21. Kapitel

Keiner spürte mehr als Elizabeth die enorme Last der Verantwortung, die sie sich aufgeladen hatte. Solange sie den Konzern führte, waren Tausende von Arbeitnehmern von ihr abhängig. Sie brauchte Hilfe, aber woher nehmen? Wem konnte sie trauen? Elizabeth hatte keine Ahnung. In der Reihe derer, denen sie sich gern anvertraut hätte, standen Alec, Rhys und Ivo vorne an. Aber dazu war es noch zu früh. Sie ließ Kate Erling kommen.

»Ja, Miss Roffe?«

Elizabeth zögerte, wusste nicht, wie und wo sie beginnen sollte. Kate Erling hatte viele Jahre lang ihrem Vater treu gedient. Wenn jemand ein Gespür für die Strömungen unter der trügerisch glatten Oberfläche hatte, dann sie. Sie wusste über alles Bescheid, kannte das Räderwerk der Firma, Sams Seelenleben, seine Pläne. Kate Erling, dachte Elizabeth, könnte eine starke Verbündete abgeben.

Schließlich sagte sie: »Kate, mein Vater hat sich da einen vertraulichen Bericht anfertigen lassen. Wissen Sie etwas davon?« In Kate Erlings Kopf arbeitete es. Elizabeth sah förmlich, wie sie ihr Gedächtnis quälte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Mit mir hat er nie darüber gesprochen, Miss Roffe.«

Elizabeth versuchte es auf andere Weise. »Wenn mein Vater eine streng vertrauliche Untersuchung wünschte, an wen hätte er sich da gewandt?«

Diesmal kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen. »An unsere Sicherheitsabteilung.«

Genau dahin hätte sich Sam zuallerletzt gewandt, dachte Elizabeth. »Vielen Dank«, sagte sie laut.

Also gab es niemanden, mit dem sie offen reden konnte.

Auf ihrem Tisch lag der neueste Finanzbericht des Unternehmens. Beim Lesen bekam Elizabeth eine Gänsehaut. Sofort ließ sie den Leiter des Rechnungswesens rufen. Er hieß Wilton Kraus, war jünger, als Elizabeth erwartet hatte, wirkte intelligent und eifrig und strömte eine leichte Aura von Überlegenheit aus. Typisch Wharton School, dachte Elizabeth. Möglicherweise auch Harvard.

Sie kam ohne Umschweife zum Thema. »Wie kann ein Konzern von unseren Ausmaßen in finanzielle Schwierigkeiten geraten?«

Kraus sah sie an, zuckte die Achseln. Offensichtlich war er es nicht gewöhnt, einer Frau Bericht abzustatten. Herablassend hob er an: »Also, um es möglichst simpel -«

»Beginnen Sie mit den Fakten«, schnitt Elizabeth ihm das Wort ab. »Bis vor zwei Jahren hatten Roffe und Söhne genug eigene Finanzreserven.«

Sie beobachtete, wie sich seine Miene veränderte. Er versuchte, sich anzupassen. »Also, ja - ja, Ma’am, das stimmt.«

»Warum sind wir dann heute bei den Banken so hoch verschuldet?«

Er schluckte. »Vor ein paar Jahren haben wir eine Phase außergewöhnlicher Expansion durchgemacht. Ihr Herr Vater und die anderen Direktoren hielten es für richtig, das Geld durch kurzfristige Bankkredite zu beschaffen. Unsere gegenwärtigen Obligationen belaufen sich auf sechshundertfünfzig Millionen Dollar. Etliche dieser Darlehen sind jetzt fällig.«

»Überfällig«, verbesserte ihn Elizabeth.

»Jawohl, Ma’am, überfällig.«

»Wir zahlen den üblichen Zinssatz plus ein Prozent plus Verzugszinsen. Wir haben weder die überfälligen Darlehen abbezahlt noch die Kredite reduziert. Warum nicht?«

Ihn konnte jetzt nichts mehr überraschen. »Wegen -na ja, weil es da in jüngster Zeit bestimmte unglückselige Vorkommnisse gab, deshalb ist die Liquidität des Konzerns erheblich geringer als erwartet. Unter normalen Umständen würden wir einfach an die Banken herantreten und um Kreditverlängerung bitten. Aber bei unseren gegenwärtigen Schwierigkeiten, den vielen Schadensersatzleistungen, den Verlusten bei unserer Forschungsarbeit und...« Er brach ab.

Elizabeth sah ihn forschend an. Auf wessen Seite stand er wohl? Dann blickte sie wieder auf die Bilanz auf ihrem Schreibtisch, versuchte herauszufinden, wo der Zug aus den Gleisen geraten war. Die Bilanz zeigte einen rapiden Abfall vor allem in den vergangenen drei Quartalen, hauptsächlich wegen der hohen Schadensersatzzahlungen, die unter »Sonderausgaben (einmalig)« geführt wurden. Vor ihrem inneren Auge sah sie die gewaltige Explosion in Chile, die Giftwolke, die in die Luft schoss. Sie meinte, die Schreie der Opfer zu hören. Ein Dutzend Tote, Hunderte in den Krankenhäusern. Und am Ende hatten sich alle Schmerzen, alles menschliche Leid auf den Begriff Geld reduziert, Sonderausgaben (einmalig).

Sie sah zu Wilton Kraus hoch. »Ihrem Bericht gemäß, Mr. Kraus, sind unsere Schwierigkeiten temporärer Natur. Schließlich sind wir Roffe und Söhne. Und für jede Bank der Welt kreditwürdig.«

Jetzt war es umgekehrt: Er sah sie forschend an. Alle Überheblichkeit war gewichen, dafür schien er jetzt sehr auf der Hut zu sein.

»Sie müssen sich klarmachen, Miss Roffe«, fuhr er vorsichtig fort, »dass es bei einem pharmazeutischen Unternehmen ebensosehr auf den Ruf ankommt wie auf die Qualität der Präparate.«

Hatte sie das nicht schon einmal gehört? Von ihrem Vater? Alec? Dann fiel es ihr ein. Von Rhys.

»Ja, und weiter?«

»Unsere Schwierigkeiten werden langsam zu publik. Die Geschäftswelt ist wie ein Dschungel. Wenn Ihre Konkurrenten nur Wind davon bekommen, dass Sie verwundet sind, dann schwärmen sie aus, um einen aufzufressen.« Er zögerte. »Sie sind schon im Kommen, bereit zum Todesstoß.«

»Mit anderen Worten«, entgegnete Elizabeth, »unsere Konkurrenten arbeiten mit unseren Banken zusammen.«

Er schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln. »Genau. Die Banken haben für Darlehen begrenztes Kapital. Wenn sie davon überzeugt sind, dass A ein lohnenderes Anlageobjekt ist als B, dann -«

»Und? Glauben Sie das in unserem Fall?«

Leicht nervös fuhr er sich mit den Fingern durch das Haar. »Seit dem Tode Ihres Vaters hat mich ein gewisser Julius Badrutt mehrmals angerufen. Er steht dem Bankenkonsortium vor, mit dem wir verhandeln.«

»Und was wollte Herr Badrutt?« Sie wusste genau, was jetzt kam.

»Er wollte wissen, wer der neue Präsident von Roffe und Söhne sein wird.«

»Wissen Sie denn, wer der neue Präsident ist?« erkundigte sich Elizabeth.

»Nein, Ma’am.«

»Ich bin’s.« Sie beobachtete amüsiert, wie er sein Erstaunen zu verbergen suchte. »Was wird Ihrer Meinung nach geschehen, wenn Herr Badrutt diese Neuigkeit erfährt?«

»Dann zieht er uns den Stöpsel aus der Wanne«, entfuhr es Wilton Kraus.

»Ich werde mit ihm reden«, verkündete Elizabeth. Sie lehnte sich zurück. »Hätten Sie gern eine Tasse Kaffee?«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, ja, danke, sehr gern.«

Elizabeth konnte genau beobachten, wie die Spannung von ihm wich. Er hatte gespürt, dass er auf dem Prüfstand saß, und meinte, den Test bestanden zu haben.

»Ich würde gern Ihren Rat hören«, fuhr Elizabeth fort. »An meiner Stelle, Mr. Kraus, was täten Sie da?«

Die leicht überlegene Miene war wieder da. »Na ja«, meinte er ohne Zögern. »Das ist ganz einfach. Roffe und Söhne besitzen enorme Vermögenswerte. Wenn wir einen substantiellen Anteil veräußern, könnten wir spielend die Mittel zur Tilgung aller unserer Bankverbindlichkeiten aufbringen.«

Jetzt wusste Elizabeth, auf welcher Seite er stand.

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