1. Kapitel

Istanbul

Samstag, 5. September, 22 Uhr

Er war allein, saß im Dunkeln an Hadjib Kafirs Schreibtisch, starrte mit blindem Blick durch die verschmutzten Bürofenster auf die zeitlosen Minarette von Istanbul. Ein Dutzend Metropolen rund um die Welt war ihm vertraut wie sein Zuhause, aber Istanbul gehörte zu seinen Lieblingsplätzen; nicht die von Touristen überlaufene Beyoglustraße oder die protzige Lalezab-Bar im Hilton, vielmehr die abgelegenen Winkel, wo man nur Moslems antrifft: die Djalis und die kleinen Bazare jenseits der Souks.

Er wartete, und in seinem Warten lag die Geduld des Jägers, die entspannte Haltung eines Mannes, der Geist und Körper unter Kontrolle hat. Der Mann stammte aus Wales, seine Züge, von leidenschaftlicher Attraktivität, trugen den Stempel seiner Vorfahren. Sein Haar war schwarz, das Gesicht energisch, scharf geschnitten; die intelligenten Augen leuchteten tiefblau. Über ein Meter achtzig groß, zeigte er die muskulöse Schlankheit eines durchtrainierten Mannes. Das Büro war erfüllt von den Gerüchen Hadjib Kafirs, dem penetrant-süßen Tabakaroma, dem scharfbitteren Kaffeeduft und den Ausdünstungen seines fetten, öligen Körpers. Rhys Williams nahm das alles jedoch nicht wahr. Seine Gedanken kreisten um den Anruf, der ihn vor einer Stunde aus Chamonix erreicht hatte.

»... Ein entsetzlicher Unfall! Glauben Sie mir, Mr. Williams, wir sind hier alle völlig entgeistert. Es passierte so ungeheuer schnell, dass es überhaupt keine Chance zur Rettung gab. Mr. Roffe war auf der Stelle tot.«

Sam Roffe: Präsident und verantwortlicher Chef von Roffe und Söhne, dem zweitgrößten pharmazeutischen Konzern der Welt, einer den Globus umspannenden Multimilliarden-Dollar-Dynastie. Sam Roffe tot - ein unfasslicher Gedanke. Er, der immer voller Energie und Leben steckte, ein Mann, der ständig und unaufhörlich in Bewegung war, in den Flugzeugen zu Hause, die ihn rund um den Erdball brachten, zu den Fabriken und Niederlassungen des Konzerns, wo es galt, Schwierigkeiten zu beseitigen, mit denen andere nicht fertig wurden, neue Konzeptionen und Strategien auszuarbeiten, seine Mitarbeiter bis zum Äußersten anzutreiben. Obwohl er geheiratet hatte und Vater eines Kindes war, blieb sein eigentliches Interesse sein ganzes Leben lang dem Konzern verhaftet. Sam Roffe war eine außergewöhnliche Persönlichkeit gewesen, ein imposanter Mann. Wer sollte ihn ersetzen können? Wer hatte das Zeug dazu, sein Erbe anzutreten, das gigantische Unternehmen zu regieren? Sam Roffe hatte keinen Kronprinzen herangezogen. Warum auch? Schließlich war ihm nie in den Sinn gekommen, mit zweiundfünfzig Jahren zu sterben. Sein Erbe brauchte er noch lange nicht zu regeln, dazu war noch viel Zeit, hatte er geglaubt.

Und jetzt war die Uhr plötzlich abgelaufen.

Im Büro flammten die Lichter auf. Rhys Williams, momentan geblendet, sah zur Tür.

»Mr. Williams! Ich hatte keine Ahnung, dass Sie hier sind.« Die Stimme gehörte Sophie, einer der Sekretärinnen der Niederlassung, die bei jedem seiner Aufenthalte in Istanbul für Rhys Williams abgestellt wurde. Sie war Türkin, Mitte Zwanzig, mit attraktivem Gesicht und geschmeidigem, sinnlichem Körper, die lebendige Verheißung. Mit der geheimnisvollen, uralten Körpersprache hatte sie Rhys Williams zu verstehen gegeben, dass sie ihm über das Geschäftliche hinaus zur Verfügung stand, für alle Annehmlichkeiten, die er begehrte, doch Rhys hatte kein Interesse gezeigt.

Jetzt sagte sie: »Ich bin noch mal gekommen, um ein paar Briefe für Mr. Kafir zu erledigen. Aber vielleicht gibt es etwas, das ich für Sie tun kann?«

Sie kam näher, und Rhys spürte den moschusartigen Geruch des wilden Tieres in der Brunstzeit.

»Wo ist Mr. Kafir?«

Sophie schüttelte bedauernd den Kopf. »Er ist fortgegangen, hat für heute Schluss gemacht.« Mit ihren weichen, ausdrucksvollen Händen strich sie sich das Kleid glatt. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« Ihre Augen glänzten dunkel und feucht.

»Das können Sie«, erwiderte Rhys. »Treiben Sie Kafir auf.« Sie krauste die Stirn. »Ich habe keine Ahnung, wo -«

»Versuchen Sie es in der Karawanserei oder im Mermara.« Rhys selbst tippte auf die Karawanserei, wo eine aus der Sammlung von Hadjib Kafirs zahlreichen Geliebten als Bauchtänzerin auftrat. Obwohl man bei Kafir nie wissen konnte, schoss es ihm durch den Kopf. Möglicherweise steckte er sogar bei seiner Frau.

Sophie war das leibhaftige Bedauern. »Ich will es gern versuchen, aber ich fürchte, ich - «

»Richten Sie ihm aus, wenn er nicht innerhalb einer Stunde hier auftaucht, hat er keinen Job mehr.«

Sofort veränderte sich ihre Miene. »Selbstverständlich, Mr. Williams, ich werde sehen, was ich tun kann.« Sie bewegte sich auf die Tür zu.

»Und machen Sie das Licht aus.«

Mit seinen Gedanken im Dunkeln zu sitzen, erschien ihm irgendwie erträglicher. Immer wieder drängte sich ihm Sam Roffes Bild auf. Den Montblanc zu besteigen -eigentlich fast ein Kinderspiel zu dieser Jahreszeit, Anfang September. Sam hatte den Berg schon mehrmals in Angriff genommen, aber immer hatte ihn die Witterung vor Erreichen des Gipfels zur Umkehr gezwungen.

»Diesmal klappt’s, da pflanze ich oben die KonzernFahne auf«, hatte er Rhys halb im Scherz versprochen.

Und dann, soeben, der Anruf, als Rhys sich im Pera Palace Hotel zur Abreise rüstete. Er hatte die aufgeregte Stimme aus dem Telefon noch im Ohr. »... Sie waren gerade beim Überqueren eines Eisfeldes. Mr. Roffe verlor den Halt, und da riss die Leine. Er stürzte in eine abgrundtiefe Gletscherspalte.«

Rhys sah Sams Körper vor sich, wie er auf das unbarmherzige Eis aufschlug und in den Abgrund stürzte, tiefer, immer tiefer. Er zwang sich von dem Bild los. Das gehörte der Vergangenheit an. Seine Gedanken mussten sich auf die Gegenwart konzentrieren. Es gab genug Probleme zu überdenken. Die Todesnachricht musste Sam Roffes Familie übermittelt werden, und die befand sich an den verschiedensten Ecken der Welt. Dann galt es, eine Verlautbarung für die Presse aufzusetzen. Die Nachricht würde die internationale Finanzwelt erschüttern wie die Druckwelle nach einer schweren Explosion. Schließlich steckte der Konzern in einer finanziellen Krise, und da war es geradezu lebenswichtig, den Schock der Nachricht vom Ableben des Konzernchefs so weit wie möglich zu dämpfen, eine Aufgabe, die Rhys selbst zu meistern hatte.

Rhys Williams war Sam Roffe vor neun Jahren zum ersten Mal begegnet. Rhys, damals fünfundzwanzig, hatte als Verkaufschef einer kleinen pharmazeutischen Firma gearbeitet. Er war ein brillanter Manager mit einem todsicheren Spürsinn für Neuerungen, und in dem Maße, wie das Unternehmen florierte, stieg Rhys’ Ansehen. Roffe und Söhne boten ihm einen Posten an, und als er ablehnte, kaufte Sam Roffe die Firma, für die Rhys arbeitete, einfach auf und ließ ihn zu sich kommen. Noch jetzt spürte Rhys den überwältigenden Eindruck, den Roffes Persönlichkeit bei jenem ersten Treffen auf ihn ausgeübt hatte.

»Ihr Platz ist hier, bei Roffe und Söhne«, hatte Sam ihm kurz und bündig erklärt. »Aus diesem Grund habe ich die Klitsche gekauft.«

Rhys hatte sich geschmeichelt gefühlt, war aber gleichzeitig irritiert. »Was ist, wenn ich nicht bleiben will?«

Sam Roffe hatte gelächelt. »Keine Angst, Sie werden bleiben. Wir beide, Sie und ich, haben eines gemeinsam, Rhys. Wir stecken voller Ehrgeiz. Wir wollen die Welt erobern. Und ich werde Ihnen zeigen, wie man das macht.«

Die Worte waren für Rhys von einer unwiderstehlichen Zauberkraft, verhießen das Schlaraffenland, das den ungeheuren Hunger stillen konnte, der den jungen Mann verzehrte. Denn er wusste etwas, das sich der Kenntnis Sam Roffes entzog: Einen Rhys Williams gab es in Wahrheit nicht. Rhys Williams war ein Mythos, entstanden aus tiefer Armut, heißer Sehnsucht und einem unbändigen Ehrgeiz.

Geboren war er im Bannkreis der Kohlenminen von Gwent und Carmarthen, in einem der rot-vernarbten Täler von Wales, wo die grüne Erde versetzt ist mit Felsen aus Sandstein und kreisrunden Inseln aus Kalk und dem tiefen Schwarz der Kohle. Er wuchs auf in einem Fabelland, wo schon die Namen reine Poesie sind: Brecon und Peny Fan und Penderyn oder Glyncorrwg und Maesteg. Das Land der Sagen und Legenden. Die Kohle tief in der Erde, entstanden vor 280 Millionen Jahren, der Boden darüber, einstmals mit Waldungen so dicht bewachsen, dass ein Eichhörnchen von Brecon Beacons bis zum Meer hüpfen konnte, ohne nur einmal den Boden zu berühren. Aber dann war die industrielle Revolution hereingebrochen, Köhler hatten die herrlich grünen Bäume abgeholzt, zum Fraß für die unersättlichen Feuer in den Ofen der Eisenproduktion.

Der Junge wuchs auf mit den Heldengestalten einer anderen Zeit und einer vergangenen Welt. Robert Farrer, von der römisch-katholischen Kirche auf dem Scheiterhaufen verbrannt, weil er sich weigerte, das Zölibat zu geloben und von seinem Weib zu lassen; König Hywel der Großmütige, der dem wilden Wales im zehnten Jahrhundert das Gesetz gegeben hatte; Brychen, furchterregender Krieger, der zwölf Söhne und vierundzwanzig Töchter gezeugt und alle Angriffe auf sein Königreich mit barbarischer Härte zurückgeschlagen hatte. Es war ein Land, getränkt von Geschichte und Geschichten, in dem der Knabe heranreifte, doch der Glanz von vorgestern war etwas ganz anderes als das Gestern und Heute. Rhys’ Vorfahren waren alle Bergleute gewesen, und der Junge lauschte wieder und immer wieder den Geschichten des Vaters und seiner Onkel: Geschichten aus der Hölle. Er hörte von den harten Zeiten, da es keine Arbeit gab, als die reichen Kohlengruben von Gwent und Carmarthen nach einem gnadenlosen Kampf zwischen den Gesellschaften und den Kumpeln geschlossen wurden und als den Bergarbeitern der Lebenswille gebrochen wurde durch unbeschreibliche Armut, die Ehrgeiz und Stolz zum Erlöschen brachte, ihnen den Willen raubte und sie schließlich zur Unterwerfung zwang.

Und als sich die Tore der Minen wieder öffneten, da nahm die Hölle nur ein anderes Gesicht an. Die meisten aus Rhys’ Familie waren unter Tage umgekommen, tief in den Eingeweiden der Erde, oder hatten sich ihre rußgeschwärzten Lungen aus den Leibern gehustet. Wenige nur hatten ihr drittes Lebensjahrzehnt erreicht.

Rhys hörte seinem Vater zu und seinen vorzeitig gealterten jungen Onkeln. Er hörte von Gesteinseinbrüchen tief unten in der Erde, von den Männern, die zu Krüppeln wurden, und von den Streiks. Er hörte von guten und von schlechten Zeiten, und für den Jungen waren es Geschichten des Grauens. Der Gedanke, sein Leben im Dunkel der Tiefe verbringen zu müssen, entsetzte ihn. Rhys wusste: Diesem Schicksal musste er entrinnen.

Und als er zwölf war, lief er von zu Hause fort. Er kehrte den Kohlentälern den Rücken und zog ans Meer, nach Sully Ranny Bay und Lavernock, zu den Herden der reichen Touristen. Er holte heran, schleppte fort, trug schwere Lasten, machte sich nützlich, wo er nur konnte. Er half Damen die steilen Klippen hinab zum Strand, ächzte unter Picknickkörben, kutschierte in Penarth einen Ponywagen, tat Handlangerdienste auf dem Rummelplatz von Whitmore Bay.

Bei alledem war er nur ein paar Stunden von zu Hause entfernt, doch die eigentliche Entfernung war gar nicht zu messen. Hier gab es die Leute aus einer anderen Welt. Rhys Williams hatte selbst in seinen kühnsten Träumen keine derart prächtig gekleideten Menschen gesehen, solchen Glanz und so herrliche Gewänder. Jede Frau war in seinen Augen eine Königin, die Männer alle elegante und imposante Persönlichkeiten. Er wusste: In diese Welt gehörte er, und er würde alles tun, um sie zu der seinen zu machen.

Mit vierzehn hatte Rhys Williams genug zusammengespart, um eine Fahrkarte nach London zu kaufen. In den ersten drei Tagen wanderte er ziellos durch die gigantische Stadt. Er sog alles gierig in sich auf, die unglaublichen Bilder des Lebens.

Er fand eine Anstellung als Botenjunge bei einem Tuchhändler. Dort arbeiteten zwei männliche Angestellte, für ihn höhere Wesen, und eine Verkäuferin, bei deren Anblick dem Jungen aus Wales jedes Mal das Herz zu singen begann. Die Männer behandelten Rhys wie ein Stück Dreck, was ihn nicht wunderte. Er war ja auch eine komische Figur. Seine Kleidung war primitiv, seine Manieren ungehobelt, und er redete in einem unverständlichen Dialekt. Sie konnten nicht einmal seinen Namen aussprechen, nannten ihn Reiss oder Rei oder Reise. »Man spricht das aus wie Ries«, versuchte Rhys ihnen immer wieder klarzumachen.

Das Mädchen fasste, aus schierem Mitleid, ein Herz für ihn. Sie hieß Gladys Simpkins und teilte in Tooting eine kleine Wohnung mit drei Freundinnen. Eines Tages gestattete sie dem Jungen, sie nach der Arbeit nach Hause zu begleiten, und lud ihn dort auf eine Tasse Tee ein. Der junge Rhys war vor scheuer Erregung ganz außer sich, hatte er sich von dem Stelldichein doch seine erste sexuelle Erfahrung versprochen. Doch als er linkisch seinen Arm um Gladys legte, starrte sie ihn einen Moment lang fassungslos an und brach dann in schallendes Gelächter aus. »Von so was kannste bei mir nix kriegen, was haste dir bloß eingebildet«, erklärte sie. »Aber ‘nen Rat kannste haben. Wenn du willst, dass aus dir was wird, dann zieh dir erst mal ‘n paar anständige Klamotten an und sieh zu, dass du ‘n Stück Erziehung abbekommst, und bring dir vor allem Manieren bei.« Dann betrachtete sie das dünne, leidenschaftliche Gesicht und sah Rhys in die tiefblauen Augen.

Schließlich meinte sie sehr viel sanfter: »Weißt du was? Du kriegst die Kurve schon, wenn du erst mal groß bist.«

Wenn du willst, dass aus dir was wird... Das war der Augenblick, in dem die Phantasiegestalt geboren wurde, ein Fabelwesen namens Rhys Williams. Der wahre Rhys Williams, das war ein ungebildeter, ungehobelter Junge, ohne Hintergrund und Herkunft, ohne Vergangenheit und Zukunft. Aber er besaß Einbildungskraft, scharfe Intelligenz und brannte vor Ehrgeiz. Und das genügte. Zunächst einmal schuf er sich ein Bild von dem, was er sein und wen er darstellen wollte. Sah er in den Spiegel, so blickte ihm dort nicht der linkische, schmutzige Knabe mit dem komischen Dialekt entgegen. Sein Spiegelbild, das war eine geschliffene Persönlichkeit, erfahren und erfolgreich im Leben. Und Rhys begann, sich Schritt für Schritt diesem imaginären Bild, das er von sich selbst in seiner Seele trug, anzugleichen. Er besuchte die Abendschule, verbrachte ganze Wochenenden in Museen und Galerien. Er suchte die öffentlichen Bibliotheken auf, ging ins Theater, wo er von der obersten Galerie aus die Kleider der feinen Leute im Parkett studierte. Er geizte am täglichen Essen, um einmal im Monat ein vornehmes Restaurant zu besuchen, wo er mit Sorgfalt die Tischmanieren der anderen Gäste nachahmte. Er beobachtete, lernte und bewahrte alles in seinem Gedächtnis auf. Wie ein Schwamm war er, wischte die Vergangenheit aus und sog die Zukunft in sich auf.

Innerhalb eines kurzen Jahres hatte Rhys sich genügend Wissen und Weltkenntnis angeeignet, um zu merken, dass Gladys Simpkins, seine Prinzessin von einst, nur ein billiges Cockney-Mädchen war, weit unter seinem Geschmack und Standard. Er kündigte dem Tuchhändler und fand neue Arbeit als Angestellter in einer Drogerie, die zu einer großen Drogisten-Kette gehörte. Noch nicht ganz sechzehn, sah er beträchtlich älter aus, hatte Fleisch angesetzt und war in die Höhe geschossen. Nachgerade fingen die Frauen an, auf die dunkle Attraktivität des Jungen aus Wales aufmerksam zu werden, auf sein Aussehen und seine gewandte, schmeichelnde Zunge. An seinem neuen Arbeitsplatz hatte er sofort durchschlagenden Erfolg. Kundinnen pflegten so lange zu warten, bis sie von Rhys bedient werden konnten. Er kleidete sich gepflegt, sprach akzentfrei und geschliffen. Ihm war wohl bewusst, dass er seit Gwent und Carmarthen einen weiten Weg zurückgelegt hatte. Trotzdem: Wenn er in den Spiegel blickte, war er nicht zufrieden. Die Reise, die er sich vorgenommen hatte, war noch lange nicht zu Ende.

Zwei Jahre später wurde Rhys Williams zum Geschäftsführer der Drogerie befördert. Der Distriktmanager der Kette sagte ihm bei dieser Gelegenheit voraus: »Das ist nur der Anfang, Williams. Mit harter Arbeit werden Sie es eines Tages zum Leiter von einem halben Dutzend unserer Filialen bringen.«

Rhys hätte ums Haar laut losgelacht. Als ob dies Ziel der Gipfel seines Ehrgeizes sein konnte! Er hatte in der Zwischenzeit nie aufgehört, sich weiterzubilden. Gerade damals beschäftigte er sich eingehend mit Management, Handelsrecht und Marketing. Er wollte mehr erreichen, wollte wie in seiner Vision ganz oben auf der Leiter stehen.

Rhys spürte, dass er sich noch auf den unteren Sprossen befand. Die Möglichkeit, höher zu kommen, ergab sich, als eines Tages ein Pharma-Vertreter ins Geschäft kam und Zeuge wurde, wie Rhys mehreren Kundinnen Präparate aufschwatzte, für die sie überhaupt keine Verwendung hatten. Der Mann sagte: »Sie verschwenden hier nur Ihre Zeit, mein Junge, Ihre Fische schwimmen in einem größeren Teich.«

»Und was schwebt Ihnen da vor?« erkundigte sich Rhys.

»Ich werd’ mal mit meinem Boss reden.«

Zwei Wochen später arbeitete Rhys als Vertreter für die kleine pharmazeutische Fabrik. Dem äußeren Anschein nach war er einer von fünfzig Firmenvertretern, aber wenn Rhys in seinen inneren Spiegel blickte, wusste er, das sah nur so aus. Seine einzige wahre Konkurrenz war er selbst. Immerhin kam er seinem Bildnis, der von ihm geschaffenen Phantomgestalt, nun langsam näher: einem Mann, der zugleich intelligent, kultiviert, weltgewandt war und dazu einen überwältigenden Charme besaß. Er versuchte das Unmögliche. Jedermann wusste, mit solchen Eigenschaften musste man geboren sein, so was ließ sich nicht erlernen. Doch Rhys schaffte es. Er wurde zu dem Bildnis, das er sich selbst erschaffen hatte.

Er reiste durchs Land, vertrieb die Produkte seiner Firma, redete und hörte zu. Kam er nach London zurück, steckte er voller praktischer Anregungen. Und er begann, mit frappierender Schnelligkeit die Leiter hinaufzuklettern. Drei Jahre danach wurde Rhys zum Generalmanager des gesamten Vertriebs seiner Firma befördert, die sich unter seiner klugen Führung immer weiter ausdehnte.

Und wieder vier Jahre später war dann Sam Roffe in sein Leben getreten. Sam Roffe hatte den brennenden Ehrgeiz erkannt, der Rhys beherrschte.

»Sie sind genauso wie ich«, hatte Sam Roffe gesagt. »Wir wollen beide die Welt erobern. Ich werde Ihnen zeigen, wie man das macht.« Und er hatte sein Versprechen gehalten.

Sam Roffe war ihm ein glänzender Mentor gewesen.

Unter seiner Führung und Anleitung war Rhys Williams im Lauf der folgenden neun Jahre für den Konzern unentbehrlich geworden. Mit der Zeit wurde ihm immer mehr Verantwortung übertragen; er reorganisierte die verschiedensten Abteilungen, spielte Feuerwehr in allen Gegenden der Welt, wo immer es in der Verästelung des gigantischen Konzerns ein Problem gab, koordinierte die diversen Zweigstellen, entwickelte neue Konzeptionen. Schließlich wusste Rhys Williams über die Führung des Konzerns besser Bescheid als jeder andere, mit Ausnahme von Sam Roffe, natürlich. Rhys schien der designierte Nachfolger des Konzern-Chefs. Eines Morgens waren er und Sam Roffe aus Caracas zurückgekehrt. Sie flogen in einer konzerneigenen Maschine, einer umgebauten und luxuriös ausgestatteten Boeing 707-320 aus einer Flotte von acht Düsenflugzeugen. Sam Roffe hatte Rhys zu einem äußerst lukrativen Vertrag beglückwünscht, den dieser der venezolanischen Regierung abgehandelt hatte.

»Das gibt einen dicken Bonus für Sie, Rhys.«

Rhys hatte mit ruhiger Stimme erwidert: »Ich möchte keinen Bonus, Sam. Lieber wäre mir ein Aktienanteil und ein Sitz im Direktorium.«

Genau das hatte er sich verdient, sie wussten es beide. Aber Sam hatte geantwortet: »So leid es mir tut, ich kann die eiserne Regel nicht brechen, nicht mal für Sie. Roffe und Söhne ist ein hundertprozentiges Familienunternehmen. Kein Außenseiter darf im Direktorium sitzen oder Aktien halten.«

Selbstverständlich wusste Rhys das auch. Er nahm an allen Direktoriumssitzungen teil, nur eben nicht als Vollmitglied. Er war ein Außenseiter. Im Roffeschen Stammbaum stellte Sam den letzten männlichen Vertreter dar. Die anderen Roffes waren Frauen, und die Männer, die sie geheiratet hatten, saßen im Direktorium des Konzerns: Walther Gassner, Ehemann der Anna Roffe, Ivo Palazzi, verheiratet mit Simonetta Roffe, Charles Martel, Ehemann von Helene Roffe, schließlich Sir Alec Nichols, dessen Mutter eine Roffe gewesen war.

Also sah sich Rhys gezwungen, eine Entscheidung zu treffen. Er wusste, er hatte es verdient, einen Sitz im Direktorium zu erhalten, mehr noch: eines Tages den Konzern zu führen. Die gegenwärtigen Umstände standen dem entgegen. Doch Umstände waren der Veränderung unterworfen. Rhys hatte sich entschlossen, zu bleiben und abzuwarten. Sam hatte ihn Geduld gelehrt. Und Sam war jetzt tot.

Wieder ging das gleißende Bürolicht an. Hadjib Kafir stand in der Tür. Kafir, der türkische Verkaufsmanager von Roffe und Söhne, war ein kleiner untersetzter Mann mit dunkler Haut, der seine Diamanten und den dicken Bauch wie Orden stolz spazieren führte. Im Moment hatte er das leicht zerzauste Aussehen eines Mannes, der in höchster Eile in seine Kleider geschlüpft war. Demnach hatte ihn Sophie doch nicht in einem Nachtclub aufgestöbert. Immerhin, dachte Rhys. Sam Roffes Tod hatte eine Nebenwirkung gezeitigt: Coitus Interruptus.

»Rhys!« rief Kafir. »Mein lieber, verehrter Freund, können Sie mir noch einmal verzeihen? Ich hatte keine Ahnung, dass Sie noch in Istanbul sind! Sie waren doch schon auf dem Weg zum Flugplatz, und ich hatte dringende Geschäfte...«

»Setzen Sie sich, Hadjib, und hören Sie genau zu. Ich will, dass Sie vier Telegramme aufgeben, und zwar verschlüsselt, im Konzern-Code. Alle in verschiedene Länder. Und ich bestehe auf persönlicher Zustellung durch den konzerneigenen Botendienst. Haben Sie mich verstanden?«

»Selbstverständlich.« Kafir schien völlig durcheinander.

Rhys sah auf die dünne goldene Armbanduhr von Baume & Mercier an seinem Handgelenk. »Die Post im neuen Stadtteil wird schon geschlossen haben. Schicken Sie die Telegramme von Yeni Posthane ab. Sie müssen in einer halben Stunde über den Ticker sein.« Er gab Kafir eine Kopie des Textes, den er aufgesetzt hatte. »Und jeder, der über diese Angelegenheit auch nur ein Wort verliert, wird auf der Stelle entlassen.«

Kafir blickte auf das Papier, und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Mein Gott!« stieß er aus. »Oh, mein Gott!« Er sah hoch, in Rhys Williams’ düsteres Gesicht. »Wie - wie konnte das nur geschehen... Das ist ja furchtbar!«

»Sam Roffe wurde Opfer eines Unfalls«, erklärte Rhys.

Und jetzt gestattete sich Rhys zum ersten Mal, seine Gedanken der Angelegenheit zuzuwenden, die er die ganze Zeit aus seinem Bewusstsein verdrängt hatte. Er hatte an alles denken wollen, nur an eines nicht: an Elizabeth Roffe, Sams Tochter. Vierundzwanzig war sie jetzt. Als Rhys ihr zum ersten Mal begegnet war, hatte ihm eine Fünfzehnjährige mit Zahnspangen gegenübergestanden, pathologisch schüchtern, viel zu dick, ein einsamer kindlicher Rebell. Doch im Lauf der Jahre hatte Rhys miterlebt, wie aus dem Kind eine junge Frau ganz besonderer Art wurde, ausgestattet mit der Schönheit ihrer Mutter, der Intelligenz und dem lebhaften Temperament ihres Vaters. Sie und Sam waren eng verbunden. Rhys wusste, wie ungeheuer schwer die Nachricht sie treffen musste. Er würde sie ihr selbst überbringen müssen.

Zwei Stunden später schwebte Rhys Williams in einem Konzern-Jet über dem Mittelmeer, Kurs New York.

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