Sie kam sich vor wie im Auge eines Hurrikans.
Alles floss über ihren Tisch: Es kamen Berichte über neue Präparate, Verkaufsziffern, Statistiken, Reklamekampagnen, Forschungsprogramme von den Abteilungen des Hauptquartiers, aus den Fabriken in Zaire, den Laboratorien in Grönland, Niederlassungen in Australien und Thailand, kurz, aus allen vier Ecken der Welt.
Und dann waren Entscheidungen zu treffen: Es ging um den Bau neuer Fabriken, das Abstoßen alter, die Übernahme von Fremdfirmen, um die Einstellung oder Entlassung von Mitarbeitern. In jeder Phase konnte Elizabeth auf Rat und Beistand vieler Experten zurückgreifen, doch alle endgültigen Entscheidungen lagen allein bei ihr, so wie sie vorher bei Sam gelegen hatten. Jetzt war sie dankbar für die drei Jahre, die sie so eng mit ihrem Vater zusammengearbeitet hatte. Sie wusste mehr, viel mehr über den Konzern, als ihr vorher bewusst gewesen war, auf der anderen Seite aber noch viel zuwenig. Die kaum vorstellbare Reichweite der Firma war furchteinflößend. Elizabeth hatte den Konzern früher immer als eine Art Königreich angesehen, in Wahrheit aber bestand er aus einer Reihe von Königreichen, in denen Vizekönige regierten. Und der Thronsaal war das Büro des Präsidenten. Jeder ihrer Vettern war Herr seiner eigenen Domäne, aber darüber hinaus hatten sie die überseeischen Niederlassungen zu kontrollieren, so dass alle dauernd unterwegs waren.
Sehr schnell wurde Elizabeth mit einem Spezialproblem konfrontiert. Sie bewegte sich als Frau in einer Männerwelt, und das erwies sich als Hemmnis.
Eigentlich hatte sie nie so richtig glauben wollen, dass die Männer dem Mythos von der Minderwertigkeit der Frau huldigten. Nun aber wurde sie schnell eines Besseren belehrt. Natürlich sprach es niemand offen aus oder ließ es sie direkt fühlen, aber Elizabeth sah sich jeden Tag diesem Problem gegenüber. Es war eine aus uralten Vorurteilen entstandene Haltung, und man kam einfach nicht daran vorbei. Den Männern ging es gegen den Strich, Anweisungen von einer Frau entgegenzunehmen. Sie hassten schon den Gedanken, dass eine Frau ihre Urteilskraft in Frage stellen könnte oder versuchte, ihre Ideen und Vorstellungen zu verbessern. Dass Elizabeth jung und hübsch war, machte die Sache nur noch schlimmer. Sie versuchten, ihr das Gefühl einzugeben, eine Frau gehöre ins Haus, zu Kindern und Küche und ins Bett; für ernsthafte Gespräche sei sie nicht geschaffen. Das solle sie gefälligst den Männern überlassen.
Jeden Tag beraumte Elizabeth Sitzungen mit den verschiedenen Abteilungsleitern an. Nicht alle verhielten sich feindselig oder abweisend. Einige benahmen sich wie Raubtiere. Ein hübsches Mädchen auf dem Stuhl des Konzernchefs: das war eine Herausforderung für ihr männliches Ego. Ihre Gedanken waren leicht zu lesen: Wenn ich sie vögeln könnte, hätte ich hier auch das Sagen.
Wie die Jünglinge von Sardinien, nur erwachsen.
Die Männer sahen nur das schöne Äußere. Statt um ihren Körper hätten sie sich um ihren Verstand kümmern sollen. Denn der hatte sie an die Leine gelegt. Sie unterschätzten ihre Intelligenz, und das war ihr Fehler.
Ein weiterer Irrtum lag in der Fehleinschätzung ihrer Fähigkeit, Autorität auszuüben.
Und sie rechneten nicht mit ihrer inneren Kraft, was der allergrößte Fehler war. Sie war eine Roffe, in ihr floss das Blut des alten Samuel ebenso wie das ihres Vaters, und deren Willen und Geist waren als Erbgut auf sie übergegangen.
Die Männer ihrer Umgebung versuchten, sie sich zunutze zu machen. In Wahrheit benutzte Elizabeth die Männer. Sie machte sich ihr Können und ihre Erfahrung zu eigen und die Einsichten, die sie im Lauf der Zeit gewonnen hatten. Sie ließ sie alle reden und hörte zu. Sie stellte Fragen und merkte sich die Antworten.
Mit einem Wort: Sie lernte.
Jeden Abend nahm sie zwei schwere Aktentaschen voll Unterlagen mit nach Hause. Manchmal arbeitete sie bis vier Uhr morgens. Eines Abends erwischte ein Zeitungsfotograf sie, als sie aus dem Gebäude kam, im Schlepptau einen Sekretär, der die beiden Aktenkoffer trug. Am nächsten Morgen erschien das Foto in der Presse unter der Überschrift: Die arbeitende Erbin.
Über Nacht war Elizabeth eine internationale Berühmtheit geworden. Die Story vom schönen jungen Mädchen, das einen Multi-Milliarden-Konzern erbte und sich zu dessen Chefin erhob, machte Schlagzeilen. Die Gazetten stürzten sich nur so darauf. Elizabeth war hübsch, gescheit und natürlich, was im Jet-set-Zeitalter höchst selten anzutreffen ist. Sie stand immer den Journalisten zur Verfügung, versuchte, das angeschlagene Image des Konzerns zu verbessern, und die Medien verhielten sich wohlwollend. Wenn sie auf die Frage eines Reporters nicht sofort eine Antwort wusste, scheute sie sich nicht, zum Telefon zu greifen und sich die Auskunft zu verschaffen. Einmal pro Woche kamen ihre Vettern nach Zürich, und Elizabeth widmete sich ihnen, so ausgiebig sie konnte. Sie sprach einzeln mit jedem und in der Runde, unterhielt sich mit ihnen und beobachtete sie genau, immer auf der Suche nach einem Hinweis, wer der Verräter sein könnte, wer unschuldige Menschen in einer Explosion hatte sterben lassen, wer Geheimnisse an die Konkurrenz verriet und darauf aus war, Roffe und Söhne ins Verderben zu stürzen. Einer ihrer Vettern.
Ivo Palazzi, der Unwiderstehliche, mit dem überwältigenden Charme.
Alec Nichols, der immer korrekte Gentleman, sanft, gutmütig und stets an Elizabeths Seite, wenn sie ihn brauchte.
Charles Martel, der verängstigte Pantoffelheld. Und Ängstliche konnten äußerst gefährlich sein, wenn man sie in die Enge trieb.
Walther Gassner. Die ehrliche deutsche Haut. Blendendes Äußeres, immer freundlich. Aber wie sah es in seinem Inneren aus? Er hatte Anna geheiratet, die dreizehn Jahre ältere Erbin. Des Geldes oder der Liebe wegen?
Wenn Elizabeth mit ihnen zusammen war, fuhr sie ihre Antenne ganz weit aus, horchte und tastete sich vor. Sie brachte das Gespräch auf die Explosion in Chile und beobachtete ihre Reaktionen. Sie sprach über Patente, die Roffe und Söhne an die Konkurrenz verloren hatte, und über die drohenden Regierungsklagen.
Das Ergebnis war gleich Null. Um wen es sich auch handelte: Er war viel zu schlau, um sich eine Blöße zu geben. Nur eine Falle konnte ihn zur Strecke bringen. Elizabeth erinnerte sich an Sams Notiz auf dem Bericht: Den Hund kriege ich. Jetzt lag es an ihr, ihn zur Strecke zu bringen.
Sie musste es herausfinden.
An sich selbst stellte Elizabeth fest, dass sie mehr und mehr von den Besonderheiten des Pharmageschäfts in Bann geschlagen wurde.
Hier herrschten ganz eigene Gesetze, Schlechte Nachrichten wurden absichtlich breitgetreten. Sobald jemand in Erfahrung brachte, dass ein Patient durch das Fabrikat eines Konkurrenzunternehmens gestorben war, griffen Dutzende von Leuten zum Telefon.
»Übrigens, haben Sie schon gehört...«
Doch nach außen hin standen alle Firmen miteinander auf bestem Fuß. Die Chefs der großen Konzerne kamen regelmäßig ganz informell zusammen, und bald wurde auch Elizabeth zu einer dieser Zusammenkünfte eingeladen. Sie war die einzige Frau in der Runde. Man tauschte gegenseitig Sorgen und Probleme aus.
Der Vorstandsvorsitzende einer großen Firma, nicht mehr der Jüngste, jedoch ein aufgeblasener Kerl mit arrogantem Gehabe, war Elizabeth schon den ganzen Abend auf den Fersen. Jetzt wandte er sich an sie. »Die Regierungen werden jeden Tag unvernünftiger«, posaunte er. »Immer mehr Restriktionen für unsereins. Wenn morgen irgendein Genie das Aspirin erfände, würde die Regierung ihn niemals damit auf den Markt lassen.« Er schenkte Elizabeth ein überlegenes Lächeln. »Haben Sie eigentlich eine Ahnung, meine junge Dame, wie lange es schon Aspirin gibt?«
Die junge Dame entgegnete: »Seit vierhundert vor Christus, als Hippokrates Salizyl in der Weidenborke entdeckte.«
Er starrte sie an. Das Lächeln war weggewischt. »Stimmt.« Und er verschwand.
Einmütig sahen die Konzernchefs eins ihrer Hauptprobleme in der Existenz der »Ich-auch-Firmen«, jener Pharma-Elstern, welche die Formeln erfolgreicher Produkte stahlen, den Namen des Präparats änderten und es dann als eigenes Erzeugnis auf den Markt warfen. Das kostete die eingesessenen Unternehmen jährlich Hunderte von Millionen Dollar.
In Italien brauchte man die Formel nicht einmal zu stehlen. »Italien ist eines der Länder, wo neue Präparate nicht durch Patentsatzungen geschützt werden«, erfuhr Elizabeth von einem ihrer Gesprächspartner. »Für ein Bakschisch von ein paar tausend Lire kann jeder Formeln kaufen, ein Bestechlicher findet sich immer. Und dann taucht das Produkt unter einem anderen Namen auf. Wir investieren Millionen in die Forschung, und andere streichen den Profit ein.«
»Ist das nur in Italien möglich?« erkundigte sich Elizabeth.
»In Italien und Spanien ist es am schlimmsten. In Frankreich und Westdeutschland sind wir schon besser dran, da ist nicht viel auszusetzen. England und die Vereinigten Staaten sind vorbildlich.«
Elizabeth musterte die entrüsteten, von Geschäftsmoral durchdrungenen Kollegen. Ob einer von ihnen in die Patentdiebstähle bei Roffe und Söhne verwickelt war?
Elizabeth kam es vor, als verbrächte sie die meiste Zeit in Flugzeugen. Ihr Pass lag ständig bereit. Mindestens einmal pro Woche kam ein verzweifelter Hilferuf aus Kairo, Guatemala oder Tokio, und wenige Stunden später befand sie sich, begleitet von einem Expertenteam, auf Rettungsexpedition.
So lernte sie Fabrikmanager und ihre Familien in Riesenstädten wie Bombay kennen oder an entfernten Außenposten wie Puerto Vallarta. Langsam nahm Roffe und Söhne für sie eine neue Perspektive an. Der Konzern war nicht mehr eine unpersönliche Anhäufung von Berichten und Statistiken. Eine Expertise aus Guatemala, das hieß für sie nun Emil Nunoz, seine dicke, immer lustige Frau und die zwölf Kinder. Kopenhagen bedeutete Nils Björn und seine verkrüppelte Mutter, bei der er wohnte und die er versorgte. Rio de Janeiro brachte ihr einen erlesenen Abend mit Alessandro Duval und seiner bezaubernden Geliebten in Erinnerung.
Mit Emil Joeppli blieb Elizabeth in ständiger Verbindung. Sie rief ihn immer auf ihrer Geheimleitung abends von zu Hause aus in seiner kleinen Wohnung in Aussersihl an.
Selbst dann war sie sehr vorsichtig am Telefon.
»Wie kommen Sie voran?«
»Etwas langsamer, als ich gehofft hatte, Miss Roffe.«
»Brauchen Sie etwas?«
»Nein. Nur Zeit. Da ist eine Schwierigkeit aufgetaucht, aber ich glaube, ich schaffe es.«
»Gut. Rufen Sie mich an, wenn Sie etwas benötigen, was immer es auch sein mag.«
»Das werd’ ich. Vielen Dank, Miss Roffe.«
Elizabeth legte auf. Sie spürte den Drang, ihm zu sagen, er solle doch schneller machen; denn sie wusste: Ihre Galgenfrist bei den Banken lief ab. Geradezu verzweifelt war sie auf das Produkt von Emil Joeppli angewiesen, aber ihn zu hetzen war kein Ausweg, und sie bezwang sich. Elizabeth wusste ohnehin, dass die Experimente längere Zeit in Anspruch nehmen würden als der erlangte Aufschub, aber sie hatte einen Plan. Es war ihre Absicht, Julius Badrutt in das Geheimnis einzuweihen. Sie wollte ihn mit in das Labor nehmen und ihm zeigen, was dort vor sich ging. Dann würden ihr die Banken soviel Zeit einräumen, wie sie nur brauchte.
Immer enger arbeitete Elizabeth mit Rhys Williams zusammen, manchmal bis tief in die Nacht. Oft waren sie allein. Dann gab es Abendessen in ihrem PrivatSpeiseraum oder im Büro oder auch in dem eleganten Appartement, das sie gemietet hatte. Es lag in einer modernen Wohnanlage, war weitläufig, luftig und hell und hatte einen phantastischen Blick auf den Zürich-See. Stärker als je zuvor spürte Elizabeth den nahezu animalischen Magnetismus, der von Rhys ausging. Er aber, selbst wenn er sich zu Elizabeth hingezogen fühlen sollte, ließ sich nichts anmerken. Er war stets gleichbleibend freundlich und umsichtig. Onkelhaft, das war der Begriff für sein Verhalten, der sich Elizabeth aufdrängte. Das klang nicht gerade ermutigend, barg auf der anderen Seite aber auch eine große Versuchung. Nur zu gern hätte Elizabeth ihn als Stütze für ihre Sorgen benutzt, hätte ihm alles anvertraut. Trotzdem: Vorsicht war geboten. Mehr als einmal erwischte sie sich dabei, wie sie schon den Mund aufmachte, um ihm alles zu sagen. Aber jedes Mal beherrschte sie sich. Sie konnte mit niemandem darüber reden, noch nicht. Erst musste sie mehr wissen.
Elizabeth gewann immer mehr Selbstvertrauen. Bei einer Verkaufskonferenz stand ein neues Haarspray zur Diskussion, das sich auf dem Markt äußerst schwer tat. Elizabeth hatte es selbst ausprobiert und wusste: Das Produkt war besser als andere.
»Die Rücksendungen seitens der Drogerien nehmen zu«, klagte einer der Verkaufsleiter. »Das Zeug läuft einfach nicht. Wir müssen mehr Reklame machen.«
»Das Budget ist schon überschritten«, widersprach Rhys. »Was wir brauchen, ist ein anderer Dreh.«
»Vergessen Sie die Drogerien«, sagte Elizabeth.
Alle sahen sie an. »Was?«
»Sie wenden sich zu sehr an die breite Masse.« Sie sagte zu Rhys gewandt: »Ich meine, wir sollten die Werbekampagne fortführen, das Produkt aber nur noch in Schönheitssalons anbieten. Wir müssen es exklusiver machen; die Leute sollen sich die Hacken danach ablaufen. Exklusiv und schwer zu bekommen, das ist das richtige Image für das Spray.«
Rhys überlegte einen Moment. Er nickte. »Das scheint der Weg zu sein. Wollen wir’s doch mal so versuchen.«
Über Nacht wurde das Haarspray ein Renner.
Nach der Sitzung hatte Rhys ihr das fällige Kompliment gemacht. »Sie sind nicht mehr nur einfach ein hübsches Mädchen«, meinte er grinsend.
Also gingen ihm endlich die Augen auf.