Der Sicherheitschef von Roffe und Söhne war völlig entnervt. »Alles ging viel zu schnell, Miss Roffe. Wir konnten überhaupt nichts tun. Als die Löschzüge eintrafen, lag das ganze Labor schon in Schutt und Asche.«
Die Rettungsmannschaften hatten Emil Joepplis verkohlte Leiche gefunden. Ob seine Formel vor der Explosion aus dem Laboratorium gestohlen worden war, ließ sich nicht feststellen.
»Der Forschungstrakt stand doch rund um die Uhr unter Bewachung?« erkundigte sich Elizabeth.
»Jawohl, Miss Roffe. Wir -«
»Wie lange leiten Sie schon unseren Werkschutz?«
»Fünf Jahre. Ich -«
»Sie sind entlassen.«
Der Mann wollte protestieren, besann sich aber. »Jawohl, Miss Roffe.«
»Wie viele Mitarbeiter haben Sie?«
»Fünfundsechzig.«
Fünfundsechzig! Und sie alle hatten Emil Joeppli nicht schützen können. »Ich gebe Ihrem Stab eine Kündigungsfrist von vierundzwanzig Stunden«, erklärte Elizabeth. »Danach will ich keinen mehr hier sehen.«
Er blickte sie entgeistert an. »Miss Roffe, finden Sie Ihr Verhalten fair?«
Sie dachte an Joeppli, an die unersetzlichen Formeln, die jetzt gestohlen waren, dachte an die Wanze, die man ihr ins Büro plaziert und die sie mit dem Absatz zertreten hatte.
»Verschwinden Sie!« befahl Elizabeth.
Sie arbeitete den Vormittag über ganz verbissen, füllte jede Minute mit einer Beschäftigung aus, wollte die Bilder verdrängen, die auf sie einstürmten. Emil Joeppli, bis zur Unkenntlichkeit verkohlt, die qualmenden Trümmer des Labors mit den verbrannten Tieren. Sie durfte auch gar nicht daran denken, was der Verlust der Forschungen für das Unternehmen bedeutete. Wenn eine rivalisierende Firma sich des Mittels bemächtigt hatte, konnte Elizabeth nicht das geringste dagegen tun. Das Geschäft war wirklich ein Dschungel. Sobald die Konkurrenten eine Schwäche witterten, schwärmten sie aus, um einen aufzufressen. Dies aber war nicht einmal das Werk eines Konkurrenten. Der Täter war ein Freund. Ein tödlicher Freund.
Auf der Stelle beauftragte Elizabeth ein professionelles Bewachungsunternehmen mit dem Werkschutz. Inzwischen war sie soweit, dass sie lieber fremde Gesichter um sich sah; das gab ihr ein sichereres Gefühl.
Als nächstes rief sie das Hospital International in Brüssel an und erkundigte sich nach dem Befinden von Madame van den Logh, der belgischen Ministergattin. Sie lag immer noch im Koma, hieß es, und ihre Überlebenschancen waren gering.
Alle Bilder stürmten auf Elizabeth ein: das mongoloide Kind, Emil Joeppli, die Frau des Ministers. Rhys kam zu ihr ins Büro. Er sah ihren Gesichtsausdruck. Seine Stimme klang besorgt. »So schlimm?«
Ihr Kopfnicken verriet, wie miserabel sie sich fühlte.
Rhys trat an den Schreibtisch und blickte ihr lange forschend in die Augen. Sie sah müde aus, völlig ausgelaugt. Wieviel könnte sie wohl noch aushaken, fragte er sich. Er nahm ihre Hand: »Gibt es irgend etwas, wobei ich Ihnen helfen kann?«
Irgend etwas? dachte Elizabeth. Alles! Er konnte ja gar nicht ahnen, wie verzweifelt sie ihn brauchte. Sie brauchte seine Stärke, seine Hilfe, seine Liebe. Ihre Blicke trafen sich. Sie war bereit, sich ihm in die Arme zu werfen, ihm ihr Herz auszuschütten. Er sollte wissen, was geschehen war und was noch geschah.
»Ist schon etwas über Madame van den Logh bekannt?« erkundigte er sich.
Und der Augenblick war vorbei.
»Nein«, erwiderte Elizabeth.
»Haben Sie schon Anrufe bekommen? Ich meine, wegen des Artikels im Wall Street Journal?«
»Welcher Artikel?«
»Haben Sie ihn nicht gesehen?«
»Nein.«
Rhys ließ aus seinem Büro die Ausgabe kommen. Der Artikel zählte in epischer Breite alle Schwierigkeiten und Probleme auf, denen der Konzern in jüngster Zeit ausgesetzt war. Doch der Kern der Analyse lautete, die Firma benötige dringend eine erfahrene Führungsspitze. Elizabeth legte die Zeitung nieder. »Wieviel Schaden wird damit angerichtet?«
Rhys zuckte die Schultern. »Der Schaden ist schon da. Die berichten ja nur über Tatsachen. Wir verlieren immer mehr Marktanteile. Wir -«
Die Gegensprechanlage summte. Elizabeth antwortete. »Ja?«
»Herr Julius Badrutt auf Leitung zwei, Miss Roffe. Es sei dringend, sagt er.«
Sie sah hilfesuchend Rhys an. Das Treffen mit den Bankiers hatte sie immer wieder aufgeschoben. »Stellen Sie durch.« Sie nahm den Hörer ab. »Guten Morgen, Herr Badrutt.«
»Guten Morgen.« Am Telefon klang seine Stimme trocken und spröde. »Hätten Sie heute nachmittag etwas Zeit für uns?«
»Na ja, ich bin-«
»Ausgezeichnet. Würde Ihnen vier Uhr passen?«
Elizabeth zögerte. »Also gut, vier Uhr.«
Sie hörte, wie Herr Badrutt sich räusperte. »Es hat mir sehr leid getan, das von Herrn Joeppli zu hören.«
In den Zeitungsberichten über die Explosion war Joepplis Name überhaupt nicht erwähnt worden.
Sie legte auf und sah, wie Rhys sie beobachtete.
»Die Haie wittern Blut«, stellte er fest.
Den ganzen Nachmittag hörte das Telefon nicht auf zu klingeln. Alec rief an. »Elizabeth, hast du den Artikel in der Zeitung von heute morgen gelesen?«
»Ja. Das Wall Street Journal hat mächtig übertrieben.«
Am anderen Ende entstand eine Pause. Dann kam Alecs Stimme wieder. »Ich spreche nicht vom Wall Street Journal. Die Financial Times bringt etwas über Roffe und Söhne auf der ersten Seite. Und der Tenor ist niederschmetternd. Mein Telefon lässt mich überhaupt nicht mehr zur Ruhe kommen. Wir erhalten immer größere Stornierungen. Was sollen wir tun?«
»Ich rufe dich zurück«, versprach Elizabeth.
Als nächster war Ivo am Telefon. »Carissima, mach dich auf einen Schock gefasst.«
Als ob ich nicht schon auf alles gefasst wäre, stellte Elizabeth im stillen fest. »Was gibt’s denn?«
»Vor wenigen Stunden«, sagte Ivo, »wurde ein italienischer Minister festgenommen. Die Anklage lautet auf Bestechung.« Plötzlich war Elizabeth sonnenklar, was jetzt kam. »Sprich weiter«, forderte sie Ivo auf.
Aus seiner Stimme klang Bedauern und Verlegenheit. »Es war nicht unsere Schuld. Der Mann wurde immer habgieriger und vergaß alle Vorsicht. Die haben ihn am Flughafen gefasst, als er versuchte, Geld außer Landes zu schaffen. Und die Banknoten konnten bis zu uns zurückverfolgt werden.«
Obwohl sie darauf vorbereitet war, traf sie die nackte Wahrheit wie ein Schlag. Sie konnte das Gehörte kaum glauben. »Wozu, um Himmels willen, mussten wir einen Minister bestechen?«
Ivos Stimme verriet, dass er an der Tatsache nichts Besonderes fand. »Damit wir in Italien im Geschäft bleiben, natürlich. Das gehört hier zum normalen Leben. Kriminell ist daran nicht, dass wir den Minister bestochen, cara, sondern, dass sie uns dabei erwischt haben.«
Sie lehnte sich hilflos im Sessel zurück. In ihrem Kopf dröhnte es.
»Und was jetzt?«
»Mein Vorschlag ist, sofort die Konzernanwälte zusammenzurufen«, erwiderte Ivo. »Mach dir keine Sorgen. Hier in Italien landen nur die Armen im Gefängnis.«
Wieder ging das Telefon: Charles aus Paris. Er war außer sich. Die französische Presse war voll mit Artikeln über Roffe und Söhne. Charles bestürmte Elizabeth, das Unternehmen zu veräußern, solange der Ruf nicht völlig ruiniert war.
»Unsere Kunden verlieren das Vertrauen«, hämmerte ihr Charles ein. »Und ohne Vertrauen ist die Firma tot.«
Elizabeth dachte lange nach. Über die Telefonanrufe, die Bankiers, ihre Vettern und über die Pressekampagnen. Eins war klar: Es geschah zuviel auf einmal. Irgend jemand brachte die Dinge ins Rollen. Und sie musste dahinterkommen, wer es war.
Der Name stand immer noch in Elizabeths kleinem Notizbuch: Maria Martinelli. Aus weiter Ferne kamen die Erinnerungen: eine hochgewachsene, langbeinige Italienerin, ihre Klassenkameradin im Schweizer Internat. Sie waren in losem Briefkontakt geblieben. Maria war
Mannequin geworden, und als sie Elizabeth das letztemal schrieb, gerade im Begriff, einen italienischen Zeitungsverleger in Mailand zu heiraten. Elizabeth brauchte eine Viertelstunde, um Maria telefonisch aufzustöbern. Nachdem sie gesellschaftliche Floskeln ausgetauscht hatten, kam Elizabeth zur Sache. »Sag mal, bist du immer noch mit dem Verleger liiert?«
»Und wie! Sobald Toni seine Scheidung in der Tasche hat, heiraten wir.«
»Maria, du musst mir einen Gefallen tun.«
»Nur raus mit der Sprache.«
Nach weniger als einer Stunde rief Maria zurück. »Ich habe die Information für dich. Der Minister, den man beim Geldschmuggeln aus Italien erwischte, wurde verpfiffen. Toni sagt, jemand hat der Flughafenpolizei einen Wink gegeben.«
»Hat er auch den Namen dieser Person herausbekommen?«
»Ja. Ivo Palazzi.«
Inspektor Max Hornung hatte eine interessante Entdeckung gemacht. Einmal wusste er mit hundertprozentiger Sicherheit, dass die Explosion bei Roffe und Söhne vorsätzlich erfolgt war. Der dazu benutzte Sprengstoff hieß Rylar X und wurde ausschließlich für militärische Zwecke hergestellt. Privaten Käufern war er überhaupt nicht zugänglich. Was Max indessen besonders hellhörig machte, war die Tatsache, dass Rylar X in einem Zweigwerk von Roffe und Söhne produziert wurde. Es kostete Max nur einen Anruf, um herauszubekommen, um welches Unternehmen es sich handelte. Es war die Fabrik bei Paris.
Punkt vier Uhr am Nachmittag nahm Julius Badrutt in einem Sessel Platz und begann ohne Umschweife: »So gern wir Ihnen entgegenkommen würden, Miss Roffe, muss ich Ihnen doch eröffnen, dass die Verpflichtungen unseren Aktionären gegenüber Vorrang haben.«
Das war genau die Feststellung, dachte Elizabeth, mit der die Bankiers in aller Welt Witwen und Waisen den Hypothekenhahn zudrehten. Aber diesmal war sie gewappnet.
»... Mein Vorstand hat mich daher beauftragt, Sie von der Entscheidung in Kenntnis zu setzen, dass unsere Bank auf sofortige Begleichung aller Schulden besteht.«
»Sie haben mir eine Frist von neunzig Tagen eingeräumt«, erinnerte ihn Elizabeth.
»Unglücklicherweise haben sich unserer Auffassung nach die Umstände verschlechtert. Ich muss Ihnen außerdem mitteilen, dass die anderen Banken, mit denen Ihr Konzern Verbindungen hat, zu demselben Entschluss gelangt sind.«
Wenn die Banken nicht mehr mitspielten, gab es keinen Weg, das Unternehmen in Privatbesitz zu halten.
»Es tut mir außerordentlich leid, Miss Roffe, Überbringer so schlechter Nachrichten zu sein. Aber ich sah die Verpflichtung, Ihnen das persönlich mitzuteilen.«
»Sie wissen natürlich, dass Roffe und Söhne immer noch ein starkes und im Kern gesundes Unternehmen ist.«
Julius Badrutt nickte kurz. »Selbstverständlich. Ein hervorragendes Unternehmen.«
»Und trotzdem wollen Sie uns die Fristverlängerung aufkündigen.«
Der Bankier sah sie längere Zeit forschend an. Dann räusperte er sich. »Die Bank ist der Ansicht, Ihre Probleme wären durchaus zu lösen, Miss Roffe. Hingegen.« Er zögerte.
»Hingegen«, setzte Elizabeth seinen Satz fort, »fehlt Ihrer Meinung nach die geeignete Persönlichkeit dafür?«
»Ich fürchte, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen.« Er machte Anstalten, sich zu erheben.
»Was nun, wenn jemand anderes Präsident von Roffe und Söhne würde?« fragte Elizabeth.
Doch Badrutt schüttelte den Kopf. »Wir haben diese Möglichkeit erwogen. Aber keiner der gegenwärtigen Direktoriumsmitglieder besitzt unserer Meinung nach die Qualifikationen für diese enorme -«
Sie unterbrach ihn. »Ich dachte dabei an Rhys Williams.«