich nicht immer vermeiden.«

Elizabeth starrte immer noch das Foto des Kindes an. »Es ist einfach furchtbar.«

»Dieser Brief hätte Ihnen nicht vorgelegt werden dürfen.«

Rhys fuhr sich mit den Fingern durch das dichte schwarze Haar. »Ausgerechnet jetzt muss Ihnen das vor Augen kommen, eine schlechtere Zeit hätte man sich nicht aussuchen können. Aber wir haben noch andere Probleme, wichtigere als das da.«

Was konnte wichtiger sein, dachte sie, als ein fürs Leben geschädigtes Kind? »Und worum geht es?«

»Die Federal Drug Association hat gerade über unsere Aerosol-Sprays entschieden, und zwar negativ. In zwei Jahren werden sämtliche Aerosole verboten sein.«

»Wie wird sich das auswirken?«

»Schlimm - eine schlimme Sache. Die Entscheidung bedeutet, dass wir ein halbes Dutzend Fabriken rund um die Erde werden schließen müssen. Außerdem verlieren wir einen unserer ertragreichsten Märkte.«

Elizabeth dachte an Emil Joeppli und sein Projekt, aber sie sagte nichts. »Und? Sonst noch Hiobsbotschaften?«

»Haben Sie heute früh die Zeitungen gesehen?«

»Nein.«

»Die Frau eines belgischen Ministers, Madame van den Logh, hat Benexan genommen.«

»Eins unserer Mittel?«

»Ja. Ein Präparat, das man bei hohem Blutdruck nicht einnehmen darf, wie man klipp und klar der Beschreibung entnehmen kann. Aber sie hat sie nicht beachtet.«

Elizabeth fühlte, wie sich ihr Körper verkrampfte. »Was ist passiert?«

»Sie liegt im Koma«, erwiderte Rhys. »Es ist fraglich, ob sie durchkommt. Alle Zeitungsberichte erwähnen, dass es sich um eines unserer Produkte handelt. Schon gehen Abbestellungen aus aller Welt ein. Die FDA hat uns in Kenntnis gesetzt, dass eine Untersuchung stattfinden wird, aber die kann mindestens ein Jahr dauern. Bis dahin dürfen wir das Mittel weiter verkaufen.«

»Ich will, dass es sofort zurückgezogen wird«, ordnete Elizabeth an.

»Aber dafür gibt es nicht die geringste Veranlassung. Es handelt sich um ein anerkannt wirksames Mittel gegen -«

»Hat es noch anderen Menschen geschadet?«

»Es hat Tausenden geholfen.« Rhys’ Stimme war kühl.

»Es ist eines unserer wirksamsten -«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«

»In ein paar vereinzelten Fällen, nehme ich an. Ja, doch. Aber -«

»Das Erzeugnis wird umgehend aus dem Verkehr gezogen. Sofort.«

Er saß still da, versuchte, seinen Ärger zu unterdrücken. Schließlich fragte er: »Interessiert es Sie, was dieser Schritt den Konzern kosten wird?«

»Nein.«

Rhys nickte. »Also dann. Übrigens, bis jetzt haben Sie nur die guten Neuigkeiten gehört. Nun kommen die schlechten: Die Bankiers verlangen eine Konferenz mit Ihnen. Und zwar gleich. Sie annullieren die Darlehen.«

Elizabeth saß allein in ihrem Büro, dachte an das mongoloide Kind, an die Frau, die im Koma lag, weil sie eine Medizin genommen hatte, die Roffe und Söhne ihr verkauft hatte. Zwar wusste Elizabeth sehr gut, dass solche Tragödien vorkamen, und keineswegs nur bei Roffe und Söhne. Fast täglich konnte man in den Zeitungen über ähnliche Fälle lesen, aber nie hatte sich Elizabeth derart direkt betroffen gefühlt. Ihr war, als trüge sie persönlich die Verantwortung. Sie beschloss, eine Konferenz mit allen Abteilungsleitern, die für Sicherheitsvorkehrungen zuständig waren, einzuberufen. Vielleicht ließ sich hier doch einiges verbessern.

Das ist mein geliebter Sohn John.

Madame van den Logh liegt im Koma. Es ist fraglich, ob sie durchkommt.

Die Bankiers verlangen eine Konferenz mit Ihnen. Und zwar gleich. Sie annullieren die Darlehen.

Die Hiobsbotschaften schnürten Elizabeth den Hals zu. Als würden die Gegner von allen Seiten auf sie eindringen. Zum ersten Mal fragte sich Elizabeth allen Ernstes, ob sie der Sache gewachsen war. Die Bürden waren einfach zu schwer, und sie häuften sich. Sie drehte sich mit ihrem Sessel um; ihre Augen suchten das Bild des alten Samuel an der Wand. Der sah so kompetent aus, so selbstsicher. Aber sie kannte seine Zweifel und Ängste, wusste, wie oft er verzagt gewesen war. Und doch hatte er durchgehalten. Auch sie würde es schaffen, irgendwie. Auch sie war eine Roffe.

Ihr fiel auf, dass das Bild schief hing. Wahrscheinlich eine Nachwirkung des Fahrstuhlabsturzes, dachte Elizabeth. Sie stand auf, um es geradezurücken. Als sie es anhob, brach der Haken aus der Wand, und das Gemälde schlug auf den Boden. Elizabeth sah nicht einmal nach unten. Sie blickte auf die Wand, wo das Bild gehangen hatte. Ein winziges Mikrofon, mit Klebestreifen an der Täfelung befestigt, starrte sie an.

Vier Uhr früh: Emil Joeppli machte wieder einmal Überstunden. Das war ihm in jüngster Zeit zur Gewohnheit geworden. Auch wenn Elizabeth Roffe ihm keinen bestimmten Stichtag gesetzt hatte, wusste Joeppli ganz genau, wie wichtig seine Arbeit für den Konzern war, und er setzte alles daran, so schnell wie möglich voranzukommen. In letzter Zeit waren ihm bestürzende Gerüchte über die Firma zu Ohren gekommen. Er wollte alles tun, um mit seinen Kräften dazu beizutragen, ihr aus der Klemme zu helfen. Der Konzern war wie eine Mutter für ihn gewesen, bezahlte ihm ein großzügiges Gehalt und ließ ihm völlig freie Hand. Sam Roffe hatte er verehrt, und seine Tochter mochte er auch sehr. Elizabeth Roffe würde es nie erfahren, aber diese nächtlichen Arbeitsstunden waren sein persönliches Geschenk an sie. Er saß tief über seinen Schreibtisch gebeugt und überprüfte die Ergebnisse seiner letzten Versuche. Seine Miene hellte sich immer mehr auf: Das war ja besser, als er zu hoffen gewagt hatte. Da saß er, ganz versunken in seine Gedanken, merkte weder den Gestank der Tiere in ihren Käfigen noch die feuchte Laborluft, und wenn ihn jemand nach der Uhrzeit gefragt hätte, dann hätte er nur mit den Achseln gezuckt. Die Tür ging auf. Der Wächter der sogenannten Friedhofsschicht, Sepp Nolan, kam herein. Nolan hasste den Nachtdienst. Über den verlassenen Laborräumen lag etwas Unheimliches, und der Tiergestank bereitete ihm Übelkeit. Nolan fragte sich immer wieder, ob all die Tiere, die hier getötet wurden, Seelen hatten, Seelen, die des Nachts unruhig durch die Räume und Korridore strichen. Ich müsste eine Spuk-Zulage verlangen, dachte er. Alle anderen waren längst zu Hause. Bis auf den sonderbaren Professor hier zwischen seinen Kaninchen und Hamstern.

»Wie lange bleiben Sie noch, Doktor?« erkundigte sich Nolan.

Joeppli sah hoch, bemerkte den Wächter zum ersten Mal. »Wie bitte?«

»Dachte nur, wenn Sie hier noch länger zu tun haben, kann ich Ihnen ein Sandwich und was zu trinken bringen. Bin auf dem Weg zur Kantine, will ‘nen Happen essen.«

»Ich hätte nur gern Kaffee, wenn’s keine Umstände macht.« Joeppli war sofort wieder in seine Arbeit versunken.

Nolan sagte noch: »Wenn ich rausgehe, schließe ich die Tür hinter mir ab. Bin aber gleich zurück.«

Joeppli hörte ihn gar nicht mehr.

Zehn Minuten später ging die Labortür abermals auf. Eine Stimme drang an sein Ohr. »Sie arbeiten aber lange, Emil.«

Joeppli fuhr erschrocken hoch. Als er seinen Besucher erkannte, stand er schnell auf. Er war verwirrt und zugleich stolz, dass er von einem so hochgestellten Mann besucht wurde.

»Die Quelle ewiger Jugend. Top secret, was?«

Emil zögerte. Er hatte strengste Anweisung von Miss Roffe, mit niemandem darüber zu reden. Kein Mensch sollte davon wissen. Aber das galt natürlich nicht für seinen Besucher. Er hatte ihm einst zu der Position verholfen. Also lächelte Emil Joeppli. »Ganz recht, top secret.«

»Ausgezeichnet. Das soll es auch bleiben. Wie geht’s denn voran?«

»Großartig.«

Der Besucher wanderte in dem kleinen Labor umher, trat an einen Kaninchenkäfig. Emil Joeppli war ihm gefolgt. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

Der Mann lächelte. »Nein, Emil. Ich kenne mich ganz gut aus.«

Er wandte sich ab. Mit dem Ärmel streifte er eine leere Futterschüssel, die polternd zu Boden fiel. »Oh! Tut mir leid.«

»Aber das macht doch nichts. Ich heb’s auf.« Emil Joeppli bückte sich und langte nach der Schüssel. Sein Hinterkopf schien in einem feuerroten Funkenregen zu explodieren, und als letztes sah er, wie der Fußboden ihm entgegenkam.

Das Telefon hörte nicht auf zu läuten. Elizabeth öffnete die Augen. Schlaftrunken sah sie auf die Digitaluhr. Fünf Uhr früh. Sie langte nach dem Hörer, bekam ihn mühsam von der Gabel. Eine hysterische Männerstimme schlug an ihr Ohr. »Miss Roffe? Hier spricht der Sicherheitschef vom Werk. Wir haben eine Explosion gehabt, in einem von den Labors. Es wurde vollständig zerstört.« Sofort war sie hellwach. »Ist jemand verletzt worden?« »Ja, Madame. Ein Wissenschaftler ist tot. Verbrannt.« Er brauchte Elizabeth den Namen gar nicht mehr zu nennen.

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