55. Kapitel

Die Dunkelheit war Feindesland, voller unsichtbarer Gegner, die auf die Gelegenheit zum Losschlagen warteten. Und Elizabeth ging auf, dass sie ihnen allen ausgeliefert war, auf Gnade und Verderben. Campagna hatte sie hierhergelockt, in die Mordfalle. Campagna war Rhys’ Geschöpf. Sie erinnerte sich jetzt, was Max Hornung über den Austausch der beiden Jeeps berichtet hatte. Der Verantwortliche musste Helfer gehabt haben. Und zwar jemanden, der die Insel wie seine Westentasche kannte. Wie überzeugend sich Campagna gegeben hatte. Wir haben alle Schiffe und Flughäfen abgeklappert. Natürlich, denn Rhys hatte gewusst, dass sie auf die Insel kommen würde, um sich dort zu verstecken. Wo wollen Sie warten? In der Polizeistation oder in Ihrer Villa? Campagna hätte sie in Wahrheit nie zur Polizei gebracht. Und es war auch nicht die Polizeistation gewesen, mit der er telefoniert hatte, sondern Rhys. Wir sind jetzt in der Villa...

Elizabeth wusste, sie musste sofort fliehen, aber ihr fehlte einfach die Kraft. Sie brauchte ihren ganzen Willen, um überhaupt die Augen offenzuhalten. Arme und Beine fühlten sich an wie Blei. Plötzlich wurde ihr auch klar, warum. Er hatte ihr ein Schlafmittel in den Kaffee geschüttet. Sie drehte sich um und tastete sich in die dunkle Küche, öffnete einen Schrank und suchte mit den Händen, bis sie fand, was sie wollte. Sie nahm eine Flasche Essig heraus, mischte ihn mit Wasser in einem Glas und würgte das Zeug herunter. Auf der Stelle drehte sich ihr der Magen um, und sie erbrach sich in den Ausguss. Danach fühlte sie sich etwas besser, doch das Schwächegefühl wollte nicht weichen. Ihr Gehirn verweigerte den Gehorsam. Es war ihr, als seien alle inneren Lebensströme schon versiegt, in Erwartung des unausweichlichen Todes.

Doch Elizabeth rebellierte. »Nein!« sagte sie in die Dunkelheit. »Du legst dich nicht einfach hin und stirbst. So leicht sollen es deine Feinde nicht haben. Du wirst kämpfen!« Sie hob die Stimme. »Rhys, komm und bring mich um!« Aber es war kaum mehr als ein Flüstern.

Sie machte sich auf den Weg zur Halle, ihr Instinkt arbeitete wie ein Radar. Unter dem Bildnis des alten Samuel blieb sie stehen. Draußen fuhr der jaulende Südwind um das Haus, schien ihr etwas zuzurufen. Verhöhnte er sie, oder war es eine Warnung? Da stand sie allein in der Finsternis, vor einer Alternative des Grauens. Sie konnte hinauslaufen in die unheimliche Nacht, konnte versuchen, Rhys zu entkommen. Oder sie blieb, wo sie war, und leistete ihm Widerstand bis zum Letzten. Aber wie?

Eine innere Stimme versuchte, ihr dringend etwas zu sagen, aber sie war immer noch benommen von der Droge, konnte sich einfach nicht konzentrieren. Es hatte etwas mit einem Unfall zu tun, Unfall... Unfall...

Dann fiel es ihr ein, und sie sagte laut: »Er muss es so tun, dass es wie ein Unfall aussieht.«

Du musst ihn daran hindern, Elizabeth! War das der alte Samuel, der zu ihr sprach? Oder hatte sie ihre eigene Stimme gehört?

»Ich kann nicht, es ist zu spät.« Wieder fielen ihr die Augen zu, und sie presste das Gesicht gegen die kühle Oberfläche des Ölgemäldes. Jetzt schlafen zu können, wie herrlich das wäre! Aber da gab es noch etwas, das sie tun musste. Was war es doch nur? Immer wieder entschlüpfte ihr der Gedanke.

Lass es nicht wie einen Unfall aussehen. Zeige allen, dass es Mord war. Dann wird ihm der Konzern nie und nimmer gehören!

Und Elizabeth wusste, was sie zu tun hatte. Sie ging ins Wohnzimmer, zögerte einen Moment, nahm dann eine Tischlampe und schmetterte sie in den nächsten Spiegel. Sie hob einen Stuhl hoch und schlug ihn so lange gegen die Wand, bis das Holz splitterte. Mit den Händen fegte sie die Bücher von den Regalen, riss die Seiten bündelweise heraus, verstreute sie überall im Zimmer. Sie zerrte die ohnehin nutzlose Telefonschnur aus der Wand. Das hier soll Rhys der Polizei erst mal plausibel machen, dachte sie grimmig. Nein, sie würde sich nicht sanft zum Sterben hinlegen. Sie mussten sie zuerst kleinkriegen.

Plötzlich fuhr ein Windstoß durch das Zimmer, wirbelte das Papier in die Luft. Erst nach einigen Augenblicken wurde ihr klar, was es bedeutete.

Sie war nicht länger allein im Haus.

Auf dem Flughafen Leonardo da Vinci wanderte Max Hornung rastlos umher. Er strich gerade um den Frachtguttrakt, als dort ein Hubschrauber landete. Der Pilot hatte noch nicht einmal die Tür ganz geöffnet, da tauchte Max neben ihm auf. »Können Sie mich nach Sardinien bringen?« fragte er.

Der Pilot starrte ihn verwundert an. »Was ist denn heute eigentlich los? Ich hab’ gerade erst einen rübergebracht. Drüben weht ein böser Sturm.«

»Fliegen Sie mich nun hin?«

»Das kostet Sie den dreifachen Preis.«

Max zögerte keine Sekunde. Er kletterte schon in die Kabine. Als sie abhoben, erkundigte er sich bei dem Piloten: »Wer war der Passagier, den Sie nach Sardinien gebracht haben?«

»Er hieß Williams.«

Jetzt war die Dunkelheit ihr Verbündeter. Der Freund, der sie vor ihrem Mörder verbarg. Zur Flucht war es zu spät. Elizabeth musste irgendwo im Haus ein Versteck finden. Auf Zehenspitzen schlich sie nach oben, bemüht, die Distanz zwischen sich und Rhys zu vergrößern. Am Kopf der Treppe zögerte sie einen Augenblick, dann tastete sie sich in Richtung auf Sams Schlafzimmer vor. Aus der Finsternis sprang etwas auf sie zu, sie fuhr zurück. Aber es war nur der Schatten eines sturmgepeitschten Baumes, der durch das Fenster fiel. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie sicher war, Rhys könnte es da unten hören.

Du musst ihn aufhalten, befahl die innere Stimme. Aber wie? Ihr Kopf wog unendlich schwer, alles lag im Nebel. Denk nach! ermahnte sie sich. Was hätte der alte Samuel jetzt getan? Sie ging zum Schlafzimmer am Ende des Korridors, nahm innen den Schlüssel heraus und schloss von außen ab. Dasselbe tat sie mit den anderen Türen, und plötzlich waren es die Tore des Krakauer Ghettos, und Elizabeth wusste nicht, warum sie das tat, bis ihr einfiel: Sie hatte Aram umgebracht und musste ihre Spuren verwischen. Unten leuchtete eine Taschenlampe auf. Langsam bewegte sich der Strahl die Treppe hinauf. Ihr Herz schien zu zerspringen. Rhys kam, holte zum letzten Schlag aus. Elizabeth kämpfte sich die Stiege zum Turm hoch, aber auf halbem Weg versagten ihr die Beine. Sie knickte in den Knien ein und kroch den Rest des Weges auf Händen und Füßen. Nach einer Ewigkeit war sie oben angelangt. Mühsam richtete sie sich auf. Sie öffnete die Tür zum Turmzimmer, schob sich nach innen. Die Tür, hörte sie Samuels Stimme. Schließ die Tür ab!

Elizabeth schloss ab, aber sie wusste, das konnte Rhys nicht von ihr fernhalten. Wenigstens musste er die Tür jetzt erst einschlagen, dachte sie. Noch ein Akt der Zerstörung, den er nicht so einfach würde erklären können. Ihr Tod würde wie Mord aussehen, das konnte er jetzt kaum noch verhindern. Aber sie wollte es ihm noch schwerer machen. Mit letzter Kraft schob sie Möbel vor die Tür. Sie bewegte sich mühevoll, als hinge die Dunkelheit wie eine zähe Masse an ihr. Erst einen Tisch, dann einen Sessel, danach noch einen Tisch. Sie arbeitete wie ein Automat, kämpfte um Zeit, baute ihre kümmerliche kleine Festung gegen die Übermacht des Todes. Von unten kam ein Krachen, erst einmal, dann ein zweites und drittes Mal. Rhys schlug die Schlafzimmertüren ein, auf der Suche nach ihr. Spuren der Gewalt, das hieß: Spuren für die Polizei. Sie hatte ihn ausgetrickst, genauso, wie er sie hereingelegt hatte. Trotzdem, irgend etwas stimmte da nicht. Wenn Rhys ihren Tod als Unfall hinstellen wollte, wieso brach er dann Türen auf? Elizabeth ging zur Verandatür, sah nach draußen, lauschte dem wilden Sturm, der ihre Totenklage sang. Zwischen ihr und dem Abgrund stand nur noch der Balkon, dann kam nichts mehr, nur tief unten die aufgepeitschte See. Aus diesem Raum gab es kein Entrinnen. Sie saß in der Falle. Aber hier lag auch für Rhys der Augenblick der Wahrheit, hier musste er sie herausholen. Elizabeth tastete nach irgendeinem Gegenstand, der ihr als Waffe dienen konnte, aber sie fand nichts.

Im Dunkeln wartete sie auf ihren Mörder.

Warum zögerte Rhys so lange? Wieso schlug er die Tür nicht ein und machte allem ein Ende? Schlag die Tür ein, Rhys! Da war ein Fehler in der Rechnung. Selbst wenn Rhys ihre Leiche wegbrachte und irgendwo verbarg, konnte er die Verwüstung im Haus nicht erklären, den zerschmetterten Spiegel, die eingeschlagenen Türen. Elizabeth versuchte, sich in ihn hineinzuversetzen. Was konnte das für ein Plan sein, der alles das berücksichtigte und doch ausschloss, dass die Polizei ihn als Mörder verdächtigte? Darauf gab es nur eine Antwort.

Und als Elizabeth diese Antwort einfiel, roch sie auch schon den Qualm.

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