51. Kapitel

Zürich

Donnerstag, 4. Dezember, 20 Uhr

Eine kalte Winternacht war angebrochen und hatte die kurze Abenddämmerung vom Himmel gewischt. Leise fiel Schnee, kaum mehr als einzelne Flocken, die der Wind durch die Stadt trieb. Das Verwaltungsgebäude von Roffe und Söhne ragte in die Dunkelheit, die Fenster der leeren Büros hoben sich wie blasse gelbe Monde ab.

Elizabeth saß allein in der Direktionsetage. Sie arbeitete Akten durch und wartete auf Rhys, der zu einer Sitzung nach Genf gefahren war. Wenn er doch nur bald käme, dachte sie. Alle anderen waren längst heimgegangen. Sie fühlte sich ruhelos, konnte sich kaum konzentrieren. Walther und Anna wollten ihr nicht aus dem Sinn. Sie sah Walther vor sich, wie sie ihm das erste Mal begegnet war: jungenhaft, ungemein attraktiv und so sehr in Anna verliebt. War das nur gespielt? Sie konnte sich nicht an den Gedanken gewöhnen, dass Walther für all die Schrecknisse verantwortlich sein sollte. Wie Anna ihr leid tat! Mehrmals hatte Elizabeth versucht, sie telefonisch zu erreichen, aber vergebens. Sie entschloss sich, nach Berlin zu fliegen, ihr beizustehen, so gut sie konnte. Das Klingeln des Telefons schreckte sie auf. Am anderen Ende der Leitung war Alec. Elizabeth tat es unendlich wohl, seine Stimme zu hören.

»Hast du schon von Walther gehört?« fragte er.

»Ja. Einfach schrecklich. Ich kann es nicht glauben.«

»Ist auch nicht nötig, Elizabeth.«

Sie meinte, ihn falsch verstanden zu haben. »Wie bitte?«

»Du brauchst es auch nicht zu glauben. Walther ist wirklich unschuldig.«

»Aber die Polizei sagt -«

»Die hat sich geirrt. Walther war der erste, den Sam und ich überprüft haben. Und wir konnten ihn guten Gewissens von der Liste streichen. Nein, Walther ist nicht derjenige, hinter dem wir her waren.«

Elizabeth starrte das Telefon an, als könnte es ihr aus der Verwirrung helfen. Was hatte Alec gesagt? Nein, Walther ist nicht derjenige, hinter dem wir her waren. Laut sagte sie: »Ich - ich verstehe nicht, was du meinst.«

Alecs Antwort kam zögernd. »Zu dumm, dass wir das jetzt am Telefon besprechen müssen, Elizabeth, aber ich hatte einfach noch keine Gelegenheit, mit dir allein zu reden...«

»Mit mir über was zu reden?«

»Das ganze letzte Jahr«, erwiderte Alec, »hat jemand Sabotage gegen unsere Firma betrieben. Eine unserer südamerikanischen Fabriken flog in die Luft, Patente wurden gestohlen, gefährliche Medikamente falsch etikettiert. Wir haben jetzt keine Zeit für Einzelheiten. Jedenfalls habe ich Sam vorgeschlagen, eine Detektei mit der Untersuchung zu beauftragen. Und wir vereinbarten, mit niemandem darüber zu reden.«

Ihr war es, als würde die Erde sich öffnen und die Zeit gefrieren. Schwindel ergriff sie. Das war doch alles schon einmal dagewesen! Alec sprach weiter, sie aber hörte Rhys’ Stimme, hörte ihn sagen: Seit einem Jahr betreibt jemand Sabotage gegen die Firma. Das wurde sehr raffiniert eingefädelt, so dass es wie eine Serie von Unfällen aussah. Aber ich merkte, dass es einen roten Faden gab. Ich ging mit meinem Verdacht zu Sam, und wir beschlossen, eine Detektei mit der Untersuchung zu beauftragen.

Jetzt drang wieder Alecs Stimme zu ihr durch. »Die Detektei hatte einen Bericht angefertigt, und Sam nahm ihn mit nach Chamonix. Wir besprachen die Ergebnisse am Telefon.« Und Elizabeth hörte Rhys sagen: Er bat mich nach Chamonix, weil er den Bericht mit mir besprechen wollte... Wir entschieden uns, die Angelegenheit geheimzuhalten, bis wir herausgefunden hatten, wer für alles verantwortlich war.

Elizabeth konnte kaum noch atmen. Doch als sie sprach, ließ sie ihre Stimme so normal wie möglich klingen. »Alec, wer - wer außer dir und Sam wusste noch von dem Bericht?«

»Niemand. Das war ja der springende Punkt. Sam zufolge ging aus dem Bericht hervor, dass der Übeltäter irgendwo ganz oben in der Konzernspitze zu suchen war.«

Auf höchster Ebene, hatte es geheißen. Und Rhys hatte erst zugegeben, in Chamonix gewesen zu sein, als der Inspektor es ihm auf den Kopf zugesagt hatte.

Sie musste die Worte förmlich hervorpressen. »Kann es sein, dass Sam Rhys davon informiert hat?«

»Nein. Warum?«

Das hieß, Rhys konnte nur auf einem Weg davon erfahren haben. Er hatte den Bericht gestohlen. Und es gab nur einen Grund für seine Reise nach Chamonix. Nämlich, Sam umzubringen.

Elizabeth hörte gar nicht mehr, was Alec noch zu sagen hatte. Das Dröhnen in ihren Ohren übertönte seine Worte. Sie ließ den Hörer fallen, in ihrem Kopf drehte sich alles. Sie kämpfte verzweifelt gegen den abgrundtiefen Schrecken, der von ihr Besitz ergriff. Ihre Gedanken tobten wie ein außer Kontrolle geratenes Karussell, die Bilder überstürzten sich. Als das Unglück mit dem Jeep geschah, hatte sie Rhys eine Nachricht hinterlassen, dass sie nach Sardinien fliegen wollte. In der Nacht, als der Aufzug abstürzte, wo war Rhys gewesen? An der Direktoriumssitzung hatte er nicht teilgenommen, aber später, als sie und Kate allein im Büro arbeiteten, war er aufgetaucht. Dachte, ich könnte den Damen noch etwas behilflich sein, hatte er gesagt. Und bald darauf hatte er das Gebäude wieder verlassen. Wirklich? Elizabeth zitterte jetzt am ganzen Leib. Irgendwo musste ein gewaltiger Irrtum im Spiel sein, ein furchtbares Missverständnis. Doch nicht Rhys! Nein!

Sie stand mühsam auf und ging unsicheren Schritts durch die Verbindungstür in Rhys’ Büro. Der Raum lag im Dunkeln. Sie schaltete das Licht ein und sah sich suchend um, selbst im unklaren, was sie zu finden hoffte. Auf jeden Fall nicht Beweise für seine Schuld, sondern die Gewissheit, dass er unschuldig war. Ein unerträglicher Gedanke: Der Mann, den sie liebte, der sie in seinen Armen gehalten, dem sie sich hingegeben hatte, dieser Mann durfte kein kaltblütiger Mörder sein.

Auf seinem Schreibtisch lag der Terminkalender. Elizabeth schlug ihn auf, blätterte zurück bis September, bis zu jenem langen Wochenende; als sie mit dem Jeep verunglückt war. Dort stand die Eintragung »Nairobi«. Aber sie musste die Stempel in seinem Pass sehen, um sicher zu sein, dass er wirklich nach Afrika geflogen war. Mit zitternden Händen durchstöberte sie seinen Schreibtisch, suchte den Pass und bekämpfte ihr Schuldgefühl. Natürlich, sagte sie sich, natürlich gab es eine ganz harmlose Erklärung für das Durcheinander.

Die unterste Schublade war abgeschlossen. Elizabeth zögerte. Sie wusste, sie hatte nicht das Recht, sich gewaltsam Zugang zu verschaffen. Mehr noch: Das war ein grober Vertrauensbruch, damit überschritt sie die Grenze und brach alle Brücken für den Rückweg ab.

Rhys würde merken, was sie getan hatte, und sie musste ihm den Grund angeben. Trotzdem, der Drang, sich Gewissheit zu verschaffen, war stärker als alle Skrupel. Sie nahm den Brieföffner und brach das Schloss auf.

In der Schublade stapelten sich Akten und Dokumente. Sie nahm die Papiere heraus. Ganz unten lag ein Briefumschlag, an Rhys adressiert, unverkennbar eine Frauenhandschrift. Laut Poststempel war er vor ein paar Tagen in Paris eingeworfen worden. Nach kurzem Zögern öffnete Elizabeth den Brief. Er war von Helene und begann: »Cheri, ich habe versucht, Dich telefonisch zu erreichen. Die Zeit drängt, wir müssen uns bald wiedersehen, um unsere Pläne...« Elizabeth las nicht weiter. Ihr Blick wurde plötzlich abgelenkt; Sie starrte in die Schublade, auf den gestohlenen Geheimbericht.

Mr. Sam Roffe

Vertraulich Keine Kopien.

Der Raum fing an, sich im Kreise zu drehen, und sie klammerte sich an den Schreibtisch, suchte nach einem Halt. Da stand sie eine halbe Ewigkeit, wartete, bis der Schwindelanfall sich legte. Ihr Mörder hatte jetzt endlich ein Gesicht. Es war das Gesicht ihres eigenen Mannes.

Irgend etwas zerriss die Grabesstille, die sie umfing. Erst nach einiger Zeit ging ihr auf: das Telefon. Das Klingeln kam aus ihrem Büro. Mühsam schleppte sie sich wieder nach nebenan, nahm den Hörer ab.

Am anderen Ende war der Portier. Seine Stimme klang unangemessen fröhlich. »Wollte nur mal hören, ob Sie noch da sind, Mrs. Williams. Mr. Williams ist gerade auf dem Weg nach oben.«

Rhys! Er holte zum letzten Schlag aus!

Nur ihr Leben stand noch zwischen ihm und der Herrschaft über Roffe und Söhne. Wie konnte sie ihm jetzt gegenübertreten, ihm vorspielen, dass alles in Ordnung sei? Sobald er sie sah, musste er begreifen, was die Stunde geschlagen hatte. Ihr blieb nur die Flucht. In blinder Panik ergriff Elizabeth Handtasche und Mantel und stürzte aus dem Büro. Halt! Sie hatte etwas vergessen. Ihren Pass! Sie musste weit weg, irgendwohin, wo Rhys sie nicht aufspüren konnte. Hastig lief sie zum Schreibtisch zurück, fand den Pass, jagte zurück auf den Flur. Ihr Herz klopfte wild. Der Leuchtzeiger über dem Direktionslift bewegte sich aufwärts.

Acht... neun... zehn...

Elizabeth hastete zum Treppenhaus. Unter ihr zogen sich die Stufen endlos in die Tiefe. Sie lief um ihr Leben.

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