Zur selben Zeit, da Constable Hiller und Sergeant Gaskins die Leiche des ermordeten Mädchens aus der Themse fischten, betrat Max Hornung am anderen Ende von London, zehn Meilen entfernt, die grauweiße Marmorhalle von New Scotland Yard. Allein der Gang durch das sagenumwobene Portal erfüllte ihn mit unsäglichem Stolz. Nie zuvor war das Gefühl der großen Bruderschaft so stark in ihm gewesen. Der Yard bedeutete die Krone! Allein die Telegrammadresse dieser legendären Polizeiburg: Handcuffs, Handschellen - gab es Größeres auf Erden? Max liebte das Englische und die Engländer ungemein. Der Haken war nur, dass sie sich ihm so schwer verständlich machen konnten. Er würde nie begreifen, warum die Engländer ihre Muttersprache so komisch handhabten.
Der Beamte am Empfang sprach ihn an. »Can I help you, Sir?«
Max drehte sich um. »Ich werde von Inspektor Davidson erwartet.«
»Name, Sir?«
Max intonierte ganz langsam und überdeutlich: »Inspektor Davidson.«
Der Beamte betrachtete ihn mit erhöhtem Interesse. »Ihr Name ist Inspektor Davidson?«
»Mein Name ist nicht Inspektor Davidson. Ich heiße Max Hornung.«
Der Polizist hinter dem Pult hüstelte. »Entschuldigen Sie, Sir, aber könnten Sie das vielleicht auf englisch sagen?«
Fünf Minuten später saß Max im Büro von Inspektor Davidson, einem breitschultrigen Mann mittleren Alters mit gesunder Gesichtsfarbe und schiefen gelben Zähnen. Typischer Engländer, dachte Max und fühlte sich am Ziel seiner Träume.
»Am Telefon sagten Sie, es ginge um Sir Alec Nichols, und zwar im Zusammenhang mit Mordverdacht.«
»Er ist einer von einem halben Dutzend Verdächtigen.«
Inspektor Davidson starrte ihn an. »Was meinten Sie?«
Max seufzte. Wieder das alte Leiden. Ganz langsam und deutlich wiederholte er seinen Satz.
»Ach so.« Inspektor Davidson überlegte eine Weile. »Wissen Sie was? Ich bringe Sie in die Abteilung C-4, Vorstrafenregister. Wenn die nichts über ihn haben, versuchen wir’s bei C-ll und C-13: Erkennungsdienst.«
In keinem der Archive war etwas über Sir Alec Nichols vorhanden. Max war jedoch keineswegs entmutigt. Er wusste, wo er bekommen konnte, was er suchte.
Früh am Morgen schon hatte er ein paar Telefonate mit Leuten geführt, deren Arbeitsplatz in der City lag, im Finanzzentrum von London.
Alle, die er anrief, reagierten sofort. Sobald Max seinen Namen nannte, gerieten sie in Panik. Denn jeder Geschäftsmann in der City hatte irgend etwas zu verbergen, und Max Hornungs Ruf war international verbreitet. Sobald sie seinen Worten entnahmen, dass er hinter jemand anderem her war, stolperten sie vor Hilfsbereitschaft über die eigenen Füße.
Und London bescherte Max zwei herrliche Tage. Er suchte Banken auf, Finanzierungsgesellschaften, Kreditinstitute und Registraturen. Die Leute dort interessierten ihn als Gesprächspartner nicht im geringsten. Er wollte nur ihre Computer befragen.
Max war ein Genie im Umgang mit Computern. Wenn er vor den Programmtastaturen saß, wirkte er wie ein Virtuose am Konzertflügel. Es spielte überhaupt keine Rolle, in welcher Sprache die Wundermaschinen gefüttert worden waren: Max konnte sie alle lesen. Er verstand es, mit Digital-Elektronengehirnen umzugehen, mit allen Arten von Sprachcomputern. Ihm waren die Modelle FORTRAN und FORTRAN IV geläufig, auch die riesigen IBM 370, FDP 10 und 11 und ALGOL 68.
Zu seinen Favoriten gehörte der COBOL, konzipiert für Geschäftsdaten, ebenso wie der von der Polizei benutzte BASIC mit der Höchstgeschwindigkeit APL, der nur in Kartogrammen und Grafiken abgelesen werden kann. Max verstand sich mit LISP und APT und gab viel auf die Auskünfte des PL-1. Er bediente sich des Binär-Codes, fragte arithmetische sowie CPV-Einheiten ab, und das Schreibwerk des high-speed printer druckte die gewünschten Antworten mit einer Geschwindigkeit von elfhundert Zeilen in der Minute. Die gigantischen Computer hatten ihr Dasein damit verbracht, wie unersättliche Schwämme Informationen aufzusaugen, zu speichern, zu analysieren und zu memorieren. Und jetzt spieen sie ihr gesammeltes Wissen aus, flüsterten Max ihre Geheimnisse zu, konspirierten mit ihm in ihren abgeschiedenen, vollklimatisierten Grüften.
Nichts war ihnen heilig, nichts vor ihnen sicher. Die geschützte Privatsphäre ist nichts als Legende für Illusionäre und Naivlinge. In den Computern steht der mündige Bürger splitternackt, seine tiefsten Geheimnisse liegen bloß und warten nur darauf, abgerufen zu werden. Gespeichert wird, wer eine Sozialversicherungsnummer besitzt, irgendeine Versicherungspolice, einen Führerschein, ein Bankkonto. Der Bürger ist programmiert als Steuerzahler, Arbeitslosen- oder Sozialhilfeempfänger. Sein Name wird eingespeichert, wenn er den Gesundheitsdienst in Anspruch nimmt, auf ein Haus Hypotheken aufnimmt, Besitzer eines Autos,
Fahrrads, eines Spar- oder Girokontos ist. Wer jemals Krankenhauspatient oder beim Militär gewesen ist, eine Angel- oder Jagdlizenz besitzt, einen Reisepass, Telefon oder Stromanschluss beantragt hat, ist den Computern wohlbekannt, desgleichen der Mensch als Heiratskandidat, Geschiedener oder neugeborener Erdenbürger.
Sofern jemand wusste, wo er nachzufragen hatte, und mit der nötigen Geduld ausgestattet war, konnte er über alle Fakten verfügen.
Max Hornung und die Computer verstanden sich ausgezeichnet. Die elektronischen Kameraden fanden sein Aussehen nicht komisch, hatten nichts daran auszusetzen, wie er sprach, sich benahm oder anzog. Für die Computer war der kleine Inspektor ein Riese. Sie respektierten seine Intelligenz, bewunderten und liebten ihn. Ihm gaben sie gern ihre Geheimnisse preis, amüsierten sich mit ihm über die vielfachen menschlichen Schwächen. Es waren Plauderstündchen zwischen alten Freunden.
»Wollen wir doch mal über Sir Alec Nichols reden«, sagte Max.
Und die Computer legten los. Max bekam ein mathematisch exaktes Konterfei von Sir Alec, komponiert aus Mitteilungen im Binär-Code, in Ziffern und Diagrammen. Nach zwei Stunden verfügte er über umfassende Kenntnisse, ein aufschlussreiches Persönlichkeitsbild des Mannes, dem er auf der Spur war.
Bankquittungen, eingelöste Schecks, Rechnungen, alles wurde ihm zugänglich. Was Max zuerst aufhorchen ließ, waren mehrere Schecks über große Summen, alle ausgestellt auf »Überbringer« und von Sir Alec Nichols eingelöst. Wohin war das Geld geflossen? Max forschte nach, ob es unter Geschäftsspesen oder persönlichen Ausgaben aufgeführt war, möglicherweise auch als Steuerraten. Ergebnis negativ. Er ging noch einmal die Ausgaben durch:
... ein Scheck an White’s Club,... eine Fleischrechnung (unbezahlt)... Abendkleid von John Bates. Quittung vom »Guinea«. Zahnarztrechnung (unbezahlt). Annabelle’s. eine Robe von Saint Laurent in Paris. eine Rechnung vom »Weißen Elefanten« (unbezahlt). Gebührenrechnungen. Zahlungsaufforderung von Wyndham, dem Haarstylisten. vier Kleider von Saint Laurent. Haushaltskosten, Gehälter für das Personal.
Max sprach den Computer der zentralen Kraftfahrzeugbehörde an: eine Frage, Antwort positiv.
Sir Alec besitzt einen Bentley und einen Morris.
Max stutzte. Da fehlte doch irgend etwas. Weit und breit war keine Reparaturrechnung einer Autowerkstatt zu sehen.
Max bat die Computer, ihr Gedächtnis zu überprüfen. Innerhalb von sieben Jahren keine einzige derartige Rechnung.
Haben wir was vergessen? fragten die Computer.
Nein, antwortete Max. Ihr habt gar nichts vergessen.
Sir Alec nahm keine Werkstatt in Anspruch. Er reparierte seine Autos selbst. Wer technisch so begabt war, konnte mühelos einen Jeep manipulieren oder einen Aufzug zum Absturz bringen. Max brütete über den endlosen Zahlenkolonnen, die seine Freunde ihm auftischten, begeistert wie ein Archäologe, der frisch entdeckte Hieroglyphen entziffert. Prompt stieß er auf neue Geheimnisse. Eines war klar: Sir Alecs Ausgaben überstiegen sein Einkommen beträchtlich.
Wieder ein loses Ende.
Seine Freunde in der City hatten weitverzweigte Beziehungen. Innerhalb von zwei Tagen wusste Max, dass Sir Alec bei einem gewissen Tod Michaels in der Kreide stand, einem Club-Besitzer in Soho.
Max sprach bei den Polizeicomputern vor und stellte Fragen. Sie hatten die Antworten parat. Jawohl, wir können dir mit Tod Michaels dienen. Er wurde verschiedentlich angeklagt, aber nie verurteilt. Verdacht auf Erpressung, Rauschgifthandel, Prostitution und Geldwucher.
Max machte sich auf den Weg nach Soho und stellte weitere Fragen. Bald wusste er: Sir Alec Nichols spielte nicht. Wohl aber seine Frau.
Als Max sein Programm absolviert hatte, hegte er keinerlei Zweifel mehr: Sir Alec Nichols wurde erpresst. Bei ihm häuften sich die unbezahlten Rechnungen. Er brauchte Geld, und zwar schnell. Seine Firmenanteile würden ihm Millionen einbringen, sofern er sie veräußern konnte. Dem hatte Sam Roffe im Wege gestanden, und jetzt Elizabeth. Sir Alec Nichols hatte ein Mordmotiv.
Max begab sich auf die Computer-Pirsch nach Rhys Williams. Die Maschinen taten ihr Bestes, doch die Informationen blieben zu dünn.
Rhys Williams, spuckten die Computer aus, war männlichen Geschlechts, geboren in Wales,
vierunddreißig Jahre alt, unverheiratet. Leitender
Angestellter bei Roffe und Söhne, Gehalt: achtzigtausend Dollar jährlich, plus Bonusse. Bankverbindungen in London: ein Sparkonto mit zwanzigtausend Pfund Guthaben, ein Girokonto mit rund achthundert Pfund. Bankschließfach in Zürich, Inhalt unbekannt. Inhaber aller gängigen Kreditkarten. Viele der damit erworbenen Gegenstände offensichtlich für Frauen bestimmt. Rhys Williams hatte kein Vorstrafenregister. Bei Roffe und Söhne seit neun Jahren beschäftigt.
Das gibt nichts her, dachte Max, bei weitem nicht. Es kam ihm vor, als versteckte sich Rhys Williams hinter den Computern. Max musste daran denken, wie abweisend der Mann sich verhalten hatte, als er, Max, Elizabeth nach der Beerdigung von Kate Erling befragt hatte. Wen hatte Rhys schützen wollen? Elizabeth Roffe? Oder sich selbst?
Für sechs Uhr abends buchte Max einen Flug der Alitalia nach Rom, Touristenklasse.