Zürich
Montag, 4. Oktober, 10 Uhr
Als Elizabeth in ihr Büro kam, lag auf dem Schreibtisch ein versiegelter Umschlag mit ihrem Namen darauf und dem Aufdruck: Vertraulich. Sie riss ihn auf und fand einen Bericht aus dem chemischen Labor, unterschrieben von Emil Joeppli. Der Bericht war mit Fachausdrücken gespickt, und Elizabeth verstand so gut wie kein Wort. Sie las ihn noch einmal. Und ein weiteres Mal, jedes Mal langsamer und gründlicher. Endlich hatte sie die Bedeutung der Information begriffen. Sie stand auf und informierte Kate Erling: »Ich bin in einer Stunde zurück.« Dann machte sie sich auf die Suche nach Emil Joeppli.
Er war ein hochgewachsener Mann um die Fünfunddreißig, mit einem schmalen Sommersprossengesicht und einem fast kahlen Schädel, der nur noch wenige Büschel leuchtend roter Haare aufwies. Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Offensichtlich war ihm Besuch in seinem kleinen Labor ungewohnt.
»Ich habe Ihren Bericht gelesen«, eröffnete ihm Elizabeth. »Da ist vieles, was ich noch nicht verstehe. Ob Sie mir wohl freundlicherweise auf die Sprünge helfen könnten?«
Auf der Stelle war Joepplis Nervosität verschwunden. Er lehnte sich vor und sprach schnell, voller Selbstsicherheit. »Ich experimentiere an einer Methode, wie man die rapide Veränderung von Kollagen hemmen kann, und zwar durch die Anwendung von Schleim-Polysacchariden und fermentblockierenden Methoden. Kollagen, also Knorpelleim, ist, wie Sie wissen werden, die fundamentale Proteinbasis aller Bindegewebe.«
»Natürlich«, sagte Elizabeth unerschüttert.
Sie versuchte gar nicht erst, den fachmännischen Teil von Joepplis Ausführungen zu verstehen. Was sie sehr wohl begriff, war die Bedeutung des Projekts: Es konnte dazu geeignet sein, den Alterungsprozess aufzuhalten. Ein geradezu atemberaubender Gedanke, eine bahnbrechende Idee!
Sie saß ganz still da, hörte zu, dachte daran, in welchem ungeheuren Ausmaß dies das Leben von Männern und Frauen in der ganzen Welt revolutionieren würde. Folgte man Joeppli, gab es keinen Grund, warum nicht jedermann hundert Jahre werden konnte, vielleicht hundertfünfzig, am Ende sogar zweihundert.
»Man müsste das Mittel nicht einmal injizieren«, erklärte ihr Joeppli. »Nach dieser Formel könnten die Wirkstoffe oral eingenommen werden, als Pille oder Kapsel.«
Die Möglichkeiten waren kaum auszudenken. Was Joeppli ihr da vor Augen führte, bedeutete nicht weniger als eine gewaltige soziale Revolution. Und unzählige Milliarden für Roffe und Söhne! Sie würden das Mittel selbst herstellen, gleichzeitig Lizenzen an andere Firmen vergeben. Und es würde niemanden über fünfzig Jahre geben, der nicht täglich eine Pille brauchte, um sich jung zu halten, Männlein wie Weiblein. Elizabeth hatte Mühe, ihre Erregung zu verbergen.
»Wie weit sind Sie mit dem Projekt schon gekommen?«
»Wie ich in meinem Bericht darlegte, habe ich jetzt vier Jahre lang an Tieren experimentiert. In letzter Zeit sind alle Befunde positiv ausgefallen. Wir stehen unmittelbar vor dem Beginn von Experimenten an Menschen.« Elizabeth fühlte sich von seinem Enthusiasmus angesteckt.
»Wer weiß sonst noch von dieser Sache?« erkundigte sie sich.
»Ihr Herr Vater kannte das Projekt natürlich. Es gehört zur Sicherheitsstufe Rot. Höchste Geheimhaltungsstufe also. Das bedeutet, ich berichte allein dem Konzernchef und einem Direktoriumsmitglied.«
Elizabeth fühlte plötzlich ein kaltes Prickeln im Nacken. »Welchem Mitglied?«
»Herrn Walther Gassner.«
Sie schwieg einen Moment, befand dann: »Von nun an möchte ich, dass Sie nur mir allein berichten, ausschließlich mir.«
Joeppli sah sie erstaunt an. »Jawohl, Miss Roffe.«
»Wann können wir das Produkt auf den Markt bringen?«
»Wenn alles gutgeht, in achtzehn Monaten bis zwei Jahren.«
»Ausgezeichnet. Wenn Sie irgend etwas brauchen -Geld, mehr Personal, neue Geräte -, lassen Sie es mich bitte wissen. Ich möchte, dass Sie so schnell wie möglich vorankommen.«
»Gut, Miss Roffe.«
Elizabeth erhob sich, und sofort sprang auch Joeppli auf.
»Es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen.« Er lächelte und fügte etwas verlegen hinzu: »Ich habe Ihren Herrn Vater sehr verehrt.«
»Danke Ihnen«, erwiderte Elizabeth. Sam hatte also dieses Projekt gekannt, von seiner immensen Bedeutung gewusst. War das ein weiterer Grund, warum er den Konzern nicht verkaufen wollte?
Joeppli öffnete ihr die Tür und sagte zum Abschied: »Es wird wirken. Auch beim Menschen!«
»Natürlich wird es das«, erwiderte Elizabeth.
Es musste einfach.
»Wie ist eigentlich die Prozedur bei einem Projekt der Stufe Rot?«
»Von Anfang an?« fragte Kate Erling zurück.
»Von Anfang an.«
»Also, wie Sie wissen, haben wir mehrere hundert Produkte in verschiedenen Versuchsstadien. Sie -«
»Wer autorisiert die Versuche?«
»Bis zu einem gewissen Geldbetrag tun das die Chefs der jeweiligen Abteilungen.«
»Wo liegt die Grenze?«
»Bei fünfzigtausend Dollar.«
»Und darüber?«
»Dann muss das Direktorium zustimmen. Natürlich gelangt ein Projekt erst nach den verschiedenen Versuchsstadien in die Stufe Rot.«
»Mit anderen Worten, wenn es sich als erfolgversprechend erweist?«
»Genauso ist es«, sagte Kate Erling.
»Und wie wird es geschützt?«
»Handelt es sich um ein wichtiges Projekt, erfolgen alle Arbeiten in den Labors unter höchster Sicherheitsstufe. Sämtliche Unterlagen werden aus der allgemeinen Registratur entfernt und in die Sonderabteilung eingeordnet. Dazu haben nur drei Leute Zugang: der Wissenschaftler, dem das Projekt untersteht, der Präsident und jeweils ein Direktoriumsmitglied.«
»Wer entscheidet, welches Mitglied das sein soll?«
»Ihr Vater hat Walther Gassner beauftragt.«
Sobald der Name heraus war, bemerkte Kate Erling ihren Fehler.
Die beiden Frauen sahen sich an. »Danke, Kate, das wäre fürs erste alles«, beendete Elizabeth die Unterhaltung.
Sie hatte Joepplis Projekt überhaupt nicht erwähnt. Trotzdem wusste Kate Erling, wovon sie sprach. Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder hatte Sam ihr vertraut und ihr von Joepplis Forschungen erzählt - oder sie hatte es auf eigene Faust herausgebracht. Dann natürlich für jemand anderen.
Die Sache war viel zu wichtig, als dass auch nur das Geringste schiefgehen durfte. Sie würde die Sicherheitsvorkehrungen selbst überprüfen. Und sie musste unbedingt mit Walther Gassner reden.
Am selben Nachmittag noch saß Elizabeth in einem Linienflugzeug nach Berlin.
Walther Gassner benahm sich auffällig nervös.
Sie saßen an einem Ecktisch im oberen Teil des Restaurants Papillon und blickten auf den Kurfürstendamm. Bei allen früheren Gelegenheiten, wenn Elizabeth Berlin besuchte, hatte Walther stets darauf bestanden, sie bei sich zu Hause zu bewirten. Diesmal war das überhaupt nicht erwähnt worden. Statt dessen hatte er als Treffpunkt das Restaurant vorgeschlagen.
Walther Gassner hatte noch immer das frische, jungenhafte Aussehen eines Filmstars, doch der Firnis schien abzublättern. In sein Gesicht hatten sich tiefe Falten eingegraben, und seine Hände bewegten sich ständig. Es sah aus, als stünde er unter einem außergewöhnlichen Druck. Als sich Elizabeth nach Anna erkundigte, antwortete Walther ausweichend. »Sie fühlt sich nicht wohl und konnte nicht mitkommen.«
»Irgend etwas Ernstes?«
»Nein, nein, gar nicht. Nur vorübergehend. Sie liegt zu Hause und ruht sich aus.«
»Ich werde sie anrufen und -«
»Ach, stör sie lieber nicht.«
Elizabeth empfand die Unterhaltung als recht merkwürdig und gar nicht typisch für Walther, der sonst überaus herzlich und offen war.
Sie schnitt das Thema Emil Joeppli an. »Wir brauchen das Präparat, woran er arbeitet, sehr, sehr dringend.«
Walther nickte. »Das wird eine ganz große Sache.«
»Ich hab’ ihm gesagt, er soll seine Berichte nicht länger an dich schicken.«
Plötzlich und zum ersten Mal blieben Walthers Hände ganz still auf dem Tisch. Es war wie ein stummer Schrei. Er sah Elizabeth an. »Warum hast du das getan?«
»Das hat überhaupt nichts mit dir zu tun, Walther. Genau dasselbe hätte ich bei jedem anderen Direktoriumsmitglied verfügt. Es ist nur, ich will die Sache auf meine eigene Art handhaben.«
Er nickte. »Verstehe.« Aber seine Hände rührten sich noch immer nicht. »Dazu hast du das Recht, natürlich.« Er rang sich ein Lächeln ab, und sie sah, welche Anstrengung es ihn kostete. »Elizabeth«, brachte er schließlich heraus, »Anna besitzt ein sehr großes Aktienpaket. Ohne deine Zustimmung kann sie es nicht verkaufen. Es - es ist unbeschreiblich wichtig. Ich -«
»Es tut mir leid, Walther. Ich kann jetzt nicht zulassen, dass Aktien auf den Markt kommen.«
Plötzlich bewegten sich seine Hände wieder.