Buenos Aires
Montag, 7. September, 15 Uhr
Das Autodrom, der Rennkurs im Vorort von Buenos Aires, war mit fünfzigtausend Zuschauern bis auf den letzten Platz besetzt. Fünfzigtausend im Bann des klassischen Championats. Das Rennen auf dem SechsKilometer-Rundkurs führte über 115 Runden. Schon fast fünf Stunden heulten die Motoren, fünf Stunden unter einer Sonne, die wie die Strafe Gottes vom Himmel brannte. Von einem Feld von dreißig gestarteten Wagen waren nur noch ein paar übriggeblieben. Die Menge war Zeuge eines historischen Ereignisses. Nie zuvor hatte es ein solches Autorennen gegeben, gut möglich auch, dass niemals wieder ein derart mörderischer Kampf stattfinden würde. An diesem Tag waren alle versammelt, die als Rennfahrer Rang und Namen hatten: Chris Amon aus Neuseeland, Brian Redman aus Lancashire. Der Italiener Andrea di Adamici fuhr einen Alfa Romeo Typ 33, der Brasilianer Carlos Maco einen Formel l March. Der belgische Meisterfahrer Jacky Ickx war ebenso dabei wie der Schwede Reine Wisell in einem BRM.
Der Kurs wirkte wie ein Regenbogen mit dem wirbelnden Rot, Grün, Schwarz, Weiß und Gold der Ferraris, Brabhams, Lotus’ und McLarens.
Als sie sich Runde um Runde abquälten, begannen die Giganten zu stürzen. Chris Amon lag an vierter Stelle, als das Gaspedal klemmte. Um Haaresbreite schoss er an Brian Redmans Cooper vorbei, bevor er den eigenen Wagen unter Kontrolle bekam, aber beide waren aus der Bahn geraten und damit aus dem Rennen. An erster Stelle lag Reine Wisell, knapp dahinter Jacky Ickx. In der Gegenkurve ging das Getriebe des BRM kaputt, Batterie und elektrische Anlagen gerieten in Brand. Der Wagen kam ins Schleudern, und auch der Ferrari von Jacky Ickx konnte dem Chaos nicht mehr entkommen.
Die Menge raste.
Mit fortschreitender Zeit hängten drei Wagen das übrige Feld ab. Das Führungstrio bestand aus dem Argentinier Jorje Amandaris auf Surtees, dem Schweden Nils Nilsson auf Matra und einem Ferrari 312 B-2 mit Martel, Frankreich, am Steuer. Die drei fuhren wie die Teufel, drehten auf den Geraden voll auf, schalteten auch an den überhöhten Kurven kaum herunter.
An der Spitze lag Jorje Amandaris, und die argentinischen Zuschauer spendeten dem Landsmann frenetischen Beifall. Aber dicht auf kam Nils Nilsson am Steuer des rot-weißen Matra, und kurz dahinter der schwarz-goldene Ferrari mit Martel aus Frankreich.
Bis auf die letzten fünf Minuten war der französische Wagen nahezu unbemerkt mitgefahren, bevor er sich ganz plötzlich daranmachte, das Feld von hinten aufzurollen. Erst war er zehnter, dann siebter, schließlich fünfter. Und holte immer noch auf. Die Menge starrte hingerissen auf die Bahn, als der französische Wagen die Nummer zwei attackierte: Nilssons Matra. Die drei Wagen rasten mit mehr als 280 Kilometern pro Stunde über die Piste. Auf sorgfältig angelegten Grand-PrixStrecken wie Brands Hatch oder Watkins Glen war das schon gefährlich genug, auf der argentinischen Hausstrecke jedoch reiner Selbstmord. Die Rennleitung signalisierte: Noch 5 Runden.
Der schwarz-goldene französische Ferrari versuchte, Nilssons Matra zu passieren, und der Schwede ließ seinen Wagen um Zentimeter ausscheren: Der französische Konkurrent war abgeblockt. Beide näherten sich einem überrundeten deutschen Wagen. Der befand sich jetzt direkt neben Nilsson. In diesem Moment fiel der französische Wagen zurück und nahm eine Position genau in dem schmalen Zwischenraum zwischen den beiden anderen Rennfahrern ein. Mit aufheulendem Motor stürzte sich der Ferrari wie ein schwarz-goldener Adler in die enge Lücke, zwang die beiden Vorderleute aus dem Weg und erkämpfte sich Platz zwei. Die Menge, die mit angehaltenem Atem das Manöver verfolgt hatte, machte ihrer Erregung brüllend Luft.
In Führung lag jetzt Amandaris, dahinter Martel, dann Nilsson. Noch 3 Runden. Amandaris hatte das Geschehen hinter sich beobachtet. Großartig, dieser französische Ferrari da hinter mir, dachte er, aber nicht gut genug, um mich zu schlagen. Amandaris war fest entschlossen, das Rennen zu gewinnen. Vor sich sah er das Schild: 2 Runden. Die Sache war fast gelaufen und er der Sieger. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie der schwarz-goldene Ferrari gleichzuziehen suchte. Für den Bruchteil einer Sekunde bekam er die Augen des Konkurrenten hinter der großen Schutzbrille zu sehen: sie wirkten verbissen, angespannt und zum Äußersten entschlossen. Amandaris seufzte. Was er jetzt tun würde, tat er nicht gern, aber er hatte keine Wahl. Autorennen waren nun mal kein Sport, sondern ein Kampf.
Beide Wagen rasten auf die steile Nordkurve zu, die gefährlichste der Strecke. Dort hatten sich schon viele katastrophale Unfälle ereignet. Amandaris warf der Gestalt im Wagen neben sich noch einen Blick zu und packte das Lenkrad fester. Als die beiden Wagen in die Kurve rasten, nahm Amandaris kaum merklich den Fuß vom Gas, so dass der Ferrari leichten Vorteil bekam. Er sah den erstaunten Blick seines Konkurrenten. Doch schon war der Wagen aus Frankreich vor ihm und damit in der Falle. Die Menge schrie sich die Seele aus dem Leib. Jorje Amandaris wartete, bis dem Ferrari nichts anderes übrigblieb, als ihn außen vollends zu überholen. In diesem Moment trat er das Gaspedal voll durch und scherte nach rechts aus, schnitt dem Ferrari den Weg aus der Kurve in die Gerade ab, so dass diesem kein anderer Ausweg blieb, als die Böschung hinaufzurasen.
Amandaris sah das plötzliche Erschrecken in den Augen des Fahrers und entbot ihm im stillen einen Abschiedsgruß: Salud! Im selben Augenblick jedoch riss dieser das Steuer herum und zielte mit dem Bug des Ferrari mitten auf seinen Surtees. Der Argentinier traute seinen Augen nicht: Der Ferrari ging auf direkten Kollisionskurs mit ihm! Die beiden hochkarätigen Rennwagen waren kaum einen Meter voneinander entfernt, und bei der Geschwindigkeit musste sich Amandaris in Sekundenbruchteilen entscheiden. Wie hatte er auch ahnen können, dass der Fahrer aus Frankreich komplett verrückt war? Mit einer ruckartigen Bewegung riss Amandaris das Lenkrad nach links, im verzweifelten Bemühen, dem Zusammenprall zu entgehen. Gleichzeitig stieg er hart auf die Bremse. Der französische Wagen verfehlte ihn um Zentimeter, schoss an ihm vorbei in Richtung Ziellinie. Einen Moment lang schlingerte der Wagen von Jorje Amandaris, geriet dann in wildem Wirbel vollends außer Kontrolle, überschlug sich mehrmals, bis er in einem rot-schwarzen Feuersturm explodierte.
Doch die Menge hatte nur noch Augen für den französischen Ferrari, der über die Ziellinie schoss. Mit hysterischem Kreischen umringten Zuschauer den Wagen. Aus dem Cockpit stieg langsam der Sieger, nahm Brille und Helm ab.
Die Fahrerin trug ihr weizengelbes Haar kurz geschnitten, das Gesicht war streng, aber gut geformt. Die Frau strömte eine Aura klassisch-kalter Schönheit aus. Sie bebte am ganzen Körper, nicht etwa vor Erschöpfung, sondern vor Erregung, einer Art Ekstase, erwachsen aus der Erinnerung an den Blick seiner Augen, als sie Jorje Amandaris in den Tod schickte. Aus dem Lautsprecher war eine aufgeregt sich
überschlagende Stimme zu hören: »Siegerin des großen Rennens von Buenos Aires ist Helene Roffe-Martel, Frankreich, auf Ferrari.«
Zwei Stunden später waren Helene und ihr Mann Charles in ihrer Suite im Hotel Ritz. Sie lagen vor dem Kamin, Helene nackt auf ihm in der klassischen Position von »La Diligence de Lyon«, und Charles flehte sie an: »O lieber Gott, Helene, bitte nur das nicht! Bitte!«
Sein Betteln steigerte ihre Erregung, sie verstärkte den Druck, tat ihm absichtlich weh, beobachtete, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Ich werde bestraft, dachte Charles, und das ohne jeden Anlass. Wenn er sich ausmalte, was Helene mit ihm anstellen würde, sollte sie jemals hinter seine große Verfehlung kommen, ertrug er sogar die gegenwärtigen Schmerzen.
Charles Martel hatte Helene Roffe ihres Namens und Geldes wegen geheiratet. Nach der Hochzeit hatte sie ihren Namen beibehalten, zusammen mit dem seinen. Behalten hatte sie auch ihr Geld. Als Charles klar wurde, welch schlechtes Geschäft er gemacht hatte, war es längst zu spät.
Zur Zeit seiner ersten Begegnung mit Helene Roffe war Charles Martel Juniorpartner einer großen Anwaltsfirma in Paris. Er sollte Unterlagen in den Konferenzraum bringen, wo gerade eine Konsultation stattfand. Als er eintrat, sah er die vier Seniorpartner der Firma, außerdem Helene Roffe. Für Charles war sie ein Begriff wie für jedermann in Europa. Sie war eine Erbin des Roffe-Vermögens. Zudem führte sie sich dermaßen wild und unkonventionell auf, dass die Zeitungen und Illustrierten sie geradezu anbeteten. Sie war eine Meisterin auf Skiern, flog einen eigenen Learjet, hatte eine Bergexpedition in Nepal angeführt, erregte Aufsehen als Teilnehmerin von Auto- und Pferderennen und wechselte ihre Männer wie ihre Kleider. An jenem Tag befand sie sich in der Anwaltskanzlei, weil ihre jüngste Scheidung bevorstand. Charles Martel war sich nicht sicher, welche, die vierte oder die fünfte; es interessierte ihn auch nicht. Die Roffes dieser Welt lagen weit jenseits seines Horizonts.
Als Charles die Unterlagen seinen Vorgesetzten übergab, war er von ängstlicher Nervosität erfüllt, und das nicht etwa, weil Helene Roffe anwesend war, die sah er kaum an, sondern wegen seiner vier Seniorpartner. Sie verkörperten für ihn die Autorität, und Charles Martel respektierte Autorität. Er hatte ein schüchternes, zurückhaltendes Wesen und war mit seinem bescheidenen Leben in einem kleinen Appartement in Passy und mit seiner recht dürftigen Briefmarkensammlung vollauf zufrieden.
Als Anwalt war Charles Martel zwar nicht brillant, jedoch kompetent, gründlich und zuverlässig. Er strahlte eine etwas steife Würde aus. Er war in den frühen Vierzigern, nicht unattraktiv, aber keineswegs überwältigend. Irgend jemand hatte von ihm einmal gesagt, er besäße den Charme nassen Sandes, und die Beschreibung tat ihm nicht einmal Unrecht. Bei alledem war es schon eine gewaltige Überraschung, was am Tag nach seiner ersten Begegnung mit Helene Roffe geschah. Charles Martel erhielt die Aufforderung, im Büro von M. Michel Sachard, dem Seniorpartner, zu erscheinen, und dort eröffnete man ihm: »Helene Roffe wünscht, dass Sie persönlich ihren Scheidungsfall übernehmen.«
Charles Martel war wie vom Donner gerührt. »Warum ich, Monsieur Sachard?« erkundigte er sich schüchtern.
Sachard sah ihm eine Weile in die Augen und meinte schließlich: »Da fragen Sie mich zuviel. Arbeiten Sie jedenfalls zu ihrer Zufriedenheit.«
Da er nun einmal Helenes Scheidungsklage am Halse hatte, ließ es sich nicht umgehen, dass er häufig mit ihr zusammentraf. Viel zu oft, wie er meinte. Entweder sie rief ihn an und lud ihn zum Essen in ihre Villa in Le Vesinet ein, um den Fall in Ruhe zu erörtern, oder sie schleppte ihn in die Oper oder in ihr Haus in Deauville. Charles versuchte immer wieder, ihr beizubringen, dass es sich um einen höchst einfachen Fall handele und die Scheidung fast automatisch erfolgen würde, aber Helene - sie bestand darauf, nur beim Vornamen genannt zu werden - erwiderte stets, sie bedürfe seines ständigen Beistands. Später pflegte er sich in grimmiger Ironie an diese Beteuerungen zu erinnern.
In den Wochen nach ihrem ersten Zusammentreffen keimte in Charles der Verdacht auf, Helene habe ein romantisches Interesse an ihm gefunden. Erst konnte er es überhaupt nicht glauben. War er nicht ein Niemand, sie dagegen Mitglied einer der reichsten Familien? Doch Helene ließ ihn über ihre Absichten nicht lange im Ungewissen. »Ich werde Sie heiraten, Charles.«
An Heirat hatte er noch nie in seinem Leben gedacht. In Gegenwart von Frauen fühlte er sich unbehaglich. Außerdem liebte er Helene nicht, war sich nicht einmal sicher, ob sie ihm überhaupt sympathisch war. Der Wirbel und die Aufmerksamkeit, die sie überall erregte, wo sie sich nur blicken ließ, bereitete ihm akutes Missbehagen. Er sah sich im Rampenlicht ihrer Berühmtheit gefangen, eine Rolle, die ihm völlig fremd war. Ihr aufwendiger Lebensstil war seiner konservativen Art zuwider. Sie kreierte neue Moden, war der Inbegriff von Glanz und Gloria, während er selbst, nun ja, einen durchschnittlichen, simplen, nicht mehr ganz jungen Rechtsanwalt abgab. Er verstand überhaupt nicht, was Helene Roffe an ihm fand. Auch sonst gab es niemanden, der das begriff. Weil die Gazetten ständig von Helenes Abenteuern in Sportarten berichteten, die sonst als Männerdomänen galten, wurde sie bald für eine Emanzipierte gehalten. In Wahrheit hatte sie für die Frauenbewegung nur Abscheu übrig. Das dauernde Gerede von Gleichheit zwischen Mann und Frau erfüllte sie mit Verachtung. Sie sah nicht den geringsten Grund, warum den Männern die Gleichstellung mit der Frau erlaubt werden sollte. Männer waren ganz nützlich, wenn man sie brauchte. Zwar waren sie nicht besonders helle, aber man konnte sie dressieren, Zigaretten zu holen, Feuer zu geben, Botengänge zu erledigen, Türen zu öffnen und im Bett das zu leisten, was man erwarten konnte. Insgesamt waren Männer recht putzige Haustiere mit dem Vorzug zu wissen, wie man sich ankleidet, badet und eine Toilette benutzt. Eine ganz amüsante Spezies.
Helene Roffe hatte sie alle genossen, die Playboys, die Draufgänger, die Wirtschaftsbosse und die Schönlinge. Ein Charles Martel war ihr noch nicht begegnet. Sie wusste genau, was er darstellte: ein Nichts, ein Stück ungeformten Tons. Und eben das empfand sie als Herausforderung. Sie war entschlossen, ihn zu übernehmen, zu formen, festzustellen, was sich aus ihm machen ließe. Und als Helene Roffe einmal den Entschluss gefasst hatte, besaß Charles Martel nicht die Spur einer Chance zu entkommen.
Sie heirateten in Neuilly, verlebten die Flitterwochen in Monte Carlo, wo Charles sowohl seine Jungfräulichkeit als auch die Illusionen verlor. Er hatte vorgehabt, weiter in der Anwaltskanzlei zu arbeiten.
»Sei kein Dummkopf«, kommentierte seine Braut. »Meinst du, ich will mit einem Kanzlei-Schreiberling verheiratet sein? Du steigst ins Familiengeschäft ein. Eines Tages hast du den Konzern in der Hand. Haben wir ihn in der Hand, meine ich.«
Helene öffnete ihm die Tür zur Pariser Niederlassung von Roffe und Söhne. Er hatte ihr über jeden einzelnen Vorgang dort Bericht zu erstatten, und sie führte ihn, half ihm, dachte für ihn. Dementsprechend schnell kletterte Charles die Leiter empor. Bald unterstand ihm die französische Zweigstelle, und er bekam einen Sitz im Direktorium. Helene Roffe hatte die Wandlung vollbracht: Aus einem unbedeutenden Anwalt war einer der Hauptakteure eines bedeutenden Konzerns geworden. Er hätte sich im siebten Himmel fühlen müssen. Er lebte aber in der tiefsten Hölle. Vom ersten Moment ihrer Ehe an sah sich Charles von seiner Frau beherrscht. Sie bestimmte seinen Schneider, seine Schuh- und Hemdenfabrikanten. Sie verschaffte ihm Aufnahme im exklusiven Reitclub. Helene behandelte Charles wie einen Gigolo. Sein Gehalt ging direkt an sie, und sie teilte ihm ein kläglich kleines Taschengeld zu. Brauchte Charles mehr, musste er Helene darum bitten. Er hatte Rechenschaft abzulegen über jede Minute seiner Zeit und ihr ständig auf Abruf zur Verfügung zu stehen. Ihn zu erniedrigen bereitete ihr offensichtlich Vergnügen. Nicht selten rief sie ihn im Büro an und beorderte ihn auf der Stelle nach Hause. Er sollte irgendeine Massagecreme oder ähnlich läppisches Zeug für sie mitbringen. Kam er dann, war sie schon im Schlafzimmer und wartete nackt auf ihn. Sie war unersättlich, ein Tier. Bis zu seinem zweiunddreißigsten Lebensjahr hatte Charles bei seiner Mutter gelebt, dann war sie an Krebs gestorben. Solange er zurückdenken konnte, war sie Invalide gewesen. Er hatte sie gepflegt. Da gab es keine Zeit, mit Mädchen auszugehen oder gar zu heiraten. Seine Mutter hatte für ihn eine schwere Bürde bedeutet, und als sie starb, erwartete Charles ein Gefühl von Freiheit. Statt dessen hatte er nur den Verlust empfunden. Frauen und Sex interessierten ihn nicht; er hatte kein Verlangen danach. In einem naiven Ausbruch von Offenheit hatte er Helene das zu erklären versucht, als sie das erste Mal von Heirat sprach. »Meine - meine Libido ist nicht sehr stark entwickelt«, gestand er.
Aber Helene hatte nur gelacht. »Armer Charles! Mach dir keine Sorgen wegen Sex. Dir wird’s schon gefallen, das verspreche ich dir.«
Statt Gefallen daran zu finden, hasste er Sex. Das schien Helenes Gelüste nur noch zu steigern. Sie verlachte ihn ob seiner Schwächlichkeit und zwang ihn zu widerlichen Dingen, bei denen Charles übel wurde und er tiefe Demütigung empfand. Der Liebesakt selbst erschien ihm entwürdigend genug. Aber Helene schwelgte in Experimenten. Charles wusste nie, was ihn erwartete. Einmal, im Augenblick, da er den Orgasmus erlebte, hatte sie seine Hoden mit gestoßenen Eisstückchen traktiert, ein andermal ihm einen elektrischen Vibrator in den After geschoben. Charles hatte schreckliche Angst vor Helene. Sie gab ihm das Gefühl, dass sie der Mann und er die Frau war. Er versuchte, seinen Stolz auf eine andere Art zu retten, musste aber feststellen, dass es kein Gebiet gab, auf dem Helene ihm nicht überlegen war. Sie war überaus intelligent. Von Jura verstand sie ebensoviel wie er, von Geschäften erheblich mehr. Stunde um Stunde redete sie mit ihm über den Konzern, davon konnte sie nie genug bekommen. »Denk doch mal an diese geballte Macht, Charles! Roffe und Söhne sind entscheidend für Wohl und Wehe von mehr als der Hälfte aller Länder. Von Rechts wegen müsste ich den Konzern führen. Mein Urgroßvater hat ihn gegründet.«
Und nach einem dieser Ausbrüche war Helene im Bett um so unersättlicher. Charles musste sie dann auf Arten befriedigen, an die er gar nicht denken durfte. Sie brachte ihn dazu, sie zu hassen und zu verachten. Er hatte nur einen Traum: von ihr wegzukommen, zu fliehen. Aber dafür brauchte er zuerst einmal Geld.
Eines Tages hörte Charles von der Möglichkeit, ein Vermögen zu machen. Sein Freund Rene Duchamps erzählte ihm beim Lunch davon.
»Einer meiner Onkel ist gerade gestorben. Ihm gehörte ein großes Weingut in Burgund. Das steht jetzt zum Verkauf: zehntausend Morgen Grund und Boden für erstklassigen Appellation d’origine contro-lee. Ich hab’ die vertrauliche Information und so die Hand drauf«, fuhr Rene Duchamps fort, »schließlich bleibt’s dann in der Familie, verfüge aber nicht über die Mittel, um das allein zu finanzieren. Wenn du mitmachst, könnten wir unser Geld in einem Jahr verdoppeln. Komm wenigstens mal und sieh dir’s an.«
Charles brachte es nicht über sich, seinem Freund zu gestehen, dass er keinen Pfennig besaß. Aber er fuhr mit zu den sanften roten Hügeln von Burgund, um sich das Weingut anzusehen. Er war tief beeindruckt.
»Wir investieren jeder zwei Millionen Francs«, eröffnete ihm Rene Duchamps. »In Jahresfrist haben wir jeder vier Millionen.«
Vier Millionen Francs! Das hieß Freiheit, Entkommen. Er würde an einen Ort fliehen, wo Helene ihn nicht fand.
»Ich werd’ es mir überlegen«, versprach Charles seinem Freund.
Und er überlegte es sich Tag und Nacht. Es war die Chance seines Lebens. Aber wie sie realisieren? Charles wusste um die Unmöglichkeit des Versuchs, irgendwo Geld zu leihen, ohne dass Helene sofort Wind davon bekam. Alles lief unter ihrem Namen: Häuser, Gemälde, Autos, Schmuck - die Juwelen, jene wunderschönen, völlig nutzlosen Klunker, die Helene im Schlafzimmersafe aufbewahrte. Langsam, sehr allmählich nahm der Gedanke Gestalt an. Wenn er sich ihrer Juwelen bemächtigte, immer ganz vorsichtig Stück für Stück, und die Originale durch Kopien ersetzte und die echten verpfändete. Und nachdem er im Weingut abgeerntet hätte, die Steine einfach auslöste und sie zurückbrachte. Dann hätte er immer noch genug Geld übrig, um für alle Zeiten zu verschwinden.
Das Herz klopfte Charles vor Aufregung bis zum Hals, als er Rene Duchamps anrief. »Ich habe mich entschieden«, verkündete er. »Ich mache mit.«
Der erste Teil des Plans stand ihm bevor wie ein Berg des Grauens. Er musste den Safe aufbekommen und Helenes Juwelen stehlen.
Der Vorgeschmack dieses beängstigenden Unterfangens machte Charles so nervös, dass er kaum noch zu etwas fähig war. Er bewegte sich wie ein Automat, nahm nichts mehr von dem wahr, was um ihn vorging. Nur wenn er Helene sah, erwachte er aus der Trance, und der kalte Schweiß brach ihm aus. Seine Hände fingen immer wieder an, ohne ersichtlichen Grund zu zittern. Helene sorgte sich so intensiv um ihn, wie sie es um jedes Haustier getan hätte. Ein Arzt musste kommen und Charles untersuchen, konnte aber nichts feststellen. »Ihr Gatte sieht ein wenig abgespannt aus. Vielleicht ein, zwei Tage Bettruhe.«
Charles lag nackt im Bett. Helene schenkte ihm einen langen Blick und lächelte. »Danke sehr, Herr Doktor. Vielen Dank.«
Sobald der Arzt gegangen war, warf Helene die Kleider ab. Charles protestierte: »Ich... ich fühle mich nicht kräftig genug.«
»Aber ich«, antwortete Helene kurz.
Sein Hass auf sie war noch nie größer gewesen.
Die große Chance kam in der darauffolgenden Woche. Mit ein paar Freunden wollte Helene zum Skilaufen nach Garmisch. Sie entschloss sich, Charles in Paris zu lassen.
»Und dass du mir jeden Abend zu Hause bist«, wies sie ihn an. »Ich werde dich anrufen.«
Charles sah ihr nach, wie sie am Steuer ihres kleinen roten Jensen davonraste. Sobald sie außer Sicht war, eilte er zum Wandsafe. Er hatte sie oft beim Öffnen beobachtet und kannte die Kombination zum Teil. Er brauchte eine Stunde, um sie auszutüfteln. Mit zitternden Händen zog er die Stahltür auf. Da lag der Schmuck, lag seine Freiheit, in Samt gebettet, funkelnd wie winzige Sterne. Einen Juwelier hatte er schon ausfindig gemacht, einen gewissen Pierre Richaud, Meisterin der Anfertigung von Duplikaten. Heftig atmend und nervös hatte Charles ihm seinen Wunsch vorgetragen, Gründe konstruiert, warum er Kopien der Juwelen haben wollte, aber Richaud hatte ihn kühl unterbrochen. »Monsieur, das ist doch nichts Besonderes. Alle bestellen bei mir Kopien. Nur Dummköpfe laufen noch mit echten Steinen herum.«
Charles gab ihm immer nur ein Stück zum Nacharbeiten, und wenn ein Falsifikat fertig war, tauschte er es gegen das echte Stück aus. Auf die kostbarsten Stücke nahm er Geld auf bei der Credit Municipal, dem staatlichen Pfandhaus.
Die ganze Operation dauerte länger, als Charles angenommen hatte. Er kam nur an den Safe, wenn Helene nicht zu Hause war, und beim Kopieren stellten sich unerwartete Verzögerungen ein. Doch endlich war der große Tag da, und Charles konnte seinem Freund Rene Duchamps verkünden: »Morgen bekommst du das Geld.«
Es war vollbracht. Er durfte sich als Halbeigentümer eines großen Weinbergs fühlen. Und Helene hatte nicht die leiseste Ahnung von alledem.
Insgeheim hatte Charles angefangen, sich mit der Kunst des Weinanbaus vertraut zu machen. Warum auch nicht? War er doch jetzt ein richtiger Winzer. Er lernte, die verschiedenen Sorten zu unterscheiden: cabernet sauvignon vor allem, aber angebaut wurden auch gros cabernet, merlot, malbec, petit verdot. In seinem Büro waren die Schubladen voller Fachschriften über
Bodenbeschaffenheit und Keltermethoden. Er lernte alles über Gärung, Beschneiden und Veredelung, erfuhr vor allem, dass die Nachfrage nach Wein in der Welt im stetigen Ansteigen begriffen war.
Regelmäßig traf er sich mit seinem Partner. »Die Sache macht sich sogar noch besser, als ich glaubte«, eröffnete ihm Rene. »Die Weinpreise schnellen in die Höhe. Bei der ersten Lese müssten wir drei hunderttausend Francs pro Tonne rausschlagen können.«
Das war mehr, als sich Charles je erträumt hatte. Rotgolden leuchteten die Reben auf den Hügeln. Charles besorgte sich Reiseprospekte über die Südsee-Inseln, Venezuela und Brasilien. Allein die Namen hatten einen magischen Klang. Das Problem war nur: Es gab wenig Plätze auf der Welt, wo Roffe und Söhne keine Niederlassung besaßen, mit anderen Worten, wo er Helenes Zugriff entzogen war. Und wenn sie ihn fand, brachte sie ihn um. Das stand für ihn unverrückbar fest. Es sei denn, er käme ihr damit zuvor. Das war eine seiner liebsten Phantasien. Immer und immer wieder brachte er Helene in seinen Träumen auf tausenderlei köstliche Arten um.
So pervers es ihm selbst vorkam, machten ihm Helenes Praktiken jetzt geradezu Spaß. Zwang sie ihn zu Dingen, die man gar nicht aussprechen konnte, dachte er immer nur: Bald, sehr bald bin ich über alle Berge, du alte Hure. Und ich mäste mich von deinem Geld, und du kannst nicht das geringste dagegen tun.
Und sie befahl: »Schneller jetzt« oder »Streng dich gefälligst an« oder »Jetzt nicht aufhören!« Er gehorchte beflissen.
Und freute sich insgeheim.
Beim Weinbau, das wusste Charles, waren die kritischen Monate im Frühling und Sommer. Denn wenn die Trauben im September gepflückt wurden, mussten sie eine ausgewogene Saison hinter sich haben, Sonne und Regen. Zuviel Sonne zerstört das Aroma, zuviel Regen ertränkt es. Der Juni begann großartig. Einmal, schließlich sogar zweimal täglich ließ sich Charles den Wetterbericht für Burgund geben. Vor Ungeduld lebte er wie im Fieber: Nur noch wenige Wochen bis zur Erfüllung seiner Träume. Nach langem Überlegen hatte er sich schließlich für Montego Bay entschieden. Roffe und Söhne hatten keine Niederlassung in Jamaika. Dort würde er sich leicht verbergen können. Natürlich würde er Round Hill meiden oder Ocho Rios samt Umgebung, dort könnte er allzuleicht Freunden von Helene begegnen. Nein, er würde in den Hügeln ein kleines Haus kaufen. Das Leben war billig auf der Insel. Dort konnte er sich Hauspersonal leisten, gutes Essen, überhaupt den Luxus, der seiner bescheidenen Lebensart entsprach.
So war Charles Martel ein glücklicher Mann in jenen ersten Junitagen. Sein häusliches Leben verlief in Schmach und Schande, aber er lebte nicht in der Gegenwart, bewegte sich vielmehr längst in der Zukunft, lustwandelte auf einer tropischen sonnenüberfluteten und windliebkosten Insel in der Karibik.
Und das Juniwetter schien jeden Tag noch schöner zu werden. Es gab Sonne wie Regen, geradezu ideal für die zarten kleinen Reben. Und im gleichen Maße, wie sie wuchsen, vergrößerte sich auch Charles’ Vermögen.
Am fünfzehnten Juni fing es in der Gegend von Burgund an zu nieseln. Dann wurde Regen daraus. Es regnete Tag für Tag, Woche für Woche. Schließlich brachte Charles es nicht länger über sich, die Wetterberichte zu verfolgen.
Rene Duchamps rief ihn an. »Wenn es bis Mitte Juli aufhört, können wir die Lese noch retten.«
Der Juli entpuppte sich als der regenreichste Monat in den Annalen des französischen Wetterdienstes. Am ersten August hatte Charles Martel jeden Centime von dem mühsam gestohlenen Geld verloren. Und er hatte eine solche Angst, wie er sie noch nie zuvor gefühlt hatte.
»Nächsten Monat fliegen wir nach Argentinien«, verkündete Helene. »Ich hab’ mich dort für ein Autorennen gemeldet.«
Wie oft hatte er sie beobachtet, wenn sie im Ferrari über die verschiedensten Strecken gerast war. Und hatte sich des Gedankens nicht erwehren können: Wenn sie von der Bahn abkommt, gewinne ich meine Freiheit.
Aber er hatte es mit Helene Roffe-Martel zu tun. Das Leben hatte ihr nur eine Rolle zugewiesen: die der Siegerin. Ebenso wie er der geborene Verlierer war.
Der Sieg beim großen Rennen hatte Helenes üblichen Erregungszustand noch verstärkt. Sie waren in die City von Buenos Aires zurückgekehrt, und sobald sie ihre Hotel-Suite betreten hatten, musste Charles sich ausziehen und bäuchlings auf den Teppich vor den Kamin legen. Sie bestieg ihn, und als er sah, was sie in der Hand hielt, konnte er nur wimmern: »Nein, bitte nicht!«
Es wurde an die Tür geklopft.
»Merde!« schimpfte Helene. Sie verharrte ganz still, aber das Klopfen wiederholte sich.
»Senor Martel?« rief eine Stimme.
»Bleib so liegen«, kommandierte Helene. Sie stand auf, warf eine Seidenrobe über ihren schlanken, festen Körper, schritt zur Tür und öffnete sie ungehalten. Draußen stand ein Mann in grauer Botenuniform mit einem versiegelten Geschäftsumschlag in der Hand.
»Eine Sonderzustellung für Senor und Senora Martel.«
Sie nahm ihm den Umschlag ab und schloss die Tür.
Sie riss das Couvert auf und las die Nachricht.
Dann noch einmal, ganz langsam.
»Was ist los?« fragte Charles.
»Sam Roffe ist tot.« Sie lächelte.