33. Kapitel

An diesem Vormittag konnte sich Chefinspektor Schmied über Mangel an Arbeit nicht beklagen. Vor dem Gebäude der Luftverkehrsgesellschaft Iberia war eine Demonstration gemeldet worden: drei vorläufige Festnahmen. Großfeuer in einer Papierfabrik in Brunau: Brandursache unbekannt. Die Untersuchungen liefen an. Im Belvoir-Park war ein Mädchen vergewaltigt worden. Ein Einbruchsdiebstahl bei Guebelin, ein zweiter bei Grima, gleich beim Baur-au-Lac. Und als ob das noch nicht genügte, tauchte auch Max Hornung auf, erfüllt von einer monströsen Theorie. Chefinspektor Schmieds Atemrhythmus schlug wieder Kapriolen.

»Die Kabeltrommel vom Aufzug war angeknackt«, versuchte Hornung ihm zu erläutern. »Damit wurden alle Sicherheitsvorkehrungen wirkungslos. Irgend jemand -«

»Ich hab’ die Berichte auch gelesen, Hornung. Normale Abnutzung.«

»Nein, Chefinspektor. Ich habe mir das Material der Kabeltrommel genau angesehen. Das hätte mindestens noch fünf oder sechs Jahre halten müssen.«

Schmied fühlte ein Zucken in der rechten Wange. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Jemand hat sich an der Kabeltrommel zu schaffen gemacht.«

Mein Gott, stöhnte Schmied innerlich. Typisch Hornung. Jeder andere hätte gesagt: Ich bin der Ansicht, jemand hat sich an der Kabeltrommel zu schaffen gemacht, oder: Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass... Nein, nein! Bei Hornung hieß es schlicht und ergreifend: Jemand hat.

»Warum sollte jemand das tun?« fragte er.

»Genau das würde ich gerne herausfinden. «

»Demnach wollen Sie noch mal zu Roffe und Söhne gehen?«

Max Hornung sah ihn mit echtem Erstaunen an, »Aber nein, Chefinspektor. Ich möchte nach Chamonix fahren.«

Chamonix liegt fünfundsechzig Kilometer südöstlich von Genf im französischen Departement Haute-Savoie, eintausendeinhundert-zehn Meter über dem Meeresspiegel. Seine Lage zwischen dem MontblancMassiv und der Aiguille-Rouge-Bergkette garantiert ihm eine der phantastischsten Aussichten der Welt.

An Inspektor Max Hornung war die Szenerie jedoch verschwendet. Er nahm die Landschaft nicht einmal wahr, als er mit seinem zerbeulten Pappkoffer im Bahnhof Chamonix aus dem Zug stieg. Ungehalten scheuchte er einen diensteifrigen Taxifahrer fort und unternahm den Weg zur örtlichen Polizeistation zu Fuß. Sein Ziel war ein kleines Gebäude am Hauptplatz im Stadtzentrum. Max trat ein und fühlte sich sofort zu Hause, genoss die kumpelhafte Kameraderie, die ihn in die Bruderschaft der Polizisten in aller Welt einbezog. Er gehörte dazu, war einer von ihnen.

Hinter dem Empfangspult sah der französische Sergeant auf. »Est-ce que je peux vous aider?«

»Oui.« Max strahlte. Und er fing zu reden an. Max meisterte alle Fremdsprachen nach demselben Muster: Er schlug sich einen Weg durch das Dickicht der irregulären Verben, Zeiten und Partizipien, gebrauchte seine Zunge wie eine Machete. Als er sprach, wechselte der Gesichtsausdruck des Sergeanten von Erstaunen über Ratlosigkeit in schiere Konsternation. Hatte das französische Volk nicht Hunderte von Jahren gebraucht, um durch die Übung von Zunge, Gaumen und Kehlkopf die wunderbare Musik heranreifen zu lassen, die heute seine Sprache war? Und jetzt stand da vor ihm dieser komische Mann und brachte es fertig, das geheiligte Französisch in ein Gemisch schrecklicher, unverständlicher Laute zu verwandeln.

Schließlich konnte der Sergeant es nicht länger ertragen. Er unterbrach den Inspektor. »Was wollen Sie eigentlich sagen?«

»Wieso, was heißt das?« fragte Max zurück. »Sie werden doch wohl noch Ihre Muttersprache verstehen. Ich spreche Französisch.«

Der Sergeant lehnte sich vor und erkundigte sich aus echtem Interesse: »Meinen Sie, Sie sprechen jetzt im Moment Französisch?«

Der Kerl versteht wirklich die eigene Sprache nicht, dachte Max. Er zog seinen Dienstausweis heraus und reichte ihn dem Sergeanten. Der las die Angaben zweimal von vorn bis hinten, sah Max dann aufmerksam ins Gesicht und las ein drittes Mal. Er konnte es einfach nicht fassen, dass der komische Kerl vor ihm ein Polizeibeamter sein sollte.

Zögernd gab er Max schließlich den Ausweis zurück. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich untersuche ein Bergunglück, das hier vor zwei Monaten passierte. Der Name des Opfers war Sam Roffe.«

Der Sergeant nickte. »Daran kann ich mich erinnern.«

»Ich würde gern mit jemandem reden, der mir Genaueres über den Vorfall sagen kann.«

»Am ehesten käme da wohl die Bergwacht in Frage. Der korrekte Name dafür ist Societe Chamoniarde de Secours en Montagne. Das Büro liegt am Place du Mont Blanc, und die Telefonnummer ist fünf-drei-eins-sechs-acht-neun. Vielleicht kann Ihnen auch die Klinik mit Informationen weiterhelfen. Die liegt in der Route du Valais und hat die Telefonnummer fünf-drei-null-eins-acht-zwei. Warten Sie. Ich schreib’ sie Ihnen auf.« Er langte nach einem Kugelschreiber.

»Nicht nötig«, erwiderte Max. »Societe Chamoniarde de Secours en Montagne, Place du Mont Blanc, fünf-drei-eins-sechs-acht-neun. Oder die Klinik in der Route du Valais, fünf-drei-null-eins-acht-zwei.«

Der Sergeant starrte Max noch nach, als der schon lange durch die Tür verschwunden war.

Bei der Societe Chamoniarde de Secours traf er auf einen dunkelhaarigen, athletisch gebauten jungen Mann, der hinter einem alten, abgenutzten Schreibtisch aus Fichtenholz saß. Als Max hereinkam, sah er auf und schickte ein stummes Stoßgebet zum Himmel, dass diese merkwürdige Gestalt kein Amateur-Alpinist sein möge, der eine Klettertour plante.

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich bin Inspektor Max Hornung aus Zürich.« Er zeigte seinen Dienstausweis.

»Und womit kann ich Ihnen dienen?«

»Ich untersuche den Unfalltod eines gewissen Sam Roffe.« Der junge Mann hinter dem Schreibtisch ließ ein Seufzen vernehmen. »Ach ja, Mr. Roffe. Ich hab’ ihn sehr gemocht. Das war wirklich ein tragischer Unglücksfall.«

»Waren Sie Zeuge, als es passierte?« fragte Max.

Kopf schütteln. »Nein. Ich habe die Rettungsmannschaft angeführt, sobald wir den Notruf von da oben bekamen. Aber wir konnten nichts mehr tun. Mr. Roffe war in eine abgrundtiefe Spalte gestürzt. Die Leiche wird man nie finden.«

»Wie ist es passiert?«

»Die Seilmannschaft bestand aus vier Bergsteigern. Der Führer und Mr. Roffe stiegen als letzte auf. Soviel ich erfuhr, überquerten sie gerade eine Eismoräne. Mr. Roffe rutschte aus und stürzte ab.«

»War er nicht angeseilt?«

»Doch, natürlich. Aber sein Seil riss.«

»Passiert das öfter?«

»Gewöhnlich nur einmal.« Der junge Mann lächelte über seinen Scherz, dann sah er die Miene des Polizeibeamten und fügte schnell hinzu: »Erfahrene Bergsteiger überprüfen ihre Ausrüstung sehr gründlich. Trotzdem ereignen sich Unfälle.«

Max stand da und überlegte. »Ich würde gern mit dem Führer reden.«

»Mr. Roffes üblicher Führer war an dem Tag nicht mit von der Partie.«

Max zwinkerte erstaunt. »So? Und warum nicht?«

»Wenn ich mich recht erinnere, war er krank. Jemand anders sprang für ihn ein.«

»Wissen Sie, wer es war?«

»Wenn Sie sich einen Moment gedulden, kann ich nachsehen.«

Der junge Mann verschwand in einem Hinterzimmer. Wenige Minuten später kam er mit einem Blatt Papier zurück. »Es war Hans Bergmann.«

»Wo finde ich ihn?«

»Der ist nicht von hier.« Der Mann sah auf den Zettel. »Er stammt aus dem Dorf Lesgets. Das liegt ungefähr sechzig Kilometer von hier.«

Bevor Max Chamonix den Rücken kehrte, machte er einen Besuch im Hotel Kleine Scheidegg. Er sprach mit dem für die Zimmer-Reservierungen zuständigen Empfangschef. »Hatten Sie Dienst, als Mr. Roffe hier war?«

»Ja.« Die Miene des Mannes verdüsterte sich. »Ein schrecklicher Unfall, wirklich furchtbar.«

»Und Mr. Roffe hat allein hier gewohnt?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein, er kam mit einem Freund.«

Max starrte ihn an. »Mit einem Freund?«

»Aber ja. Mr. Roffe hatte für sie beide die Zimmer gebucht.«

»Könnten Sie mir den Namen dieses Freundes geben?«

»Selbstverständlich.« Der Hotelangestellte zog ein großes Anmeldebuch unter dem Pult hervor und fing zu blättern an. Er hielt inne und fuhr mit dem Finger die Eintragungen entlang. »Ja, hier haben wir’s...«

Für die Fahrt nach Lesgets brauchte Max in seinem Volkswagen, dem billigsten Mietauto, das er in Chamonix hatte auftreiben können, fast drei Stunden. Zum Schluss wäre er beinahe noch vorbeigefahren, denn das Dorf verdiente die Bezeichnung nicht. Es gab nur ein paar Häuser, meist Geschäfte, einen Berggasthof und einen Kramladen mit einer eigenen Tanksäule.

Max hielt vor dem Berggasthof und ging hinein. Sechs oder sieben Leute saßen vor dem offenen Kaminfeuer und unterhielten sich. Sie verstummten, als Max eintrat.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte er. »Ich suche Herrn Hans Bergmann.«

»Wen?«

»Hans Bergmann, den Bergführer. Er stammt aus diesem Dorf.«

Ein älterer Mann mit verwittertem Gesicht spuckte ins Feuer, sah dann zu Max hoch. »Da hat Sie wohl jemand auf’n Arm genommen. Ich bin hier in Lesgets geboren. Und von einem Hans Bergmann ist mir nichts bekannt.«

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