14. Kapitel

Mit der freien Hand kniff der schwedische Botschafter Elizabeth sanft ins Hinterteil. Sie tanzten über das Parkett, und Elizabeth versuchte, den Annäherungsversuch zu ignorieren. Ihrem Lächeln war nichts anzumerken. Ihr erfahrener Blick nahm das glanzvolle Treiben um sie herum wahr, die elegant gekleideten Gäste, das Orchester, Diener in Livree, das Büffet, beladen mit exotischen Köstlichkeiten und erlesenen Weinen. Zufrieden stellte sie fest: eine gelungene Party.

Schauplatz war der Ballsaal ihres Hauses auf Long Island, zweihundert Gäste, jeder einzelne wichtig für Roffe und Söhne. Elizabeths Tanzpartner machte sich wieder bemerkbar: Der schwedische Botschafter presste seine elegante Gestalt immer fester an ihren Körper, jetzt ganz eindeutig auf Eroberung aus. Als nächstes fühlte sie seine Zungenspitze in ihrem Ohr und vernahm sein Flüstern: »Sie sind eine wundervolle Tänzerin -«

»Und Sie sind auch nicht ohne«, gab Elizabeth zurück. Im selben Moment improvisierte sie einen tänzerischen Fehltritt, und ihr spitzer Absatz landete auf dem großen Zeh des Botschafters. Der stieß einen kleinen Schmerzensschrei aus. Elizabeth war die leibhaftige Reue. »Es tut mir so leid, Exzellenz! Lassen Sie mich Ihnen einen Drink besorgen.«

Schon war sie in Richtung Bar entschwunden. Gewandt schlängelte sie sich durch die Schar der Gäste, ließ ihre Blicke zugleich über den ganzen Ballsaal schweifen, um festzustellen, ob auch alles perfekt war.

Perfektion - das war es, was ihr Vater verlangte. Mittlerweile hatte Elizabeth auf mindestens hundert Partys für ihren Vater die Honneurs gemacht, aber immer noch nicht gelernt, die Dinge auf sich zukommen und an sich vorbeirauschen zu lassen. Jeder Empfang war ein Ereignis, eine Premiere, bei der hunderterlei schiefgehen konnte. Trotzdem war sie nie so glücklich gewesen. Ihre Mädchenträume hatten sich erfüllt: Sie befand sich in der Nähe ihres Vaters, er wollte sie um sich haben, brauchte sie. Sie hatte sich an den Umstand gewöhnt, dass seine Bedürfnisse ganz unpersönlicher Art waren und ihr Wert für ihn allein darauf beruhte, was sie für den Konzern zu leisten vermochte. Das war nun einmal Sam Roffes einziger Maßstab in der Beurteilung von Menschen. Und Elizabeth hatte es vollbracht, die nach dem Tod ihrer Mutter entstandene Lücke zu schließen. Für ihren Vater war sie zu einer perfekten Gastgeberin geworden. Aber da sie außerdem hochintelligent war, bedeutete sie für Sam weit mehr als das. Sie begleitete ihn auf Geschäftsreisen und zu Konferenzen in Flugzeugen, Fabriken, in Botschaften und Palästen. Stets war Elizabeth an seiner Seite. Sie beobachtete, wie ihr Vater seine Macht einsetzte, das Milliardenvermögen, wie er kaufte, verkaufte, Unternehmen stürzen ließ und neue hervorzauberte. Roffe und Söhne war wie ein Füllhorn, und Elizabeth sah, wie ihr Vater Freunde verwöhnte und Feinde am ausgestreckten Arm verhungern ließ. Sie fand diese neue Welt ungeheuer faszinierend, voller interessanter Leute, und Sam Roffe war der unumstrittene Herrscher.

Als sich Elizabeth jetzt im Ballsaal umsah, suchte ihr Blick Sam. Er stand an der Bar, plauderte mit Rhys, einem Premierminister und einem Senator aus Kalifornien. Sam entdeckte seine Tochter und winkte sie zu sich. Auf dem Weg zu ihm durch die festliche Menge dachte sie an die Zeit von damals, vor drei Jahren, als alles begann.

Am Tag ihrer Examensfeier noch war Elizabeth nach Hause geflogen. Ihr Zuhause war zu der Zeit gerade das Apartment am Beekman Place in Manhattan. Rhys war bei ihrem Vater, und irgendwie hatte sie das vorausgeahnt. In den geheimen Ecken ihrer Gedanken hatte sie die Bilder von ihm verwahrt, und immer, wenn sie sich einsam und niedergeschlagen fühlte oder entmutigt war, holte sie die Erinnerung hervor und wärmte sich an ihr. Am Anfang war ihr alles hoffnungslos vorgekommen: ein fünfzehnjähriges Schulmädchen und ein Mann von fünfundzwanzig. Statt zehn hätte der Unterschied genausogut hundert Jahre betragen können. Aber irgendwie schien mathematische Magie im Spiel zu sein: Mit achtzehn erschien ihr die Lücke schon weit weniger groß. Es war, als altere sie schneller als Rhys bei dem Versuch, ihn einzuholen.

Als Elizabeth die Bibliothek betrat, wo sie gerade Geschäftliches besprachen, standen beide Männer auf. »Ach, Elizabeth«, sagte ihr Vater, als sei ihr Erscheinen etwas ganz Alltägliches. »Eben angekommen?«

»Ja.«

»Die Schule liegt also hinter dir.«

»Ja.«

»Na, fein.«

Und das war ihr ganzer Willkommensgruß. Doch Rhys kam lächelnd auf sie zu, schien aufrichtig erfreut, ihr wieder zu begegnen. »Sie sehen fabelhaft aus, Liz. Wie lief’s mit der Matura? Sam wollte ursprünglich zur Feier kommen, aber er konnte einfach nicht weg.«

Er sagte all die Worte, die eigentlich von ihrem Vater hätten kommen müssen.

Elizabeth fühlte sich verletzt und ärgerte sich gleichzeitig darüber. Es war ja nicht so, dass ihr Vater sie nicht liebte, sagte sie sich. Er hatte sich eben nur einer Welt verschrieben, in der ein Mädchen nicht vorkam. Ein Sohn hätte dort sofort Zugang gefunden, aber mit einer Tochter konnte er nichts anfangen. Sie passte nicht in das Organisationsschema.

»Ich glaube, ich störe.« Elizabeth ging zur Tür.

»Moment mal«, kam ihr Rhys zuvor. Er wandte sich an Sam. »Liz ist gerade zum richtigen Zeitpunkt gekommen. Da kann sie uns doch bei der Party am Samstagabend behilflich sein.«

Sam blickte sie prüfend an, als gelte es, über eine Neubewerbung zu entscheiden. Jawohl, sie sah ihrer Mutter sehr ähnlich, war ebenso schön, hatte dieselbe natürliche Art. In Sams Augen blitzte Interesse auf. Dass seine Tochter eine Bereicherung für Roffe und Söhne darstellen könnte, war ihm noch nie in den Sinn gekommen. »Hast du ein Abendkleid?«

Elizabeth sah ihn konsterniert an. »Ich -«

»Das macht nichts. Geh und kauf dir eins. Weißt du, wie man eine Party veranstaltet?«

Elizabeth schluckte. »Natürlich.« Gehörte das nicht zum Stundenplan eines jeden exklusiven Schweizer Internats? Da bekam man den letzten gesellschaftlichen Schliff, wurde auf Grazie getrimmt. »Selbstverständlich weiß ich, wie man eine Party gibt.«

»Ausgezeichnet. Ich habe eine Gruppe aus SaudiArabien eingeladen. Es sind ungefähr -« Er sah Rhys an.

Rhys lächelte Elizabeth ermunternd zu und ergänzte: »Vierzig, vielleicht ein paar mehr oder weniger.«

»Überlas nur alles mir«, verkündete Elizabeth.

Das Abendessen wurde ein komplettes Fiasko.

Elizabeth hatte dem Koch die Speisefolge diktiert: Hummercocktail, als nächstes Cassoulet, dazu Spitzenweine. Unglückseligerweise enthielt das Cassoulet Schweinefleisch, was die Araber ebensowenig anrühren wie Schellfisch. Und alkoholische Getränke sind ihnen ohnehin untersagt. Stumm starrten die Gäste auf die südfranzösische Spezialität und nahmen keinen Bissen. Elizabeth saß ihrem Vater gegenüber an der Spitze der langen Tafel und verging vor Scham, starb innerlich einen langsamen Tod.

Wieder einmal war es Rhys Williams, der ihr zu Hilfe eilte und den Abend rettete. Für wenige Minuten verschwand er im Arbeitszimmer, um zu telefonieren. Schon war er wieder zurück und unterhielt die Gäste mit amüsantem Geplauder, während das Personal den Tisch abräumte.

Die Araber kamen gar nicht dazu, sich ungemütlich zu fühlen, denn innerhalb kürzester Zeit fuhr vor dem Portal eine Flotte von Lieferwagen vor, und wie von Zauberhand wurden die erlesensten Speisen hereingetragen: Kuskus und Lamm am Spieß, Reis, Platten mit gebackenen Hähnchen und Fischgerichte, danach Süßspeisen, Käse und frisches Obst. Alle schwelgten, mit Ausnahme von Elizabeth. Sie brachte keinen Bissen herunter. Jedesmal wenn sie aufzusehen wagte, bemerkte sie, wie Rhys sie beobachtete. Mit Verschwörermiene zwinkerte er ihr zu. Warum, wusste sie selbst nicht, aber Elizabeth empfand ihre Niederlage um so schlimmer, da ausgerechnet Rhys nicht nur Zeuge ihrer Blamage war, sondern auch noch als ihr Retter auftrat. Als die Party endlich zu Ende war und die letzten Gäste in den frühen Morgenstunden widerstrebend gingen, blieben Elizabeth, Sam und Rhys noch im Salon. Rhys schenkte Brandy ein.

Elizabeth holte tief Luft und wandte sich an ihren Vater. »Tut mir leid wegen des Dinners. Wenn Rhys nicht gewesen wäre, dann -«

Aber Sam zeigte keinerlei Gemütsbewegung. »Nächstes Mal gelingt es dir bestimmt besser.«

Und er behielt recht. Von da an ging nichts mehr schief, wenn Elizabeth eine Party organisierte, sei es für vier Personen oder für hundert. Sie betrieb regelrechte Gästeforschung, stellte Vorlieben und Abneigungen fest, wusste, was jeder gerne aß und trank, welche Art von Unterhaltung bevorzugt wurde. Sie legte sich eine Kartei über ihre Gäste an. Und die Freunde und Bekannten fühlten sich geschmeichelt, wenn sie merkten, dass ihr Lieblingswhisky oder die bevorzugte Weinsorte oder Zigarrenmarke eigens für sie bereitgehalten wurde und dass Elizabeth mit ihrem Metier vertraut war und sich angeregt darüber zu unterhalten wusste.

Bei den meisten Gesellschaften war Rhys zugegen, und stets mit dem hübschesten Mädchen am Arm. Elizabeth hasste sie alle. Sie bemühte sich, ihnen zu gleichen. Trug eine von Rhys’ Begleiterinnen die Haare aufgesteckt, tat sie es ihr nach. Sie versuchte, sich wie seine Freundinnen anzuziehen und ihr Benehmen nachzuahmen. Doch was Rhys betraf, schien das verschwendete Liebesmüh. Er bemerkte es wohl nicht einmal. Frustriert gab Elizabeth es auf und beschloss, von nun an nur noch sie selbst zu sein.

Als sie am Morgen ihres einundzwanzigsten Geburtstages zum Frühstück hinunterkam, sah Sam auf. »Bitte bestell doch Theaterkarten für heute abend. Hinterher ein Souper im >Twenty-One<.«

Er hat also daran gedacht, glaubte Elizabeth freudig erregt. Sie hätte jubeln können.

Doch dann fügte ihr Vater hinzu: »Wir werden zu zwölft sein. Es geht um die neuen Bolivien-Verträge.«

Sie verlor kein Wort über ihren Geburtstag. Im Laufe des Tages gingen ein paar Telegramme früherer Schulfreundinnen ein, und damit hatte es sich. Jedenfalls bis abends um sechs. Da wurde für sie ein riesiges Blumenbukett abgeliefert. Natürlich von ihrem Vater, sagte sich Elizabeth. Aber die beigefügte Karte belehrte sie eines Besseren: »Was für ein wunderschöner Tag für eine wunderschöne Lady.« Unterschrieben war mit »Rhys«.

Als ihr Vater um sieben ins Theater aufbrach, bemerkte er die Blumen. »Ein Verehrer?« meinte er fast geistesabwesend.

Einen Moment lang fühlte sich Elizabeth versucht zu sagen: »Nein, ein Geburtstagsgeschenk.« Aber, dachte sie, was soll’s. Wenn man jemanden an seinen Geburtstag erinnern musste, konnte man es genausogut sein lassen.

Sie sah ihrem Vater nach und überlegte, was sie mit dem langen Abend anfangen sollte. Einundzwanzig Jahre: Das war ihr immer wie ein Meilenstein vorgekommen. Das hieß, erwachsen sein, sich als Frau fühlen, die Freiheit gewinnen. Also gut, das war nun der magische Tag, und sie spürte nicht den geringsten Unterschied im Vergleich zu den Jahren zuvor. Warum hatte der Vater ihren Geburtstag vergessen? Wäre sie sein Sohn, ob er dann wohl daran gedacht hätte?

Der Butler kam und fragte, ob er anrichten lassen dürfe. Elizabeth hatte keinen Appetit. Sie fühlte sich einsam und verlassen. Sie wusste, es war Selbstmitleid, aber dahinter steckte mehr als die Enttäuschung über einen vergessenen Geburtstag. Es war die lange Reihe einsamer Geburtstage, die ihr Kummer bereitete, das Aufwachsen ohne Mutter, ohne eine mitfühlende Seele.

Um zehn saß sie im Neglige vor dem Wohnzimmerkamin, im Dunkeln, in Gedanken versunken, als plötzlich hinter ihr jemand sagte: »Happy birthday to you!«

Die Lichter flammten auf, und Rhys Williams stand in der Tür. Er kam langsam näher und sagte tadelnd: »Das ist doch keine Art, seinen Geburtstag zu feiern. Wie oft wird denn ein Mädchen einundzwanzig?«

»Ich - ich dachte, Sie sind heute abend mit meinem Vater unterwegs«, stammelte Elizabeth verwirrt.

»War ich auch. Er erwähnte, dass Sie hier allein sitzen. Los, ziehen Sie sich an, Liz. Wir gehen aus zum Dinner.«

Elizabeth schüttelte den Kopf. Sein Mitleid wollte sie nicht. »Vielen Dank, Rhys, sehr lieb von Ihnen, aber ich -ich hab’ wirklich keinen Hunger.«

»Aber ich, und ich hasse nichts mehr, als allein zu essen. Ich gebe Ihnen genau fünf Minuten zum Ankleiden. Sonst schleife ich Sie raus, so wie Sie sind.«

Sie aßen eine Kleinigkeit in einer Imbissstube auf Long Island: Hamburger mit Chili und Zwiebeln, Pommes frites und Ingwerbier. Und sie redeten und redeten. Für Elizabeth war es ein noch schöneres Geburtstagsessen als der Abend damals im Maxim’s. Rhys’ ganze Aufmerksamkeit gehörte ihr, und sie begann zu verstehen, worin sein besonderer Charme lag. Es war beileibe nicht nur sein gutes Aussehen, vielmehr der Umstand, dass er Frauen so zugetan war und ihre Gegenwart genoss. Auch Elizabeth vermittelte er das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein, dass er mit niemandem auf der Welt lieber zusammen war als mit ihr. Kein Wunder, dachte sie, in so einen Mann mussten sich ja alle Frauen verlieben.

Rhys sprach über seine Kindheit in Wales, und er stellte seine Erinnerungen wie ein einziges fröhlichbuntes Abenteuer dar. Doch dann schilderte er, warum er von zu Hause weggelaufen war. »Weil in mir der Hunger saß, alles zu sehen und alles zu tun. Ich wollte jeden kopieren, der mir begegnete. Ich war mir eben selbst nicht genug. Können Sie das verstehen?«

O ja, Elizabeth verstand nur zu gut.

»Ich arbeitete auf Rummelplätzen, am Strand, und in einem Sommer hatte ich einen Job, da musste ich Touristen in Coracles den Rhosili runterfahren, und -«

»Moment mal«, unterbrach ihn Elizabeth. »Was bedeutet Rhosili, und was ist ein Coracle?«

»Ach so, der Rhosili ist ein reißender Fluss mit starkem Gefälle, Strudeln und Stromschnellen. Und Coracle nennt man ein altertümliches Kanu aus Weidengeflecht, mit wasserdichten Häuten bespannt. Die gehen zurück bis in vorrömische Zeiten. In Wales sind Sie offenbar nie gewesen, was?« Sie schüttelte den Kopf. »Oh, das wäre was für Sie, Liz. Sie würden sich in meine Heimat verlieben.« Sie wusste, er hatte recht. »Im Vale of Neath gibt es einen Wasserfall, eine der schönsten Sehenswürdigkeiten dieser Welt. Und was es da noch alles gibt: Aber-Eiddi, Caerbwdi und Porthclais und Kilgetty und Llangwm...« Die Namen sprudelten aus ihm heraus wie eine fremde Musik. »Ein wildes, ungezähmtes Land, voller magischer Überraschungen.«

»Und trotzdem haben Sie Wales den Rücken gekehrt.« Rhys lächelte. »Das war der Hunger in mir. Ich wollte die Welt erobern.«

Was er nicht sagte, war: Der gleiche Hunger fraß noch immer in ihm.

Im Verlauf der nächsten drei Jahre machte sich Elizabeth ihrem Vater vollends unentbehrlich. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, ihm das Leben angenehm zu gestalten, damit er sich auf das konzentrieren konnte, was allein für ihn zählte: das Geschäft. Wie sie es bewerkstelligte, blieb ihr überlassen. Sie engagierte das Personal oder entließ es, sie richtete die verschiedenen Häuser und Wohnungen her, ganz wie es den Bedürfnissen ihres Vaters entsprach. Und sie machte für ihn die Honneurs.

Vor allem aber wurde sie zu seinen Augen und Ohren. Nach einer Konferenz pflegte Sam seine Tochter um ihr Urteil über einen Gesprächspartner zu bitten, oder er erläuterte ihr, warum er gerade so und nicht anders gehandelt hatte. Sie sah zu, wie er Entscheidungen traf, die das Leben Tausender von Menschen beeinflussten und Hunderte von Millionen Dollar bewegten. Sie war anwesend, wenn Staatsoberhäupter ihrem Vater nahelegten, eine Fabrik zu bauen, oder ihn baten, von einer Schließung abzusehen.

Nach einer dieser Konferenzen konnte Elizabeth nicht mehr an sich halten. »Es ist unglaublich. Mir kommt es vor, als ob du ein Land regierst.«

Ihr Vater lachte. »Roffe und Söhne haben ein größeres Einkommen als drei Viertel der Staaten dieser Erde.«

Auf ihren Reisen mit Sam lernte Elizabeth die anderen Mitglieder der Familie Roffe besser kennen, ihre Kusinen und Vettern, deren Männer oder Frauen.

Als junges Mädchen war sie ihnen gelegentlich in den Ferien begegnet, wenn der eine oder andere in eines der Häuser ihres Vaters zu Besuch kam oder sie selbst einen kurzen Gegenbesuch abstattete.

Am meisten Spaß hatte es ihr immer bei Simonetta und Ivo Palazzi in Rom gemacht. Die beiden waren freundlich und ungekünstelt, und Ivo hatte Elizabeth schon immer als Frau behandelt. Er leitete den italienischen Zweig des Unternehmens, und er tat dies ganz ausgezeichnet. Man hatte gern mit Ivo Palazzi zu tun - Elizabeth erinnerte sich an das Urteil einer Schulfreundin, die ihm begegnet war. »Weißt du, was ich an ihm mag? Er hat Herz und Charme.«

Herz und Charme, ja, das traf auf Ivo zu.

Dann Helene Roffe-Martel und ihr Mann Charles in Paris. Elizabeth war aus Helene nie so recht klug und auch nicht warm mit ihr geworden. Zwar war diese ihr immer zuvorkommend begegnet, doch Elizabeth hatte nie die Mauer kühler Reserve durchdringen können, mit der Helene sich umgab. Charles war Chef des französischen Zweigs der Firma. Er war kompetent, aber aus Bemerkungen ihres Vaters schloss Elizabeth, dass es ihm an Energie und Elan fehlte. Er konnte zwar Anordnungen befolgen, zeigte selbst aber keine Initiative. Sam hatte ihn nie durch jemand anderen ersetzt, denn die französische Niederlassung entwickelte sich hervorragend. Nach Elizabeths Mutmaßungen trug Helene heimlich den entscheidenden Anteil am Erfolg.

Ihre deutsche Kusine, Anna Roffe-Gassner, und deren Mann Walther mochte Elizabeth gern. Sie erinnerte sich an Familienklatsch, wonach Anna unter ihrem Stand geheiratet hatte. Walther Gassner, so hieß es, war das schwarze Schaf der Familie, ein Glücksritter, der sich eine unansehnliche ältere Frau um ihres Geldes willen geangelt hatte. Elizabeth allerdings hielt ihre Kusine nicht für hässlich. Anna war ein scheues, sensibles Wesen, in sich zurückgezogen und nicht frei von Lebensangst. Walther wiederum hatte sie auf den ersten Blick gemocht. Er hatte das klassische Aussehen eines Filmhelden, war aber weder arrogant noch oberflächlich. Außerdem schien er Anna in aufrichtiger Liebe verbunden zu sein, und Elizabeth dachte nicht daran, den schrecklichen Geschichten über ihn Glauben zu schenken.

Doch von all ihren Vettern und Kusinen war Alec Nichols ihr der liebste. Seine Mutter, eine Roffe, hatte Sir George Nichols geheiratet, den dritten Baronet seines Stammes. Alec war es, an den sich Elizabeth stets wandte, wenn sie ein Problem hatte. Vielleicht lag es an Alecs ausgeprägter Sensibilität und seinem sanften Wesen, dass Elizabeth als Kind in ihm noch am ehesten eine Vertrauensperson fand, und nun wurde ihr bewusst, welch großes Kompliment sie Alec damit gezollt hatte. Er hatte sie immer als Gleichgestellte behandelt, war stets hilfsbereit gewesen. Elizabeth erinnerte sich, wie sie einmal, in einem Augenblick tiefster Verzweiflung, den Entschluss zum Durchbrennen gefasst hatte. Ihr Koffer war bereits gepackt, und dann, getrieben von einem plötzlichen Impuls, hatte sie Alec in London angerufen, um ihm auf Wiedersehen zu sagen. Alec war mitten in einer Konferenz gewesen, aber er eilte sofort ans Telefon und redete über eine Stunde lang mit ihr. Und als er aufgelegt hatte, entschloss sich Elizabeth, ihrem Vater zu verzeihen und ihm eine letzte Chance zu geben. Derart war ihre Verbindung zu Sir Alec Nichols. Zu seiner Frau Vivian stand sie ganz anders. War Alec großzügig und rücksichtsvoll, so erschien Vivian ihr selbstsüchtig und oberflächlich. Sie war die egoistischste Frau, der Elizabeth jemals begegnet war.

Jahre zuvor, als Elizabeth ein Wochenende bei den Nichols auf deren Landsitz in Gloucestershire verbrachte, hatte sie sich allein zu einem Picknick aufgemacht. Doch es fing zu regnen an, und Elizabeth kehrte früher als erwartet zurück. Sie kam durch die Gartentür, und als sie die Halle durchqueren wollte, hörte sie laute Stimmen aus dem Arbeitszimmer, wurde Zeugin eines Streits.

»Ich hab’ die Nase voll vom Kindermädchenspielen.« Das war Vivians Stimme. »Du kannst dir deine süße kleine Kusine unter den Arm klemmen und sie heute abend allein unterhalten. Ich fahre nach London, hab’ eine Verabredung.«

»Aber Viv, die kannst du doch absagen. Das Kind bleibt nur noch einen Tag bei uns, und -«

»Tut mir leid, Alec, kommt nicht in Frage. Ich hab’ Lust auf ‘nen guten Fick, und heute abend verschaff ich ihn mir, da kannst du Gift drauf nehmen.«

»Vivian, bitte, um Gottes willen!«

»Ach, Mann, steck ihn dir doch in den Arsch. Versuch nicht dauernd, mich zu kommandieren.«

Im selben Augenblick, ehe Elizabeth sich von der Stelle bewegen konnte, kam Vivian aus dem Zimmer gestürmt. Sie warf nur einen flüchtigen Blick auf Elizabeths vor Entsetzen versteinertes Gesicht und rief ihr fröhlich zu: »Schon wieder da, Baby?« Und damit verschwand sie in die oberen Gemächer.

In der Tür zum Arbeitszimmer stand Alec. Er sagte ganz sanft: »Komm herein, Elizabeth.«

Zögernd kam sie näher. Alecs Gesicht war vor Scham hochrot. Wie gern hätte Elizabeth ihn getröstet, aber sie wusste nicht, wie. Alec trat an einen großen Refektoriumstisch, nahm eine Pfeife, stopfte sie und zündete sie an. Seine Bewegungen schienen eine halbe Ewigkeit zu dauern.

Schließlich sprach Alec. »Du musst Verständnis für Vivian haben.«

»Aber Alec, das geht mich doch gar nichts an«, stammelte sie. »Ich -«

»Doch, irgendwie schon. Wir sind alle eine Familie. Und ich möchte nicht, dass du vorschnell über sie urteilst.«

Elizabeth traute ihren Ohren nicht. Nach der unglaublichen Szene, die sie soeben mit angehört hatte, verteidigte Alec seine Frau noch.

»Manchmal«, fuhr Alec fort, »ist das so in einer Ehe. Ein Mann und eine Frau mit unterschiedlichen Wünschen und Bedürfnissen.« In einer Verlegenheitspause suchte er nach den rechten Worten. »Und ich möchte nicht, dass du Vivian die Schuld dafür gibst, dass - dass ich einige ihrer Bedürfnisse nicht erfüllen kann. Das kann man ihr nicht anlasten, verstehst du?«

Elizabeth hatte nicht an sich halten können. »Hat sie das - ich meine, geht sie oft mit anderen Männern aus?«

»Ich fürchte, das tut sie.«

Vor Entsetzen konnte Elizabeth zuerst keine Worte finden. Dann sagte sie: »Warum trennst du dich nicht von ihr?«

Sie sah nur sein mildes Lächeln. »Das kann ich nicht, mein Kind. Versteh doch, schließlich liebe ich sie.«

Am Tag darauf war Elizabeth in die Schweiz zurückgekehrt. Von da an fühlte sie sich Alec näher verbunden als allen anderen.

In jüngster Zeit hatte sich Elizabeth zunehmend Sorgen um ihren Vater gemacht. Er schien häufig in Gedanken versunken. Irgend etwas beschäftigte ihn stark, aber Elizabeth hatte keine Ahnung, worum es ging. Als sie ihn eines Tages rundheraus fragte, bekam sie zur Antwort: »Nur ein kleines Problem, für das ich eine Lösung finden muss. Ich erkläre es dir später.«

Er zeigte sich in letzter Zeit verschlossen, und Elizabeth bekam keinen Zugang mehr zu vertraulichen Unterlagen. Als er ihr eröffnete: »Morgen fahre ich nach Chamonix, will endlich mal wieder ein bisschen Bewegung haben«, war Elizabeth erleichtert. Sie fühlte, er brauchte Entspannung. Er hatte an Gewicht verloren und sah abgespannt aus.

»Ich werde gleich für dich buchen«, hatte sie geantwortet.

»Mach dir keine Mühe, ist bereits geschehen.«

Auch das sah ihm gar nicht ähnlich. Am Morgen darauf war er abgereist. Und Elizabeth hatte ihn zum letztenmal gesehen.

Jetzt wusste sie: Es war ein Abschied für immer gewesen. Sie lag in ihrem abgedunkelten Schlafzimmer, und ihre Gedanken wanderten in die Vergangenheit zurück. Der Tod ihres Vaters war für sie um so unwirklicher, weil sie Sam so unglaublich lebendig in Erinnerung hatte.

Als letzter männlicher Erbe trug er den Namen Roffe. Was würde jetzt aus dem Konzern werden? Ihr Vater war Hauptanteilseigner gewesen. Wem er wohl seine Aktien vererbt hatte?

Die Antwort erhielt sie am späten Nachmittag des folgenden Tages. Sams Anwalt war in dem Haus auf Long Island erschienen. »Ich habe eine Kopie des Testaments Ihres Vaters mitgebracht. Ich behellige Sie nur ungern in Ihrem Schmerz, aber ich meine, Sie sollten sofort Bescheid wissen. Ihres Vaters einziger Erbe sind Sie. Mit anderen Worten: In Ihren Händen liegt jetzt die Aktienmehrheit von Roffe und Söhne.«

Elizabeth konnte es nicht glauben. Das sollte doch sicher nicht heißen, dass sie von nun an das Familienunternehmen leiten musste? »Aber warum?« fragte sie immer wieder. »Warum gerade ich?«

Nach einigem Zögern sagte der Anwalt: »Darf ich ganz aufrichtig sein, Miss Roffe? Ihr Herr Vater war noch verhältnismäßig jung. Seinen Tod hat er bestimmt noch in weiter Ferne gesehen. Ich bin sicher, zu angemessener Zeit hätte er ein neues Testament aufgesetzt und jemanden dazu bestimmt, den Konzern zu übernehmen. Wahrscheinlich war er sich noch nicht schlüssig, wer das sein sollte.« Er zuckte die Schultern. »Das alles ist jetzt nur von akademischem Interesse. Tatsache ist, die Zukunft des Unternehmens, seine Führung liegen von nun an in Ihren Händen. Und Sie allein haben zu entscheiden, was zu tun ist und was nicht und wen Sie an Ihrer Seite haben wollen.« Er sah sie einen Moment forschend an. »Noch nie hat eine Frau die Geschicke von Roffe und Söhne gelenkt, aber - na ja, jedenfalls treten Sie fürs erste an Ihres Vaters Stelle. An diesem Freitag findet in Zürich eine Direktoriumssitzung statt. Können Sie daran teilnehmen?«

Sam hätte es von ihr erwartet. Ebenso der alte Samuel.

»Ja, ich werde dort sein«, verkündete Elizabeth.

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