London
Montag, 7. September, 14 Uhr
White’s Club lag im oberen Teil der St. James’s Street, nahe Piccadilly. Im achtzehnten Jahrhundert als Etablissement für Glücksspiele erbaut, war er einer der ältesten Clubs in England, auf jeden Fall der exklusivste. Die Mitglieder ließen ihre Söhne schon bei deren Geburt auf die Anmeldeliste setzen; denn die Wartezeit betrug im allgemeinen dreißig Jahre.
White’s Fassade verkörperte die Stein gewordene Diskretion. Die weiten Erkerfenster blickten auf die St. James’s Street. Sie waren zur Erbauung derer drinnen gedacht, weniger für die Neugierde der Passanten. Zum Haupteingang führten ein paar Stufen, aber außer Mitgliedern und Gästen war es nur wenigen Menschen gelungen, die schwere Tür zu passieren. Die Räume waren groß, dunkel und eindrucksvoll, poliert vom Firnis der Jahrhunderte. Die Einrichtung war alt und bequem -Ledermöbel, Zeitungsständer, kostbare Antiquitäten, tief gepolsterte Sessel, in denen schon einige Premierminister gesessen hatten. Es gab ein Backgammon-Spielzimmer mit einem offenen Kamin hinter einem bronzenen Gitter, und eine schwere holzgeschnitzte Treppe führte ins Obergeschoß, in den Speisesaal. Dieses Allerheiligste nahm die ganze Breite des Hauses ein und barg einen gewaltigen Mahagonitisch mit Sitzgelegenheiten für dreißig Personen sowie fünf kleinere Ecktische. Zum Lunch oder zum Dinner hielten sich dort einige der einflussreichsten Männer dieser Erde auf.
An einem der kleinen Ecktische saß Sir Alec Nichols, Mitglied des Unterhauses. Er nahm den Lunch mit einem Gast ein, Jon Swinton. Sir Alecs Vater und davor dessen Vater und Großvater waren Baronets gewesen, und ihrer aller Namen waren in den Mitgliedslisten von White’s zu finden. Sir Alec war ein dünner, blasser Mann Ende Vierzig, dessen sensibles aristokratisches Gesicht durch ein freimütiges Lächeln einzunehmen wusste. Soeben mit dem Auto von seinem Landsitz in Gloucestershire eingetroffen, trug er noch die alte Tweedjacke und weite, schlabbrige Flanellhosen, dazu ausgetretene Slipper. Sein Gast dagegen hatte einen Nadelstreifenanzug an, darunter ein Hemd mit schreiend grellen Karos und einen blutroten Schlips. In der gediegenen, vornehmen Atmosphäre erwies sich der Mann auf den ersten Blick als Fremdkörper.
»Hier ham Ses wirklich schön.« Jon Swinton sprach mit vollem Mund, mit den Resten eines großen Kalbskoteletts beschäftigt.
Sir Alec nickte. »Ja. Die Dinge haben sich geändert seit Voltaires Rede: >Die Briten haben hundert Religionen, aber nur eine Sauce.<«
Jon Swinton sah auf. »Voltaire? Wer is’n das?«
Sir Alec war verlegen. »Ach, so... so ein Bursche aus Frankreich.«
»Aha.« Jon Swinton spülte den letzten Bissen mit einem kräftigen Schluck Wein hinunter, legte Messer und Gabel hin und wischte sich mit der Serviette den Mund ab. »Also, dann, Sir Alec. Wir beide sollten jetzt mal ein bisschen übers Geschäft reden.«
Alec Nichols’ Antwort kam gedämpft. »Mr. Swinton, ich habe Ihnen doch schon vor zwei Wochen erklärt, ich bin dabei, die Angelegenheit zu regeln. Dazu brauche ich aber etwas mehr Zeit.«
Ein Kellner trat an den Tisch, balancierte einen Stapel Zigarrenkisten und setzte ihn geschickt auf dem Tisch ab.
»Keine schlechte Idee.« Jon Swinton prüfte die Banderolen, pfiff anerkennend durch die Zähne, verstaute mehrere Zigarren in seiner Brusttasche und zündete sich schließlich eine an. Weder der Kellner noch Sir Alec quittierten diesen faux pas auch nur mit einem Wimperzucken. Der Kellner nickte Sir Alec zu und trug die Kisten zum nächsten Tisch.
»Meine Bosse sind Ihnen gegenüber sehr entgegenkommend gewesen, Sir Alec. Aber ich fürchte, jetzt werden sie langsam ungeduldig.« Er beugte sich vor, hob das abgebrannte Streichholz auf und ließ es in Sir Alecs Weinglas fallen. »Und zwischen uns beiden Klosterbrüdern, meine Bosse sind nicht gerade nette Leute, wenn man sie ärgert. Sie wollen sie doch nicht im Genick haben, oder? Sie wissen schon, was ich meine.«
»Ich hab’ einfach im Augenblick nicht das Geld.«
Jon Swinton lachte laut und vulgär. »Lass doch die Fisimatenten, Kumpel. Deine Mutter war ‘ne Roffe, stimmt’s? Und haste nicht ‘ne Farm von hundert Morgen, ‘n schniekes Haus in Knightsbridge, einen Rolls-Royce und noch ‘nen verdammten Bentley? Kann man doch wirklich nicht behaupten, dass du aufm bloßen Hintern rumrutschst.«
Voller Pein sah sich Sir Alec um. Gedämpft erläuterte er seinem Gegenüber: »Nichts davon ist flüssiges Kapital. Ich kann nicht einfach -«
Swinton kniff neckisch ein Auge zu und unterbrach ihn. »Will wetten, deine süße kleine Frau Vivian is’n Kapital, sogar ein sehr flüssiges. Was die für Titten vor sich herträgt!«
Sir Alec lief rot an. Vivians Name von den Lippen dieses vulgären Kerls bedeutete ein beispielloses Sakrileg. Er sah Vivian vor sich, so, wie er sie heute morgen zurückgelassen hatte, friedlich schlafend. Sie hatten getrennte Schlafzimmer, und zu Alecs größten Freuden gehörten seine »Besuche« in Vivians Boudoir. Manchmal, wenn Alec früh erwachte, ging er zu ihr hinüber und betrachtete seine schlafende Frau. Ob wach oder im Schlummer, sie war das schönste Mädchen, dem er je begegnet war. Sie pflegte nackt zu schlafen, und ihr weicher, kurvenreicher Körper bot sich halb bedeckt seinem Blick dar, wenn sie sich in ihr Laken gerollt hatte. Sie war blond, mit großen hellblauen Augen und einer Haut wie Sahne. Als Alec ihr zum ersten Mal begegnete, auf einem Wohltätigkeitsball, verdiente sie ihr Brot als drittklassige Schauspielerin. Er war hingerissen von ihrem Aussehen, aber vollends in Bann schlug ihn ihr natürliches, freundlich-lustiges Wesen. Sie war zwanzig Jahre jünger als er und voller Lebenshunger. War Alec scheu und introvertiert, so bestand Vivian von Kopf bis Fuß aus sprühendem Temperament und Lebenslust. Alec hatte sie sich einfach nicht mehr aus dem Kopf schlagen können, doch er brauchte zwei volle Wochen, um sich Mut für einen Anruf bei ihr zu machen. Zu seiner eigenen Überraschung und unaussprechlichen Freude nahm Vivian seine Einladung an. Alec ging mit ihr zu einer Aufführung ins Old Vic; dann aßen sie im Mirabelle. Vivian wohnte in einer kleinen feuchten SouterrainWohnung in Notting Hill, und als Alec sie nach Hause brachte, fragte sie ihn: »Na, willst du noch mit rein?« Er war die Nacht über dageblieben, eine Nacht, die sein ganzes Leben verändern sollte. Zum ersten Mal ließ eine Frau ihn den sexuellen Höhepunkt erleben. Einem Wesen wie Vivian war er nie zuvor begegnet. Sie war ganz samtweiche Zunge, wallendes goldenes Haar und feuchtforderndes Pulsieren. Alec trat eine Forschungsreise an, die ihn verausgabt und völlig erschöpft zurückließ. Seitdem brachte ihn allein der Gedanke daran in Wallung.
Aber das war nicht alles. Vivian lehrte ihn das Lachen, wenn sie ihn nicht überhaupt erst zum Leben erweckte. Sie machte sich über ihn lustig, weil er so schüchtern und unbeholfen war, und er betete sie dafür an. Sooft Vivian es nur zuließ, war er bei ihr. Wenn er mit ihr auf einer Party auftauchte, stand sie stets im Mittelpunkt des Interesses. Alec war stolz darauf, gleichzeitig aber eifersüchtig auf die jungen Männer, die sich um sie scharten, und im tiefsten Inneren konnte er sich die Frage nicht verkneifen, mit wie vielen von ihnen sie wohl schon im Bett gewesen war.
An Abenden, wenn Vivian eine andere Verabredung und keine Zeit für ihn hatte, war er rasend vor Eifersucht. Dann fuhr er zu ihrer Wohnung, parkte den Wagen an der nächsten Ecke und hielt Wache: wann sie nach Hause kam und mit wem. Dabei wusste er, dass er sich wie ein Idiot benahm, doch er konnte nicht anders. Alec befand sich im Würgegriff einer Leidenschaft, der er sich nicht entziehen konnte.
Im Grunde war ihm sehr wohl klar, dass Vivian nicht die Richtige für ihn war. Eine Ehe mit ihr kam überhaupt nicht in Frage. Schließlich war er ein Baronet, geachtetes Mitglied des Parlaments und hatte eine glänzende Zukunft vor sich. Er gehörte zur Dynastie der Roffes, saß im Direktorium des Konzerns. Vivian dagegen hatte nichts aufzuweisen, das sie für Sir Alecs Welt hätte akzeptabel machen können. Vater und Mutter waren zweitklassige Musical-Hall-Artisten gewesen, ständig auf Tournee in der tiefsten Provinz. Ihre Erziehung hatte Vivian auf der Straße aufgeschnappt, bestenfalls hinter der Bühne. Alec wusste, sie war oberflächlich und nahm es mit der Treue keineswegs genau. Eine gewisse Schläue wohnte ihr durchaus inne, von Intelligenz war dagegen kaum zu reden. Trotzdem war Alec von ihr besessen. Er kämpfte dagegen an, versuchte, den Stelldicheins mit ihr zu entsagen, aber es hatte keinen Zweck. Die Sache verhielt sich einfach so: War er mit ihr zusammen, lebte er auf, war er fern von ihr, fühlte er sich miserabel. Am Ende machte er ihr einen Heiratsantrag; es trieb ihn, er war machtlos dagegen. Und als sie einwilligte, schwelgte Alec in Ekstase.
Die junge Braut zog zu ihm ins Familienheim, ein schönes altes Gebäude in Gloucestershire, erbaut von Robert Adam, mit delphischen Säulen und einer großen Auffahrt. Das Haus stand inmitten von hundert Morgen saftigen Weide- und Ackerlandes, mit Privatjagd und fischreichen kleinen Flüssen. Hinter dem Haus erstreckte sich ein herrlicher, kunstvoll angelegter Park.
Auch das Innere konnte sich sehen lassen. Die weite Eingangshalle hatte einen Marmorfußboden und Wände aus gefirnisstem Holz. Alte Standlaternen, Marmortische und Stühle aus Mahagoni luden zum Verweilen ein. Die Bibliothek hatte eingebaute Bücherregale, original aus dem achtzehnten Jahrhundert, zwei Piedestal-Tische, entworfen von Henry Holland, sowie Stühle von Thomas Hope. Der Salon war eine Mischung aus Hepplewhite und Chippendale, dazu ein Wilton-Teppich und zwei Glaslüster von Waterford. Der gewaltige Speisesaal bot vierzig Gästen Platz, die sich nach dem Mahl im Rauchsalon ergehen konnten. Im ersten Stock gab es sechs Schlafzimmer, jedes mit einem echten AdamKamin, und im Geschoß darüber wohnte die Dienerschaft.
Nach sechs Wochen sagte Vivian: »Lass uns aus diesem Schuppen verduften, Alec.«
Er sah sie erstaunt an. »Du meinst, du möchtest gern für ein paar Tage nach London fahren?«
»Ich meine, ich will wieder ganz nach London ziehen.« Alec sah aus dem Fenster. Sein Blick fiel auf die sattgrünen Wiesen, wo er als Kind gespielt hatte, auf die riesigen Eichen und Platanen. Zögernd sagte er: »Vivian, sieh doch mal, wie friedlich das hier ist, so herrlich ruhig, ich -«
»Gerade die verdammte Ruhe raubt mir den letzten Nerv.« Eine Woche später erfolgte der Umzug nach London.
Alec besaß ein äußerst elegantes viergeschossiges Stadthaus in Wilton Crescent, in der Nähe von Knightsbridge. Dort konnte er sich in einem hübschen Salon niederlassen, stand ihm ein großes Studierzimmer zur Verfügung, ein noch geräumigerer Speisesaal und nach hinten ein Panoramafenster mit Blick auf eine Grotte, einen kleinen Wasserfall, Skulpturen und weißgetünchte Bänke inmitten eines liebevoll angelegten Kunstgartens. Im ersten Stock lagen ein hochherrschaftliches Schlafgemach und vier kleinere Schlafzimmer.
Zwei Wochen lang teilten Vivian und Alec das Ehebett. Eines Morgens meinte Vivian: »Alec, ich liebe dich, aber du schnarchst, wie du weißt.« Alec hatte mitnichten davon gewusst. »Ich muss wirklich allein schlafen, Schatz. Du hast doch nichts dagegen, oder?«
Alec hatte sehr viel dagegen. Für ihn war es das höchste Glück, mit ihr im Bett zu liegen und ihren warmen Körper zu fühlen. Tief im Inneren wusste er aber auch, dass er nicht in der Lage war, sie sexuell zu stimulieren, so wie es andere Männer konnten. Und das war der eigentliche Grund, warum sie ihn nicht bei sich im Bett haben wollte. Also sagte er: »Natürlich nicht, Darling. Ich verstehe dich voll und ganz.«
Er bestand darauf, dass Vivian das große Schlafzimmer behielt. Er selbst bezog eines der kleineren Gästezimmer.
Anfangs war Vivian regelmäßig ins Unterhaus gegangen und hatte auf der Besuchertribüne gesessen, wenn Sir Alec auf der Rednerliste stand. Er sah zu ihr hinauf, und tiefer Stolz erfüllte ihn. Kein Zweifel, sie war wirklich die schönste Frau im ganzen Parlament. Dann kam der Tag, als Alec nach Beendigung seiner Rede wieder einmal Vivians Blick und ihre Anerkennung suchte und feststellen musste, dass ihr Platz auf der Galerie leer war.
Alec gab sich selbst die Schuld an Vivians Rastlosigkeit. Seine Freunde waren viel älter als die ihren und für sie zu konservativ. Er ermutigte sie, gleichaltrige Kameraden nach Hause einzuladen, zusammen mit seinen Bekannten. Das Ergebnis war katastrophal.
Wenn Vivian nur ein Kind bekäme, sagte sich Alec immer wieder, würde sie zur Ruhe kommen, sich wahrscheinlich ändern. Doch eines Tages zog sie sich eine Vagina-Infektion zu - Alec konnte den Gedanken, wie und wo sie sich das geholt haben könnte, nicht ertragen - und musste sich die Gebärmutter entfernen lassen. Alec hatte sich so sehr einen Sohn gewünscht. Die Umstände nahmen ihn stark mit, doch Vivian zeigte sich unbekümmert.
»Keine Sorge, Schätzchen«, war ihr Kommentar. »Das Baby-Labor haben die rausgeholt, aber mit der Spielwiese ist nichts passiert.«
Er sah sie lange an, drehte sich dann wortlos um und ging.
Vivian liebte Einkaufsorgien. Wahllos und ohne Hemmungen warf sie das Geld für Kleider, Juwelen, Autos hinaus, und Alec hatte nicht das Herz, dem Einhalt zu gebieten. War sie nicht in Armut aufgewachsen? sagte er sich. Daher der verständliche Hunger nach schönen Dingen. Er wollte ihr die Welt zu Füßen legen. Zu seinem Unglück konnte er sich die Welt nicht leisten. Die Steuern fraßen sein Einkommen auf. Sein Vermögen war festgelegt: in den unveräußerbaren Anteilen an Roffe und Söhne. Er versuchte, Vivian das klarzumachen, aber sie hörte gar nicht zu. Für sie gab es nichts Langweiligeres als Reden über Geschäfte. Also ließ Alec sie gewähren.
Von ihrem Leichtsinn beim Glücksspiel erfuhr er zum ersten Mal, als Tod Michaels bei ihm aufkreuzte. Er war Inhaber vom Tod’s Club, einer zwielichtigen Spelunke in Soho.
»Ich habe hier Schuldscheine Ihrer Gattin über tausend Pfund, Sir Alec. Eine Pechsträhne im Roulette, Sie verstehen.«
Alec war aufs höchste schockiert. Er löste die Schuldscheine ein und führte am selben Abend eine Aussprache mit Vivian herbei. »Wir können uns das einfach nicht leisten, glaube mir«, beschwor er sie. »Du gibst mehr aus, als ich verdiene.«
Sie war die Reue in Person. »Es tut mir so leid, mein Engel.«
Und sie kam zu ihm, umarmte ihn, presste ihren Körper an ihn, und sein Ärger war vergessen.
Alec verbrachte eine denkwürdige Nacht in ihrem Bett. Die Probleme waren ausgeräumt, da gab es keinen Zweifel.
Zwei Wochen später suchte Tod Michaels ihn abermals auf. Diesmal beliefen sich Vivians Schuldscheine auf viertausend Pfund. Alec schäumte. »Warum, zum Teufel,
haben Sie ihr überhaupt Kredit eingeräumt?«
»Aber, Sir Alec, sie ist doch Ihre Gattin«, erwiderte Michaels ungerührt. »Was würden die Leute sagen, wenn wir ihr keinen Kredit gäben?«
»Ich - ich muss das Geld besorgen«, gestand Sir Alec. »Soviel Bares hab’ ich momentan nicht zur Hand.«
»Aber ich bitte Sie! Betrachten Sie es als Darlehen, und zahlen Sie’s zurück, wann immer es Ihnen beliebt.«
Außerordentlich erleichtert bedankte sich Alec. »Das ist sehr großzügig von Ihnen, Mr. Michaels.«
Erst einen Monat später erfuhr er Einzelheiten. Vivian hatte inzwischen weitere fünfundzwanzigtausend Pfund verspielt, und Alec bekam einen Zinssatz von zehn Prozent die Woche in Rechnung gestellt. Entsetzen packte ihn. Er sah keine Möglichkeit, soviel Bargeld aufzutreiben. Er besaß nichts, was er verkaufen konnte. Alles, die Häuser, die Antiquitäten, die Autos, seine ganze sogenannte Habe, gehörte Roffe und Söhne. Seine Wut jagte Vivian derartige Angst ein, dass sie hoch und heilig schwor, nie wieder zu spielen. Aber es war zu spät. Alec befand sich in den Klauen von Geldwucherern. Egal, wieviel er ihnen in den Rachen warf, er konnte die Schulden nicht zurückzahlen. Im Gegenteil stiegen sie von Monat zu Monat weiter an, der Berg wuchs, und das nun seit einem Jahr.
Als Tod Michaels’ Eintreiber ihn zum ersten Mal unter Druck zu setzen suchten, drohte er mit dem Polizeichef. »Ich habe Verbindungen zu den höchsten Kreisen«, behauptete Alec.
»Und ich zu den niedrigsten«, entgegnete der Kerl grinsend.
So kam es, dass Alec sich eines Mittags bei White’s jenem fürchterlichen Individuum gegenübersah. Noch dazu musste er seinen Stolz überwinden und um eine Galgenfrist betteln.
»Ich habe doch schon mehr zurückgezahlt, als die Kreditsumme ausmachte. Sie können doch nicht -«
»Das waren nur Zinsen, Sir Alec. Von der Grundsumme haben Sie noch nichts zurückgezahlt.«
Alec fuhr auf. »Das ist Erpressung!«
Ein Schleier legte sich vor Swintons Augen. »Ich werde das dem Boss ausrichten.« Er machte Anstalten aufzustehen.
»Nein, bitte, bleiben Sie«, bat Alec.
Langsam setzte sich Swinton wieder. »Sagen Sie so was nicht noch mal«, warnte er. »Der letzte Kerl, der so quatschte, kriegte seine Knie auf den Fußboden genagelt.«
Alec hatte davon gelesen. Die Gebrüder Kray hatten diese Methode zur »Bestrafung« ihrer Opfer erfunden. Und die Leute, mit denen Alec es zu tun hatte, waren genauso skrupellos. Er fühlte Bitteres in seinem Hals aufsteigen. »So habe ich das ja nicht gemeint«, lenkte er ein. »Es ist doch nur - ich hab’ einfach kein Bargeld mehr.«
Swinton schnippte die Asche von seiner Zigarre in Alecs Weinglas. »So, haste nich, Baby? Aber du hast doch einen fetten Brocken Aktien von Roffe und Söhne, oder?«
»Ja, natürlich. Aber die Anteile sind unverkäuflich und nicht übertragbar. Die nützen niemandem, solange Roffe und Söhne nicht auf den freien Aktienmarkt gehen.«
Swinton stieß dicke Rauchwolken aus. »Und? Tun sie das?«
»Das liegt ganz bei Sam Roffe. Ich - ich hab’ ja schon dauernd versucht, ihn dazu zu überreden.«
»Dann versuch’s mal energischer.«
»Sagen Sie Mr. Michaels, er bekommt sein Geld«, beschwor ihn Alec. »Aber bitte, stellen Sie mir nicht länger nach.«
Swinton starrte ihn unschuldig an. »Nachstellen? Dir? Mann, du kleiner Schwanzlutscher, wenn wir anfangen, dir nachzustellen, dann werden dir die Augen aufgehen. Dann brennen deine verdammten Ställe ab, und du frisst geröstetes Pferdefleisch. Als nächstes ist dein Haus dran. Und vielleicht deine Frau.« Er grinste, ein widerliches Grinsen. »Haste schon mal gebratene Pussy verspeist?«
Alec war wachsbleich geworden. »Um Himmels willen -«
Aber Swinton schaltete bereits eine Gangart zurück. »Mann, reg dich nicht auf, ich mach’ ja nur Spaß. Tod Michaels is’ doch dein Freund, das weißte ja. Und Freunde helfen sich gegenseitig, stimmt’s? Heute morgen erst, bei unserer Sitzung, da haben wir von dir geredet. Und weißte, was der Boss da gesagt hat? >Sir Alec<, hat er gesagt, >auf den kann man sich verlassen. Wenn der das Geld nicht hat, fällt dem bestimmt was anderes ein, wie er uns schadlos halten kann.<«
Alec legte die Stirn in Falten. »Was einfallen? Wieso?«
»Na, Mann, für ein helles Köpfchen wie dich ist es doch wohl nicht so schwer, darauf zu kommen, oder? Du bist doch einer der Obersten von der großen Drogenfirma, stimmt’s? Und da habt ihr doch so ‘n Zeug wie zum Beispiel Kokain. Na, was? Zwischen uns beiden Hübschen: Wer würde rausbekommen, wenn dir aus Versehen hier und da mal ‘ne Ladung abhanden käme?«
Alec konnte ihn nur anstarren. »Sie - Sie sind verrückt geworden«, brachte er schließlich heraus. »Ich - ich könnte das niemals tun.«
»So? Ist aber erstaunlich, was Leute alles tun können, wenn ihnen nichts anderes übrigbleibt.« Swinton stand auf. »Also, entweder hältst du das Geld für uns bereit, oder wir teilen dir mit, wo du die Ware abzuliefern hast.«
Er drückte die Zigarre auf Alecs Butterteller aus. »Viele Grüße an Vivian. Bis bald.«
Und Jon Swinton verschwand.
Da saß Sir Alec, allein und verlassen in einer Umgebung, die Teil seines Lebens gewesen war, eines Lebens, das er nun aufs höchste bedroht sah. Alles war wie sonst, mit Ausnahme des ekelhaften Zigarrenstummels auf dem Butterteller. Wie hatte er diese Kerle nur in sein Dasein eindringen lassen können? Da hatte er sich in eine Position manövrieren lassen, wo er Werkzeug in den Händen der Unterwelt war. Jetzt wusste er auch, dass sie mehr als nur Geld von ihm verlangten. Das Geld war lediglich ein Vorwand. In Wirklichkeit waren sie auf seine Verbindung zum Pharma-Konzern aus, wollten ihn dazu zwingen, für sie zu arbeiten. Sobald herauskam, dass er sich in der Gewalt von Verbrechern befand, würde die Opposition im Parlament es sich nicht nehmen lassen, Kapital daraus zu schlagen. Und die eigene Partei würde ihn mit Sicherheit zum Rücktritt zwingen. O ja, so was geschah sehr taktvoll und geräuschlos. Sie würden Druck auf ihn ausüben, sich für die sogenannten »Chiltern Hundreds« zu bewerben, einen Staatsposten, finanziert von der Krone, für den lediglich ein Nominalgehalt von hundert Pfund im Jahr ausgeworfen war. Als Parlamentarier durfte man aber nicht im Sold der Regierung oder der Krone stehen. Auf diese Weise würde Alec sich gezwungen sehen, seinen Parlamentssitz aufzugeben. Natürlich konnte man auch den wahren Grund nicht auf ewig verschweigen, und Alec sah sich schon der öffentlichen Schande preisgegeben. Es sei denn, er brächte die fragliche Geldsumme auf. Immer wieder hatte er Sam Roffe zu überzeugen versucht, ihn gedrängt, Aktien von Roffe und Söhne zu veräußern.
»Vergiss es«, hatte Sam geantwortet. »In dem Augenblick, wo wir Außenstehenden Anteile verkaufen, tauchen plötzlich lauter Fremde bei uns auf, die uns sagen wollen, wie wir unser Unternehmen zu führen hätten. Und ehe du dich’s versiehst, haben die das Direktorium übernommen und dann das ganze Unternehmen. Warum bist du eigentlich so scharf darauf, Alec, wo liegt für dich der Vorteil? Du hast ein hohes Einkommen, ein unbegrenztes Spesenkonto und dergleichen mehr. Du brauchst das Geld doch gar nicht.«
Einen Moment lang war Alec in Versuchung gewesen, Sam die Wahrheit zu sagen. Und wie er das Geld brauchte! Aber er wusste, das hätte die Sache nur noch schlimmer gemacht. Sam Roffe war ein Geschäftsmann, ein Mensch ohne Sentimentalitäten. Erfuhr er, dass Alec auf so schändliche Weise Roffe und Söhne kompromittiert hatte, würde er ihn feuern, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. Nein, Sam Roffe war der allerletzte, den er um Hilfe bitten konnte.
Es gab keine Rettung mehr für ihn.
Der Empfangsportier von White’s näherte sich respektvoll Sir Alecs Tisch im Speisesaal; in seiner Begleitung befand sich ein Mann in grauer Botenuniform, der einen versiegelten Geschäftsbrief trug.
»Verzeihung, Sir Alec«, sagte der Portier, »aber dieser Mann hier besteht darauf, Ihnen das persönlich auszuhändigen.«
»Vielen Dank.« Sir Alec nahm den Umschlag in Empfang, und der Portier geleitete den Boten wieder hinaus.
Alec saß an seinem Tisch und starrte ins Leere. Erst nach langer Zeit öffnete er den Umschlag. Dreimal las er die Nachricht. Dann zerknüllte er das Papier in der Faust. Seine Augen standen voller Tränen.