Berlin
Montag, 7. September, 10 Uhr
Anna Roffe-Gassner wusste: Sie durfte nicht noch einmal schreien. Wenn sie das tat, käme Walther zurück. Und er würde sie umbringen. Hilflos kauerte sie in einem Winkel ihres Schlafzimmers, unfähig, ihren zitternden Leib unter Kontrolle zu bringen, in Todesangst. Die Reise war zu Ende. Was als wunderbares Märchen begonnen hatte, endete im Schrecken, in einem Meer unbeschreiblichen Entsetzens. Sie hatte lange gebraucht, um der Wahrheit ins Auge zu sehen: Der Mann, den sie geheiratet hatte, war ein Irrer, ein wahnsinniger Mörder.
Ehe sie Walther Gassner begegnete, hatte Anna keinen Menschen auf Erden geliebt, auch nicht ihre Mutter, ihren Vater oder gar sich selbst. Anna, ein schwaches, kränkliches Kind, hatte von früh an unter Ohnmachtsanfällen gelitten. Solange sie sich zurückerinnern konnte, gab es in ihrer Kindheit keine Perioden ohne Kliniken, Pflegerinnen oder Spezialisten, die aus den entferntesten Gegenden eingeflogen worden waren. Ihr Vater war Anton Roffe, von Roffe und Söhne, und deshalb stand es außer Frage, dass die berühmtesten Ärzte der Welt an Annas Krankenbett in Berlin eilten. Doch wenn sie nach all den aufwendigen Untersuchungen und Tests wieder verschwanden, waren sie so schlau wie zuvor. Es gab niemanden, der Annas Zustand diagnostizieren konnte.
Anna war nicht in der Lage, wie andere Kinder eine Schule zu besuchen, und mit der Zeit zog sie sich ganz in sich zurück, schuf sich ihre eigene Welt, mit ihren Träumen und Phantasiegebilden. Sie malte sich ihr eigenes Bild vom Leben, weil die Farben der Realität zu grell für sie waren. Als sie achtzehn war, verschwanden die Anfälle von Schwindelgefühl und Ohnmacht genauso plötzlich, wie sie aufgetreten waren. In einem Alter, da die meisten Mädchen sich verlobten oder heirateten, war Anna noch ungeküsst. Das machte ihr überhaupt nichts aus, versicherte sie sich immer wieder. Sie war es zufrieden, ihr Traumleben zu leben, abgesondert von allem und jedem. Sie war Mitte Zwanzig, als sich die Freier meldeten. Anna Roffe war eine Erbin, die einen der berühmtesten Namen der Welt trug, und eine Vielzahl von Männern war nur allzu begierig, ihr Vermögen mit ihr zu teilen. Sie bekam Anträge von einem schwedischen Grafen, einem italienischen Poeten und einem halben Dutzend mittelloser Prinzen. Anna wies alle ab. An ihrem dreißigsten Geburtstag überkam Anton Roffe der Jammer. »Mein Schicksal ist es, ohne Enkel zu sterben.«
An ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag reiste Anna nach Österreich, und in Kitzbühel begegnete sie Walther Gassner, einem Skilehrer, dreizehn Jahre jünger als sie.
Als sie Walther das erste Mal sah, stockte ihr bei seinem Anblick buchstäblich der Atem. Er glitt auf Skiern die steile Abfahrt des Hahnenkamms hinunter, und das war das schönste Bild, das Anna in ihrem Leben je gesehen hatte. Sie ging näher auf das Streckenziel zu, um ihn besser betrachten zu können. Er war wie ein junger Gott, und Anna wollte gar nicht mehr als ihn nur anschauen. Schon das war ein großes Erlebnis. Er ertappte sie, wie sie ihn anstarrte.
»Laufen Sie nicht Ski, gnädiges Fräulein?«
Sie schüttelte nur den Kopf, da ihre Stimme versagte.
Lachend fügte er hinzu: »Dann darf ich Sie vielleicht zum Mittagessen einladen?«
Anna nahm Reißaus, voller Panik, wie ein Schulmädchen. Von nun an wich ihr Walther Gassner nicht mehr von der Seite. Sie machte sich nichts vor. Sie wusste, sie war weder schön noch geistreich. Sie war ganz einfach eine recht unansehnliche Frau und hatte, mit Ausnahme ihres Namens, einem Mann wenig zu bieten. Schließlich konnte nur sie selbst wissen, dass unter dem unauffälligen Äußeren sich ein wunderschönes, gefühlvolles Mädchen verbarg. Ein Mädchen voller Liebe, Poesie und Melodie.
Vielleicht hatte Anna gerade, weil sie nicht schön war, eine tiefe Ehrfurcht vor allem Schönen. In den Museen betrachtete sie stundenlang die Gemälde und Statuen. Nachdem sie Walther Gassner begegnet war, wähnte sie, alle Götter seien zum Leben erwacht, speziell für sie.
Am zweiten Tag frühstückte Anna auf der Terrasse des Hotels Tennerhof, als Walther Gassner bei ihr auftauchte. Er sah aus wie Apoll. Ein gleichmäßig schön geschnittenes Profil gesellte sich zu feinen, ausgeprägten Zügen, stark und sensibel zugleich. Er war tief gebräunt, die Zähne leuchteten weiß und ebenmäßig. Er hatte blondes Haar und graue Augen. Der Ski-Anzug verbarg kaum seine starken Muskeln, und Anna spürte ein Beben. Sie verbarg die Hände im Schoß, damit er ihre Unruhe nicht bemerkte.
»Gestern nachmittag hab’ ich Sie vergeblich am Hang gesucht«, sagte Walther. Anna brachte kein Wort heraus. »Wenn Sie nicht Ski laufen können, würde ich es Ihnen gern beibringen.« Und lächelnd fügte er hinzu: »Kostenlos, versteht sich.«
Er hatte sie zum Hausberg begleitet, dem Hang für Anfänger, und ihre erste Skistunde begann. Beiden war sofort klar, dass Anna keinerlei Talent fürs Skilaufen besaß. Immer wieder verlor sie die Balance und fiel in den Schnee, aber sie bestand darauf, es stets aufs neue zu versuchen, weil sie fürchtete, Walther könnte sie für ihr Versagen mit Verachtung strafen. Doch statt dessen hob er sie nach dem zehnten Sturz fürsorglich auf und sagte sanft:
»Ihnen ist Besseres bestimmt als das hier.«
»Besseres? Was meinen Sie denn?« Annas Stimme klang ängstlich.
»Das werde ich Ihnen heute abend erzählen, beim Diner.«
Und sie aßen zusammen, an diesem Abend, am nächsten Morgen und wieder zur Mittagszeit. Walther kümmerte sich nicht länger um seine Schüler. Er vergaß seine Skistunden, um mit Anna durch das Dorf zu bummeln. Er führte sie ins Spielkasino »Goldener Greif«, sie machten Schlittenfahrten, kauften ein, unternahmen Wanderungen. Stunde um Stunde saßen sie auf der Hotelterrasse, redeten und redeten. Für Anna hatte das Leben einen magischen Zauber bekommen.
Fünf Tage nach ihrer ersten Begegnung nahm Walther ihre beiden Hände in die seinen. »Anna, Liebling, lass uns heiraten.«
Mit einem Satz hatte er alles verdorben. Er hatte sie aus der Märchenwelt gerissen und in die grausame Wirklichkeit zurückversetzt, in die Realität ihres Namens und ihrer Person: einer fünfunddreißig-jährigen alten Jungfer, Jagdtrophäe für Glücksritter.
Sie hatte weglaufen wollen, aber Walther hielt sie zurück. »Wir lieben uns doch, Anna, davor kannst du die Augen nicht verschließen.«
Und sie hörte seine Lügen an, hörte ihn sagen: »Ich habe bis jetzt noch niemanden geliebt.« Und sie machte es ihm leicht, weil sie so verzweifelt darauf aus war, ihm zu glauben. Sie nahm ihn mit auf ihr Zimmer, und dort saßen sie und redeten, und als Walther ihr die Geschichte seines Lebens erzählte, fing sie tatsächlich an, ihm zu glauben; es war eine so wunderbare Fügung, denn sie merkte: Das ist ja in Wirklichkeit auch meine Geschichte, mein Leben.
Wie sie selbst hatte Walther nie einen Menschen gehabt, dem er seine Liebe schenken konnte. Von Geburt an war er als Bastard gebrandmarkt, von der Welt ausgestoßen. Ebenso wie Anna durch ihre Krankheit von allem ausgeschlossen war. Und wie sie hatte Walther in sich stets den übermächtigen Drang verspürt, jemanden zu lieben. Er wuchs in einem Waisenhaus auf, und als bereits mit dreizehn seine männliche Schönheit zu erkennen war, hatten die Frauen im Waisenhaus angefangen, sich seiner zu bedienen. Sie holten ihn nachts in ihre Kammern, nahmen ihn mit ins Bett, brachten ihm bei, ihnen Entzücken zu spenden. Und zur Belohnung steckten sie dem Knaben Extraportionen zu, fütterten ihn mit Fleischbrocken und Süßigkeiten. Alles gaben sie ihm, außer Liebe.
Als Walther alt genug war, dem Waisenhaus zu entfliehen, hatte er schnell herausgefunden, dass die Welt draußen keineswegs besser war. Die Frauen waren hinter ihm her, seines guten Aussehens wegen, sie trugen ihn wie eine Medaille, aber es reichte nie zu einer tieferen Bindung. Sie schenkten ihm Geld, Kleider und Schmuck, aber kein Stück von sich selbst.
Ihre Seelen waren im Gleichklang, ging Anna auf. Walther war ihr Doppelgänger. Sie heirateten im Rathaus, ganz ohne Zeremoniell.
Anna war davon überzeugt gewesen, ihren Vater außer sich vor Freude zu finden. Statt dessen konnte er vor Wut kein Wort herausbringen. »Du dumme, eingebildete Gans!« schrie er sie an. »Ausgerechnet einen nichtsnutzigen Mitgiftjäger zu heiraten! Ich habe Nachforschungen anstellen lassen. Der Kerl hat sein Leben lang von Frauen gelebt, aber bis jetzt hat er keine gefunden, die dumm genug war, ihn zu heiraten.«
»Hör auf!« schrie Anna zurück. »Du hast keine Ahnung, du kannst ihn ja gar nicht verstehen.«
Doch Anton Roffe wusste, er verstand Walther Gassner nur zu gut. Er zitierte seinen frischgebackenen Schwiegersohn zu sich ins Büro.
Walther begutachtete voller Anerkennung die feine Ausstattung und die alten Gemälde an den Wänden. »Hier gefällt es mir«, stellte er fest.
»Das glaub’ ich. Ist bestimmt angenehmer als das Waisenhaus.«
Walther sah ihn mit plötzlich misstrauischen Augen an. »Wie bitte?«
»Hören wir doch auf mit der Komödie«, sagte Anton. »Sie sind einem Irrtum erlegen. Meine Tochter besitzt kein Geld.«
Walthers graue Augen schienen sich in Stein zu verwandeln. »Was wollen Sie mir da vormachen?«
»Ich will Ihnen gar nichts vormachen. Ich sage Ihnen bloß, wie sich die Sache verhält. Hätten Sie Ihre Hausaufgaben gründlicher gemacht, wäre Ihnen bekannt, dass Roffe und Söhne ein nach strengsten Regeln geführtes Privatunternehmen ist. Mit anderen Worten: Keine einzige Aktie kann veräußert werden. Wir leben komfortabel, aber damit hat es sich auch. Hier gibt es keine goldene Kuh zu melken.« Er griff in seine Tasche, brachte einen Umschlag zum Vorschein und warf ihn auf den Schreibtisch, direkt vor Walther. »Das hier wird Sie für Ihre Mühe entschädigen. Ich erwarte, dass Sie noch heute abend Berlin verlassen. Anna soll Sie nie wieder zu Gesicht bekommen.«
Walthers Stimme blieb ganz ruhig. »Haben Sie jemals daran gedacht, dass ich Anna geheiratet haben könnte, weil ich sie liebe?«
»Nein. Sie etwa?« gab Anton beißend zurück.
Walther sah ihn eine Weile an. »Wollen mal sehen, wie hoch mein Marktwert ist.« Er riss den Umschlag auf und zählte die Scheine. Dann blickte er wieder auf. »Ich selbst schätze mich wesentlich höher ein als zwanzigtausend Mark.«
»Das ist alles, was Sie bei mir rausschlagen, und Sie können sich noch glücklich schätzen.«
»Das tue ich auch«, erwiderte Walther. »Und wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, halte ich mich sogar für einen ausgesprochenen Glückspilz. Vielen Dank.« Mit lässiger Gebärde stopfte er das Geld in die Hosentasche und war im nächsten Moment verschwunden.
Grenzenlose Erleichterung überfiel Anton Roffe. Zwar hatte er schwache Schuldgefühle und einen bitteren Nachgeschmack im Mund, doch er wusste, das war die einzige Lösung gewesen. Natürlich würde Anna traurig sein, von ihrem Ehemann derart schnöde im Stich gelassen zu werden. Aber besser jetzt als später, dachte Anton. Er würde alle Hebel in Bewegung setzen, einen akzeptablen Mann ihres Alters für sie aufzutreiben, der sie wenigstens in Ehren hielt, wenn er sie schon nicht liebte. Jemand, der an ihr als Mensch interessiert war und nicht bloß an ihrem Namen oder Geld. Vor allem jemand, der nicht für zwanzigtausend Mark käuflich war.
Als Anton Roffe nach Hause kam, lief ihm Anna zur Begrüßung entgegen, Tränen in den Augen. Er schloss sie fest in die Arme, sagte: »Mein Liebling, alles wird gut werden. Du wirst ihn vergessen und -«
Anton sah ihr über die Schulter, und in der Tür stand Walther Gassner. Anna hielt einen Finger hoch. »Sieh doch nur, was Walther mir gekauft hat! Ist das nicht der schönste Ring, den du jemals gesehen hast? Stell dir vor, er kostet zwanzigtausend Mark!«
Mit der Zeit sahen sich Annas Eltern gezwungen, Walther Gassner als Schwiegersohn zu akzeptieren. Als nachträgliches Hochzeitsgeschenk kauften sie dem jungen Paar eine prächtige alte Villa in Wannsee, von Schinkel erbaut, mit französischem Mobiliar, Antiquitäten, behaglichen Sitzgruppen, einem Empiretisch in der Bibliothek und Bücherregalen bis an die Decke. Das Obergeschoß war mit eleganten Möbeln aus Schweden, achtzehntes Jahrhundert, ausgestattet.
»Das geht nicht«, sagte Walther. »Ich will nichts von denen, auch nicht von dir, wenigstens nichts Materielles. Vielmehr will ich es sein, Liebling, der dir schöne Sachen kauft.« Und er setzte sein jungenhaftes Lächeln auf. »Aber leider habe ich kein Geld.«
»Natürlich hast du!« rief Anna. »Alles, was ich besitze, gehört auch dir.«
Walthers Lächeln erschien ihr unbeschreiblich süß. »Wirklich?«
Obwohl er sich anfangs sträubte, über Geldangelegenheiten zu sprechen, bestand Anna darauf, ihrem Mann ihre finanzielle Lage zu erläutern. Sie besaß ein Treuhandvermögen, von dem sie bequem leben konnte, doch der Löwenanteil ihres Besitzes bestand aus Aktien von Roffe und Söhne. Und die konnten nur mit einstimmiger Billigung des Direktoriums verkauft werden.
»Wieviel ist denn dein Anteil wert?« erkundigte sich Walther.
Anna verriet es ihm. Walther traute seinen Ohren nicht. Er ließ sie die Summe wiederholen.
»Und du kannst die Aktien nicht verkaufen?«
»Nein. Mein Vetter Sam sitzt darauf wie eine Glucke. Er hat den Mehrheitsanteil. Eines Tages...«
Walther zeigte Interesse am Konzern. Er wollte in das Familienunternehmen einsteigen. Anton Roffe war strikt dagegen.
»Was kann so ein Ski-Heini schon für Roffe und Söhne leisten?« wollte er wissen.
Doch schließlich gab er seiner Tochter nach, und Walther bekam einen Job in der Verwaltung der Berliner Niederlassung. Er zeigte außerordentliches Geschick und stieg schnell auf. Als Annas Vater zwei Jahre später starb, wurde Walther Mitglied des Direktoriums. Anna war unendlich stolz auf ihn. Er war der vollendete Ehemann und Liebhaber. Stets brachte er ihr Blumen und kleine Geschenke mit, und abends schien er voll und ganz damit zufrieden, zu Hause zu bleiben. Anna war überglücklich. »Lieber Gott, ich danke dir viele, viele Male«, pflegte sie leise zu beten.
Sie lernte kochen, um Walther seine Lieblingsgerichte vorsetzen zu können.
»Du bist der beste Koch der ganzen Welt, mein Liebes«, pflegte Walther jedes Mal zu sagen, und Anna bekam vor Stolz einen roten Kopf.
In ihrem dritten Ehejahr wurde Anna schwanger.
In den ersten acht Monaten hatte sie oft große Schmerzen, aber sie ertrug sie gern. Etwas anderes dagegen machte ihr Sorgen.
Es begann eines Tages nach dem Mittagessen. Sie strickte einen Pullover für Walther und gab sich dabei ihren Tagträumen hin. Plötzlich hörte sie Walther sagen: »Du liebe Güte, Anna, warum sitzt du denn hier im Dunkeln?«
Es war Abend. Sie sah auf den Pullover in ihrem Schoß und merkte, dass sie keine Masche gestrickt hatte. Wie war der Tag so plötzlich vergangen? Wo war sie mit ihren Gedanken gewesen? Danach häuften sich ähnliche Vorkommnisse, und sie fing an, sich zu überlegen, ob dieses Weggleiten ins Nichts eine bestimmte Bedeutung haben könnte: Vorbote ihres Todes? Eigentlich hatte sie keine Angst vor dem Sterben, nur konnte sie den Gedanken nicht ertragen, Walther allein zurückzulassen.
Vier Wochen, bevor das Baby geboren werden sollte, verfiel Anna wieder einmal in einen ihrer Tagträume. Sie verfehlte eine Stufe und stürzte die Treppe hinunter.
Im Krankenhaus wachte sie auf.
An ihrem Bett saß Walther und hielt ihre Hand. »Hast du mir einen Schrecken eingejagt, ich kann’s dir gar nicht beschreiben!«
In plötzlicher Panik fiel ihr ein: das Baby! Ich kann das Baby nicht fühlen! Sie betastete sich. Ihr Bauch war flach wie ein Brett. »Wo ist mein Baby?«
Und Walther zog sie an sich, liebkoste sie.
Der Arzt sagte: »Sie wurden von Zwillingen entbunden, Frau Gassner.«
Anna blickte zu Walther auf. Seine Augen schwammen in Tränen. »Ein Junge und ein Mädchen, mein Liebes.«
In jenem Augenblick hätte Anna vor Glück sterben können. Sie fühlte das unwiderstehliche Verlangen, die Babys in ihre Arme zu schließen. Sie musste sie sehen, fühlen, an sich drücken.
»Darüber reden wir, wenn Sie sich ein wenig erholt haben«, bestimmte der Arzt. »Erst mal müssen Sie zu Kräften kommen.«
Alle versicherten Anna, dass es ihr von Tag zu Tag besserginge, aber die Angst in ihr wuchs. Mit ihr geschah irgend etwas, das sie nicht begriff. Walther kam sie besuchen, nahm ihre Hand und sagte: »Bis morgen, mein Liebes.« Sie sah ihn erstaunt an. »Aber du bist doch gerade erst...« Und dann fiel ihr Blick auf die Uhr. Drei Stunden waren vergangen oder vier. Das wiederholte sich immer öfter.
Jedesmal hatte sie nicht die leiseste Ahnung, wo die Zeit geblieben war.
Einer dunklen Erinnerung zufolge hatte man ihr des Nachts die Kinder ans Bett gebracht, und sie war eingeschlafen. Aber so ganz genau wusste sie das alles nicht mehr, und zu fragen wagte sie nicht. So wichtig war es auch nicht. Sobald Walther sie nach Hause brachte, würde sie die beiden ganz für sich allein haben.
Endlich kam der große, wunderbare Tag. In einem Rollstuhl konnte Anna ihrem Krankenhauszimmer entkommen. Laufen durfte sie nicht, obwohl sie schwor, stark genug dafür zu sein. In Wirklichkeit fühlte sie sich noch recht schwach, aber sie war ungeheuer aufgeregt. Nichts zählte, nur die Aussicht, zu ihren Babys zu kommen. Walther trug sie in das Haus und wollte sie nach oben ins Schlafzimmer bringen.
»Nein, nein!« rief sie. »Ich will ins Kinderzimmer!«
»Du musst dich erst mal ausruhen, Liebling. Du bist noch nicht kräftig genug, um -«
Seine letzten Worte hörte Anna gar nicht mehr. Sie war seinen Armen entwichen und lief zum Kinderzimmer.
Die Jalousien waren geschlossen, der Raum lag im Dunkeln, und Anna brauchte einen Moment, um ihre Augen daran zu gewöhnen. Sie war derart erregt, dass ihr schwindlig wurde. Sie hatte Angst, in Ohnmacht zu fallen.
Walther war ihr ins Zimmer gefolgt. Er sprach auf sie ein, versuchte, ihr etwas zu erklären, aber was immer das war, für Anna hatte es keinerlei Bedeutung.
Denn da stand sie vor ihren Kindern. Beide schliefen in ihren Wiegen, Anna beugte sich ganz vorsichtig über sie, als hätte sie Angst, sie zu stören. Schönere Kinder hatte sie nie gesehen. Jetzt schon war es deutlich: Der Junge hatte Walthers ebenmäßige Züge geerbt und sein dichtes blondes Haar. Das Mädchen war wie eine feine, zerbrechliche Puppe, mit weichem Goldhaar und einem kleinen dreiecksförmigen Gesicht.
»Wie schön sie sind. Ich bin so glücklich!«
»Komm jetzt, Anna«, flüsterte Walther. Er legte die Arme um sie und presste sie an sich. Verlangen stieg in ihm auf, und sie fühlte, wie es sich in ihr regte. So lange war es her, seit sie miteinander geschlafen hatten! Walther hatte recht. Später würde ihr noch viel Zeit für die Kinder bleiben.
Den Jungen nannte sie Peter, das Mädchen Brigitta. Sie waren wie zwei Fabelwesen. Anna verbrachte Stunden um Stunden im Kinderzimmer, spielte mit ihnen, sprach auf sie ein. Was machte es, dass die beiden sie noch nicht verstehen konnten, ihre Liebe spürten sie allemal. Manchmal drehte sich Anna mitten im Spiel um, und Walther, vom Büro zurück, stand in der Tür, und Anna stellte fest, dass ihr der ganze Tag irgendwie durch die Finger geglitten war.
»Komm zu uns«, sagte sie dann. »Mach mit, wir spielen ein wenig.«
»Hast du denn das Essen fertig?« wollte Walther wissen, und plötzlich hatte sie Schuldgefühle. Sie schwor sich, künftig Walther mehr Aufmerksamkeit zu schenken und weniger bei den Kindern zu sein, doch am nächsten Tag geschah das gleiche. Wie ein unwiderstehlicher Magnet zogen die Zwillinge sie an. Anna liebte Walther immer noch aus vollem Herzen, und sie versuchte, ihr schlechtes Gewissen mit dem Gedanken zu dämpfen, dass die Kinder auch ein Teil ihres Mannes seien. Jeden Abend, sobald Walther schlief, schlüpfte Anna aus dem Bett und schlich ins Kinderzimmer. Dort saß sie und hielt die Augen unverwandt auf die Kinder gerichtet, bis die Dämmerung durch die Fenster drang. Dann eilte sie leise zurück ins Schlafzimmer und kroch ins Bett, bevor Walther aufwachte.
Einmal, mitten in der Nacht, kam Walther in das Kinderzimmer und überraschte sie. »Was um Himmels willen machst du hier?« fragte er entsetzt.
»Nichts, Liebling. Ich habe nur -«
»Geh sofort wieder ins Bett!«
In diesem Ton hatte er noch nie mit ihr gesprochen.
Beim Frühstück sagte er: »Wir sollten Ferien machen. Eine andere Umgebung würde uns guttun.«
»Aber Walther, die Kinder sind doch zum Reisen noch viel zu klein.«
»Ich rede von uns beiden.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann sie nicht allein lassen.«
Da nahm er ihre Hand. »Ich möchte, dass du dich von den Kindern losmachst.«
»Losmachen? Von den Kindern?« Sie blickte ihn entsetzt an.
Er sah ihr in die Augen. »Anna, weißt du denn nicht mehr, wie wunderbar alles zwischen uns war, ehe du schwanger wurdest? Was hatten wir für eine herrliche Zeit! Es war so schön, beisammen zu sein, nur wir beide, ohne dass uns irgend jemand störte.«
In diesem Augenblick verstand Anna. Walther war eifersüchtig auf die Kinder.
Schnell verstrichen die Wochen und Monate. Walther kam jetzt nie mehr in die Nähe der Kinder. Zu ihrem Geburtstag kaufte Anna ihnen prächtige Geschenke, während Walther es immer so einrichtete, dass er gerade verreist war. Anna wusste, sie konnte sich nicht ewig etwas vormachen - die Wahrheit hieß schlicht: Walther hatte nicht das geringste Interesse an den Kindern. Vielleicht war das ihre Schuld, dachte sie, weil sie sich zuviel mit ihnen abgab. Sie war von den Kindern ganz und gar eingenommen: besessen, das war der Ausdruck, den Walther dafür gebrauchte. Er hatte sie gebeten, deswegen einen Arzt aufzusuchen, und sie war hingegangen, nur ihm zu Gefallen. Aber der Arzt war natürlich ein Dummkopf. Von dem Moment an, wo er angefangen hatte, mit ihr zu reden, hatte Anna sich vor ihm verschlossen, ließ sie ihre Gefühle und Gedanken wandern, bis sie ihn sagen hörte: »Das wär’s für heute, Frau Gassner. Nächste Woche sehe ich Sie wieder?«
»Ja, natürlich.«
Sie war nie wieder hingegangen.
Nach Annas Überzeugung lagen die Schwierigkeiten ebensosehr bei Walther wie bei ihr. Wenn es ihre Schuld war, dass sie die Kinder zu sehr liebte, dann machte Walther sich schuldig, indem er ihnen zuwenig Liebe schenkte.
Mit der Zeit lernte sie, die Kinder in Walthers Gegenwart nicht mehr zu erwähnen, aber sie konnte es immer kaum erwarten, bis er das Haus verließ. Sofort lief sie ins Kinderzimmer, um bei ihren Babys zu sein. Natürlich waren sie längst keine Babys mehr. Schon hatten sie den dritten Geburtstag hinter sich, und Anna konnte sich vorstellen, wie sie als Erwachsene aussehen würden. Peter war groß für sein Alter, von starkem, athletischem Körperbau wie sein Vater. Anna hielt ihn auf dem Schoß und sagte im Singsang: »Ach Peter, mein Peter, was wirst du den armen Mädchen antun? Sei nett zu ihnen, mein geliebter Sohn. Wer wird dir widerstehen können?«
Dann lächelte Peter sie ganz schüchtern an und langte mit seinen kleinen Armen nach ihr.
Und Anna wandte sich Brigitta zu. Von Tag zu Tag wurde sie schöner, glich weder Anna noch Walther, hatte dichtes goldenes Haar und eine Haut, so fein wie Porzellan. Während Peter das Temperament seines Vaters geerbt hatte und Anna ihm ab und zu schon einen leichten Klaps geben musste, zeigte Brigitta das Gemüt eines Engels. Wenn Walther nicht zu Hause war, spielte Anna den Kindern Schallplatten vor oder las mit ihnen. Ihr Lieblingsbuch war Grimms Märchen. Immer wieder musste Anna ihnen von den Ungeheuern, Gnomen und Hexen vorlesen. Abends, wenn sie die Kinder zu Bett brachte, sang sie ihnen ein Gutenachtlied:
»Schlaf, Kindlein, schlaf, der Vater hütet die Schaf...«
Wie oft hatte Anna gebetet, dass die Zeit Walthers Herz erweichen und er sich ändern würde. In der Tat änderte er sich, aber zu seinem Nachteil. Er hasste die Kinder. Zu Anfang hatte Anna sich eingeredet, es käme daher, dass Walther ihre ganze Liebe für sich selbst beanspruchte, sie mit niemandem zu teilen gewillt war. Erst langsam ging ihr auf, dass Walthers Einstellung nicht der Liebe zu ihr entsprang. Sie hing im Gegenteil mit dem Hass zusammen, den er gegen sie, Anna, hegte. Ihr Vater hatte also recht gehabt. Walther hatte sie ihres Geldes wegen geheiratet, und die Kinder empfand er als Bedrohung seiner Pläne. Deshalb wollte er sie loswerden. Immer häufiger sprach er Anna auf Mittel und Wege an, die Aktien zu verkaufen. »Sam hat kein Recht, uns daran zu hindern! Stell dir doch mal vor, wir könnten das ganze Geld nehmen und irgendwo anders leben. Wir beide ganz allein.«
Sie starrte ihn an. »Und die Kinder?«
Seine Augen hatten einen fiebrigen Glanz. »Nein, hör mir zu. Um unser beider willen: Wir müssen uns davon freimachen, es muss sein!«
Das war der Augenblick, als ihr klar wurde: Walther war wahnsinnig! Von nun an lebte sie in Angst und Schrecken. Walther hatte alle Dienstboten entlassen, und bis auf eine Putzfrau, die einmal in der Woche kam, waren Anna und die Kinder mit ihm allein im Haus, ihm auf Gnade und Verderb ausgeliefert. Er brauchte Hilfe. Vielleicht, dachte Anna, war es für eine Heilung noch nicht zu spät. Im fünfzehnten Jahrhundert wurden die Irren auf Hausboote verbannt, Narrenschiffe geheißen, aber heutzutage gab es schließlich die Hilfsmittel der modernen Medizin, und Anna war sicher, es musste Möglichkeiten geben, Walther zu helfen.
Und jetzt, an diesem Septembertag, kauerte sie auf dem Fußboden im Schlafzimmer, wo Walther sie eingeschlossen hatte. Sie wartete auf seine Rückkehr. Und sie wusste, was sie zu tun hatte. Um seinetwillen, aber auch für sich selbst und die Kinder. Mühsam und schwankend stand sie auf und schleppte sich zum Telefon. Nur einen Moment zögerte sie, dann nahm sie den Hörer ab und wählte 110, den Notruf.
Es meldete sich eine fremde Stimme. »Hallo? Hier Polizeinotruf. Kann ich Ihnen helfen?«
»Ja, bitte!« Sie war ihrer Stimme kaum mächtig. »Ich -«
Eine Hand entriss ihr den Hörer und warf ihn auf die Gabel.
Anna wich zurück. Sie wimmerte. »Bitte, bitte, tu mir nichts.«
Walther kam ganz dicht an sie heran. Seine Augen brannten, die Stimme war so leise, dass sie die Worte kaum verstand. »Liebling, wieso sollte ich dir denn etwas antun? Ich liebe dich, das weißt du doch!« Bei seiner Berührung zuckte sie zurück. »Es geht ja nur darum«, fuhr er fort, »dass wir die Polizei nicht brauchen, nicht wahr?« Sie zitterte am ganzen Körper, konnte vor Angst nichts sagen. »Die Kinder, Anna, sie sind die Wurzel allen Übels. Deshalb müssen wir sie ein für allemal loswerden. Ich -«
Unten klingelte es an der Haustür. Walther fuhr zusammen, zögerte. Es klingelte nochmals.
»Bleib hier«, befahl er. »Ich bin gleich zurück.«
Starr vor Schrecken sah ihm Anna nach, als er das Schlafzimmer verließ. Er schlug die Tür hinter sich zu, und sie konnte das Klicken des Schlüssels im Schloss hören.
Ich bin gleich zurück, klang es ihr in den Ohren.
Walther Gassner eilte die Treppe hinunter, ging zur Haustür und öffnete. Auf der Schwelle stand ein Mann in grauer Botenuniform, in der Hand einen versiegelten braunen Umschlag.
»Sonderzustellung für Herrn und Frau Walther Gassner.« »Ja«, sagte Walther. »Geben Sie her.«
Er schloss die Tür, sah auf den Umschlag in seiner Hand, riss ihn auf. Langsam tasteten seine Augen die Nachricht ab.
MUSS SIE VON DER TRAURIGEN TATSACHE IN KENNTNIS SETZEN DASS SAM ROFFE BEI BERGUNFALL UMS LEBEN KAM STOP BITTE AM FREITAG MITTAG ZWOELF UHR IN ZUERICH EINFINDEN STOP SONDERSITZUNG DES DIREKTORIUMS ANBERAUMT STOP
Unterschrieben war das Telegramm mit »Rhys Williams«.