11. Kapitel

Elizabeth hatte das Buch mitgebracht. Sie stand in der Eingangshalle der Villa und betrachtete die Gemälde von Samuel und Terenia Roffe. So intensiv spürte sie die beiden, dass sie meinte, sie wären aus dem Rahmen getreten und zum Leben erwacht. Erst nach langer Zeit konnte sie sich losreißen. Mit dem Buch unter dem Arm kletterte sie die steile Treppe ins Turmzimmer hinauf. Von nun an verbrachte sie täglich viele Stunden dort oben, las weiter und weiter, und jedes Mal fühlte sie sich enger verwachsen mit Samuel und Terenia; das Jahrhundert zwischen ihnen schrumpfte.

Während der nächsten Jahre, las Elizabeth, verbrachte Samuel viele Stunden in Dr. Wals Laboratorium. Er half ihm bei der Herstellung von Salben und Arzneien, lernte alles über ihre Anwendung und Wirkung. Und immer war im Hintergrund Terenia zugegen, das überirdisch schöne Wesen, das ihn bis in seine Träume verfolgte. Allein ihr Anblick genügte, um Samuels Wunschbild am Leben zu erhalten, dass sie eines Tages ihm gehören würde. Mit Dr. Wal kam Samuel gut aus, zu Terenias Mutter hingegen war sein Verhältnis getrübt. Sie war ein scharfzüngiger Drachen, voller Snobismus, und Samuel war ihr ein Dorn im Auge. Er hielt sich deshalb nach Möglichkeit von ihr fern.

Samuel war fasziniert von der Vielzahl von Arzneien, mit denen man Menschen heilen konnte. Eine Papyrusrolle der alten Ägypter aus dem Jahr 1550 vor Christus zählte 811 verschiedene Mittel auf. Damals betrug die durchschnittliche Lebenserwartung fünfzehn Jahre, und Samuel brauchte sich nur ein paar der genannten Mittel anzusehen, um zu begreifen, warum.

Da war die Rede von Krokodildung, Eidechsenfleisch, dem Blut von Fledermäusen, Kamelspucke, Löwenleber, Froschzehen und Einhornpulver. Das Zeichen RX an jedem Mittel bedeutete ein Gebet aus uralter Zeit an Hör, den ägyptischen Gott, der die neues Leben spendende Sonne verkörperte.

Die Apotheken im Ghetto wie auch in Krakau selbst waren äußerst primitiv. Flaschen und Töpfchen waren meist mit willkürlich zusammengemischten und unerprobten Heilmitteln gefüllt, einige davon völlig nutzlos, andere sogar schädlich. Samuel lernte sie alle kennen: Rizinusöl, Kalomel, Rhabarber, Jod-Mixturen, Codein und Brechwurz. Es gab Universalmittel zu kaufen gegen Keuchhusten, Koliken und Typhus. Da keinerlei sanitäre Vorkehrungen üblich waren, steckten die Salben und Gurgelwässer voller toter Insekten, Schaben, Rattendreck, kleiner Federn und Pelzhaare. Die meisten Patienten, die derlei Mittel einnahmen, starben entweder an ihren Krankheiten oder an den Arzneien.

Mehrere Zeitschriften waren im Umlauf, die sich mit Arzneimittelkunde befassten, und Samuel verschlang sie alle. Seine Theorien erörterte er mit Dr. Wal.

»Es ist doch logisch anzunehmen«, sagte er im Brustton der Überzeugung, »dass es für jede Krankheit eine Heilung geben muss. Gesundheit ist ein natürlicher, Krankheit ein unnatürlicher Zustand.«

»Schon möglich«, entgegnete Dr. Wal. »Aber die meisten von meinen Patienten lassen nicht mal zu, dass ich neue Heilmittel bei ihnen anwende.« Und trocken fügte er hinzu: »Womit sie wohl auch nicht unrecht haben.«

Dr. Wals kleine pharmakologische Bibliothek kannte Samuel bald in- und auswendig. Und obwohl er die Bücher wieder und immer wieder gelesen hatte, nahmen die ungeklärten Fragen zu, und er fühlte sich frustriert.

Samuel war von der medizinischen und pharmazeutischen Revolution geradezu besessen. Gab es doch tatsächlich Wissenschaftler, die glaubten, Krankheitsursachen könnten beseitigt werden, indem man Widerstandskraft erzeugte, die den Keim des Übels erstickte. Auch Dr. Wal versuchte sich einmal daran. Er entnahm einem Diphtheriekranken Blut und injizierte es einem Pferd. Als das Pferd starb, gab er die Experimente auf. Aber der junge Samuel war überzeugt davon, dass sich Dr. Wal auf dem richtigen Weg befunden hatte.

»Sie können doch jetzt nicht einfach aufhören«, beschwor er ihn. »Ich weiß, dass es die richtige Methode ist.«

Aber Dr. Wal schüttelte den Kopf. »Das kommt, weil du erst siebzehn bist, Samuel. Hast du erst mal mein Alter erreicht, bist du dir deines Wissens nicht mehr so sicher. Vergessen wir die Sache.«

Aber Samuel vergaß weder, noch war er überzeugt. Er wollte unbedingt die Experimente fortsetzen. Doch dafür brauchte er Tiere, und die Auswahl war nicht groß, nur streunende Katzen und Ratten, die er sich fangen konnte. So gering die Dosen auch waren, die Samuel ihnen injizierte, die Tiere starben ihm unter der Hand weg. Sie sind zu klein, dachte Samuel. Ich brauche ein größeres Tier, ein Pferd, eine Kuh oder ein Schaf. Aber wie sollte er daran kommen?

An einem Spätnachmittag, als Samuel nach Hause kam, stand vor dem Haus ein altes Pferd mit einem klapprigen Wagen. Auf dem Wagen war mit groben Buchstaben aufgemalt: roffe & sohn. Samuel starrte ihn ungläubig an, rannte ins Haus, auf der Suche nach seinem Vater. »Das - das Pferd da draußen«, keuchte er. »Wo hast du’s her?«

Der Vater lächelte voller Stolz. »Hab’ ein Geschäft gemacht. Mit dem Pferd können wir längere Wege zurücklegen, mehr verdienen. Und in vier oder fünf Jahren, wer weiß, vielleicht reicht’s dann zu einem zweiten. Stell dir vor, dann haben wir zwei Pferde.«

Seines Vaters Ehrgeiz zielte also auf zwei Pferde, alte, klapprige Gäule, die ihre Karren durch die schmutzigen, engen Straßen des Ghettos zogen. Samuel hätte am liebsten geheult.

In jener Nacht, als alles schlief, schlich er in den Stall und untersuchte das Pferd. Sie hatten es auf den Namen »Ferdl« getauft. Zweifellos gehörte Ferdl zu den elendsten seiner Gattung. Es war uralt, hatte ein hohles Kreuz und lahmte. Samuel kam es äußerst zweifelhaft vor, ob sich der Karren mit dem Pferd schneller vorwärtsbewegen ließ als mit dem Vater. Aber das alles spielte keine Rolle. Einzig wichtig war für Samuel, dass er jetzt sein Versuchstier hatte. Von nun an konnte er experimentieren, ohne sich erst mühsam Ratten oder Katzen zu beschaffen. Selbstverständlich musste er vorsichtig zu Werke gehen. Sein Vater durfte nie dahinterkommen. Samuel streichelte dem Pferd den Kopf. »Von nun an bist du im Arzneigeschäft tätig«, informierte er Ferdl.

In einer Stallecke, dicht neben dem Pferd, richtete Samuel sich provisorisch ein Labor ein.

In einer Schüssel mit fetter Brühe züchtete er Diphtheriebakterien. Als die Brühe wolkig-trüb wurde, goss er etwas davon in einen anderen Behälter und schwächte die Mischung ab, indem er die Brühe erst verdünnte und dann leicht erhitzte. Darauf füllte er eine hypodermische Spritze mit der Flüssigkeit und trat an das Pferd heran. »Weißt du noch, was ich dir vorausgesagt habe?« flüsterte er. »Also, das ist heute dein großer Tag.«

Und er spritzte den Inhalt unter die schlaffe Pferdehaut, dicht an der Schulter, wie er es bei Dr. Wal gesehen hatte. Ferdl drehte den Kopf, sah ihn vorwurfsvoll an und rächte sich mit einer Urindusche.

Nach Samuels Berechnungen würde es etwa zweiundsiebzig Stunden dauern, bis sich die Kultur im Tier entwickelt hatte. Am Ende dieser Zeitspanne würde er ihm eine größere Dosis verabreichen. Dann noch eine. Wenn die Antikörper-Theorie stimmte, würde mit jeder Dosis ein stärkerer Blutwiderstand gegen die Krankheit aufgebaut. Und Samuel hatte seinen Impfstoff. Später musste er ihn dann auch an einem Menschen ausprobieren, aber da sah er kein Problem. Jedes Opfer der gefürchteten Krankheit würde nur zu gern ein Mittel ausprobieren, das ihm das Leben retten konnte.

Die nächsten beiden Tage verbrachte Samuel fast ununterbrochen im Stall bei Ferdl.

»So eine Tierliebe hab’ ich noch nie gesehen«, bemerkte sein Vater. »Kannst dich wohl gar nicht von ihm trennen, was?« Samuel murmelte etwas Unverständliches. Sein heimliches Tun bereitete ihm Schuldgefühle, aber er wusste, was fällig war, wenn er seinem Vater auch nur eine Silbe davon verriet. Außerdem war es auch gar nicht nötig, seinen Vater einzuweihen. Alles, was Samuel haben wollte, war etwas Blut von Ferdl für ein oder zwei Röhrchen Serum, und niemand brauchte je dahinterzukommen.

Am Morgen des dritten und entscheidenden Tages wachte Samuel von einem fürchterlichen Geschrei auf. Es war die Stimme seines Vaters. Hastig stand Samuel auf und sah aus dem Fenster. Da stand sein Vater mit dem Wagen und zeterte, was die Lungen hergaben. Vom Pferd war weit und breit nichts zu sehen. Samuel warf sich ein paar Kleidungsstücke über und lief auf die Straße.

»Verbrecher!« kreischte der Vater. »Betrüger! Lügner! Dieb!«

Um ihn herum sammelte sich eine Menschenmenge an. Samuel bahnte sich einen Weg.

»Wo ist Ferdl?« wollte er wissen.

»Gute Frage, prächtige Frage!« jammerte der Vater. »Wo kann er schon sein? Tot ist er. Auf der Straße verreckt wie ein Hund.«

Samuels Herz sank.

Sein Vater setzte die laute Klage fort. »Da sind wir unterwegs, ganz gemächlich, bitte sehr. Ich mach’ meine Geschäfte wie jeden Tag, nichts Besonderes. Nein, wirklich, ich hab’ ihn nicht getriezt oder mit der Peitsche geschlagen wie andere Trödler, deren Namen ich nennen könnte, wenn du mich fragst. Nichts da, bin ich doch wie ein Vater zu dem Gaul. Und womit dankt er’s mir? Fällt um und ist tot. Wenn ich den Kerl fasse, der ihn mir verhökert hat, den bring’ ich um!«

Samuel wandte sich ab; es zerriss ihm das Herz. Er hatte mehr verloren als einen Gaul. Seine Träume waren gestorben. Der Tod des Pferdes bereitete allem ein Ende: der Flucht aus dem Ghetto, der Freiheit, dem schönen Haus für Terenia und die Kinder.

Aber das Schicksal schlug noch härter zu.

Am Tag nach Ferdls Tod erfuhr Samuel, dass Terenias Heirat mit einem Rabbi beschlossene Sache sei. Samuel konnte es nicht glauben. Terenia gehörte ihm! Er rannte zum Waischen Haus. Dr. Wal und seine Frau hielten sich im Wohnzimmer auf. Samuel trat vor sie hin, holte tief Luft und verkündete: »Hier muss ein Irrtum vorliegen. Terenia wird mich heiraten.«

In wortlosem Erstaunen starrten sie ihn an.

»Ja, ja, ich weiß, ich bin nicht gut genug für sie«, fuhr Samuel hastig fort. »Aber sie wird mit keinem anderen glücklich als mit mir. Der Rabbi ist viel zu alt für -«

»Nebbich! Raus hier! Raus, raus!« Terenias Mutter war der Ohnmacht nahe.

Und eine Minute später fand sich Samuel auf der Straße wieder, belegt mit striktestem Hausverbot für alle Zeiten.

Diese Nacht hielt er lange Zwiesprache mit Gottvater.

»Was hast du dir eigentlich gedacht, was willst du von mir? Wenn ich Terenia nicht für mich haben kann, warum hast du dann gemacht, dass ich sie liebe? Hast du denn gar kein Herz?« Voller Verzweiflung hob er die Stimme und rief: »Hörst du mich?«

»Wir hören dich alle, Samuel«, klang es vielstimmig durch die dünnen Wände zurück. »Um Gottes willen, halt das Maul und lass uns schlafen.«

Am darauffolgenden Nachmittag ließ Dr. Wal nach Samuel schicken. Der Junge wurde ins Wohnzimmer geführt, wo sich der Arzt, seine Frau und Terenia befanden.

»Da hat sich ein Problem ergeben«, eröffnete ihm der Arzt. »Unsere Tochter kann, wenn es ihr beliebt, äußerst hartnäckig sein. Aus unerfindlichen Gründen hat sie einen Narren an dir gefressen, Samuel. Von Liebe kann man da wohl nicht reden, weil ich nicht glaube, dass junge Damen wissen, was das eigentlich ist. Wie dem auch sei, sie weigert sich, Rabbi Rabinowitz zu ehelichen. Sie bildet sich ein, sie will nur dich.«

Samuel wagte einen Seitenblick auf Terenia. Sie lächelte ihm zu, und er glaubte, sein Herz müsste vor Freude zerspringen. Aber es war ein kurzlebiges Glücksgefühl.

Denn Dr. Wal fuhr fort: »Du hast gesagt, du liebst meine Tochter.«

»J-j-ja, Herr Doktor«, stammelte Samuel. Er versuchte es noch mal, diesmal ging es ihm glatter von der Zunge. »Jawohl.«

»Dann will ich dich etwas fragen, Samuel. Möchtest du, dass Terenia für den Rest ihres Lebens die Frau eines Trödlers ist?« Samuel erkannte die Falle sofort, aber es gab keinen Weg an ihr vorbei. Noch einmal sah er Terenia an, dann sagte er bestimmt: »Nein, Dr. Wal.«

»Aha. Also bist du dir des Problems bewusst. Niemand von uns will Terenia mit einem Trödler verheiratet sehen. Du aber bist ein Trödler, Samuel.«

»Doch ich werde nicht immer einer sein, Dr. Wal.« Samuels Stimme war von Überzeugungskraft getragen.

»Und was wirste dann sein wollen?« fauchte Madame Wal. »Kommste aus einer Trödlerfamilie, wirste immer einer bleiben. So einer kommt für meine Tochter nicht in Frage, das lass’ ich nicht zu.«

Samuel sah die drei an; in seinem Kopf drehte sich alles. Gekommen war er in Angst und tiefster Verzweiflung, war auf höchste Gipfel der Freuden emporgehoben worden, um dann um so tiefer in den Abgrund gestoßen zu werden. Was wollten sie eigentlich von ihm?

Er sollte nicht lange im unklaren bleiben. »Wir haben uns auf einen Kompromiss geeinigt«, verkündete Dr. Wal. »Wir geben dir sechs Monate. So lange hast du Zeit zu beweisen, dass mehr in dir steckt als nur ein Trödler. Wenn du nach Ablauf dieser Frist Terenia nicht das Leben bieten kannst, das ihrem Stand angemessen ist, wird sie Rabbi Rabinowitz heiraten.«

Samuel konnte ihn nur anstarren. »Sechs Monate!«

In sechs Monaten konnte niemand das Schicksal besiegen. Und schon gar nicht einer, der im Ghetto von Krakau lebte.

»Hast du verstanden?« fragte Dr. Wal.

»Jawohl.« Samuel verstand nur zu gut. Er fühlte sich, als hätte er den Bauch voll Blei. Was er brauchte, war nicht die Lösung für ein Problem, sondern ein schieres Wunder. Die Wals, soviel war ihm klar, würden nur einen Schwiegersohn akzeptieren, der eine von drei Bedingungen erfüllte: Arzt zu sein oder ein Rabbi oder reich. Im Geist ging Samuel alle drei Möglichkeiten durch.

Arzt zu werden war ihm gesetzlich verwehrt.

Rabbi? Das Studium zur Erlangung der Rabbinerwürde begann mit dreizehn. Samuel war schon fast achtzehn.

Reich? Das lag noch weniger im Rahmen seiner Möglichkeiten. Selbst wenn er vierundzwanzig Stunden pro Tag schuftete, seine Waren in den Ghetto-Straßen feilhielt, auch noch mit neunzig, würde er ein armer Mann bleiben. Nein, die Wals hatten ihm eine unmögliche Aufgabe gestellt. Scheinbar waren sie zwar auf Terenias Willen eingegangen, hatten die Heirat mit dem Rabbi aber in Wahrheit nur aufgeschoben, indem sie ihm, Samuel, Bedingungen stellten, die er nie erfüllen konnte. Einzig Terenia glaubte an ihn. Sie baute auf ihn, hatte die Zuversicht, dass es ihm binnen sechs Monaten auf irgendeine Weise gelingen konnte, zu Ruhm und Reichtum zu gelangen. Eigentlich ist sie noch verrückter als ich, dachte Samuel, aber das linderte seine Verzweiflung auch nicht.

Die Sechsmonatsfrist begann, und von nun an verflog die Zeit geradezu. Das Trödlergeschäft nahm ihn von morgens bis abends in Anspruch. Aber sobald die Schatten der sinkenden Sonne auf die Ghettomauern fielen, lief er nach Hause. Er nahm sich kaum Zeit, einen Bissen herunterzuschlingen, dann begann das Experimentieren in seinem Laboratorium. Er züchtete Serumkulturen zu Hunderten, impfte Kaninchen, Katzen, Hunde und Vögel, und alle Tiere starben. Die sind zu klein, dachte Samuel voller Verzweiflung. Ich brauche ein größeres Tier.

Aber er hatte keines, und die Zeit flog dahin.

Zweimal in der Woche zog Samuel mit dem Wagen nach Krakau, um Waren einzukaufen. Vor Sonnenaufgang stand er bereits vor dem verschlossenen Tor, inmitten der anderen Trödler, aber er nahm sie nicht wahr. Sein Geist befand sich in einer anderen Welt.

Als Samuel eines frühen Morgens wieder einmal dort stand und seinen Tagträumen nachhing, wurde er angeherrscht: »He, du! Jude, beweg dich!«

Samuel fuhr hoch. Die Tore waren bereits geöffnet, und sein Karren blockierte den Weg. Einer der Wächter gestikulierte wütend, er solle weiterziehen. Vor dem Tor standen immer zwei Mann Wache. Sie hatten grüne Uniformen mit speziellen Abzeichen und waren mit Pistolen und schweren Prügeln bewaffnet. An einer Kette um die Taille trug einer der Wächter einen großen Schlüssel, mit dem das Tor auf- und zugeschlossen wurde. Parallel zum Ghetto strömte ein kleiner Fluss. Eine alte Holzbrücke führte zur anderen Seite, wo die Polizeikaserne lag und die Ghettowächter stationiert waren. Mehr als einmal war Samuel Zeuge geworden, wie ein unglücklicher Jude über die Brücke geschleift wurde. Das war jedes Mal eine Reise ohne Wiederkehr. Die Juden hatten bei Sonnenuntergang im Ghetto zurück zu sein, und jeder, der nach Einbruch der Dunkelheit draußen erwischt wurde, kam unter Arrest und wurde in ein Arbeitslager deportiert. Der Alptraum eines jeden Juden war es, nach Sonnenuntergang außerhalb des Ghettos gefasst zu werden.

Das Reglement sah vor, dass beide Wächter ständig auf Posten zu sein hatten und die ganze Nacht vor dem Tor patrouillierten. Doch jedermann wusste: Sobald sie die Juden eingeschlossen hatten, machte sich einer davon und kehrte erst frühmorgens, nach einer Nacht voll Saus und Braus in der Stadt, zurück, um seinem Kameraden beim Öffnen zu helfen.

Die beiden Wächter, die in der Regel dort Dienst taten, hießen Paul und Aram. Paul war ein freundlicher Typ und umgänglich. Ganz anders Aram: ein Kerl wie ein Herkules, dunkel und derb, mit gewaltigen Armen und einem Körper wie ein Bierfass, ein Judenschinder vom Scheitel bis zur Sohle. Wenn er Dienst tat, waren die Juden besonders bedacht, pünktlich zu sein, denn nichts bereitete Aram mehr Spaß, als einen Juden auszusperren. Dann schlug er ihn mit seinem Prügel bewusstlos und zerrte ihn über die Brücke in die von allen gefürchtete Polizeikaserne.

Aram war es, der Samuel anbrüllte, er solle sich gefälligst mit seinem Wagen wegscheren. Und als der Jüngling sich eilends durch das Tor und auf den Weg zur Stadt machte, spürte er Arams bohrenden Blick im Rücken.

Samuels sechs Monate schmolzen schnell dahin. Es wurden fünf, dann vier, dann drei. Es gab keinen Tag, keine Stunde, da Samuel nicht über seinem Problem brütete oder in dem kleinen schäbigen Labor fieberhaft an seinen Versuchen arbeitete. Zuweilen unternahm er es, einige der wohlhabenden Händler aus dem Ghetto anzusprechen, aber kaum jemand nahm sich überhaupt die Zeit, ihn anzuhören, und die es taten, hatten ihm nur wenig hilfreiche Ratschläge zu geben.

»Du willst Geld verdienen? Spare jeden Pfennig, mein Junge, und eines Tages kannst du dir so ‘n schönes Geschäft kaufen, wie ich eins habe.«

Die hatten leicht reden. Die meisten waren in wohlhabende Familien hineingeboren worden.

Samuel fasste den Gedanken, mit Terenia durchzubrennen. Aber wohin? Am Ende ihrer Reise würden sie in einem neuen Ghetto landen, er selbst immer noch ein mittelloser Nebbich. Nein, er hatte Terenia viel zu lieb, um ihr das anzutun.

Und die Uhr lief gnadenlos weiter. Die drei Monate schmolzen auf zwei zusammen, dann auf einen. Samuels einziger Trost lag in der Erlaubnis, während dieser ganzen Zeit seine geliebte Terenia dreimal die Woche sehen zu dürfen, unter Aufsicht, versteht sich. Und bei jedem Zusammentreffen fühlte Samuel, wie seine Liebe noch tiefer wurde. Es war ein bittersüßes Gefühl, denn je öfter er sie sah, desto näher rückte der Zeitpunkt, da er sie unwiderruflich verlieren würde. »Du findest einen Weg«, ermutigte Terenia ihn dann stets.

Aber schließlich waren es nur noch drei Wochen, und Samuel stand der Lösung nicht näher als zu Anfang.

Eines späten Abends tauchte Terenia bei Samuel im Stall auf. Sie legte ihm die Arme um den Hals und flüsterte: »Lass uns weglaufen, Samuel.«

Nie hatte er sie so sehr geliebt wie in diesem Augenblick. Sie war bereit, die Schande auf sich zu nehmen, Vater und Mutter und ihrem bequemen Leben zu entsagen. Und das alles nur für ihn.

Er presste sie an sich. »Es geht nicht, mein Liebes. Wo wir auch immer hingehen, ich bin nur ein Trödler.«

»Mir macht das nichts aus.«

Samuel dachte an ihr schönes Heim mit den vielen Zimmern, dem Personal und dem ganzen Komfort. Und dann dachte er an das enge, schäbige Glass, das er mit seinem Vater und seiner Tante teilte, und er sagte: »Aber mir macht es etwas aus, Terenia.«

Sie drehte sich um und ging.

Am nächsten Morgen begegnete Samuel auf der Straße einem früheren Schulfreund namens Isaac. Der führte ein Pferd am Zügel. Das Tier hatte nur ein Auge, litt an akuter Kolik, lahmte und war taub.

»Guten Morgen, Samuel.«

»Guten Morgen, Isaac. Ich weiß ja nicht, wohin du mit dem armen Gaul da willst, aber du solltest dich beeilen. Der sieht nicht so aus, als ob er es noch lange macht.«

»Braucht er auch nicht. Das ist Lottie, und ich bringe sie in die Abdeckerei.«

Samuel beäugte die alte Pferdedame mit plötzlich erwachtem Interesse. »Na, glaub ja nicht, dass die dir viel für sie geben.«

»Weiß ich selbst. Will ja nur zwei Gulden, um einen Karren zu kaufen.«

Samuels Herz fing schneller zu schlagen an. »Schätze, ich kann dir den Weg ersparen. Ich gebe dir meinen Karren für dein Pferd.«

Die beiden brauchten nicht einmal fünf Minuten, um handelseinig zu werden.

Nun musste Samuel nur noch einen neuen Karren zimmern und seinem Vater eine Geschichte auftischen, wie er den alten losgeworden und an ein Pferd gekommen war, das lahmte und fast blind war.

Samuel führte Lottie in die Scheune. Bei näherer Untersuchung sah die alte Mähre noch desolater aus als ihr Vorgänger. Samuel klopfte dem Tier den Rücken. »Nur keine Angst, Lottie. Du wirst in die Geschichte der Medizin eingehen.«

Und ein paar Minuten später hatte Samuel bereits ein neues Serum in Arbeit.

Die aufs äußerste beengten und völlig unhygienischen Verhältnisse im Ghetto führten immer wieder zu Epidemien. Die neueste Heimsuchung war ein Fieber besonderer Art. Es brachte quälenden Husten, geschwollene Drüsen und einen elenden Tod. Die Seuche verbreitete sich schnell, und die Ärzte kannten weder den Erreger noch einen Wirkstoff dagegen. Isaacs Vater wurde von der Krankheit befallen. Als Samuel davon hörte, eilte er zu ihm.

»Der Doktor ist dagewesen«, berichtete Isaac weinend. »Er sagt, man kann nichts mehr tun.«

Von oben hörte Samuel ein furchtbares Krächzen.

»Du musst was für mich tun«, bat Samuel. »Hol mir ein Taschentuch von deinem Vater.«

Isaac starrte ihn an. »Ein Taschentuch?«

»Ja, und zwar ein gebrauchtes. Und geh vorsichtig damit um. Es wird voller Bakterien stecken.«

Eine Stunde später war Samuel wieder im Stall. Vorsichtig kratzte er das Sputum in eine kleine Schüssel voll Brühe.

Er arbeitete die ganze Nacht, den nächsten und den darauffolgenden Tag, injizierte der geduldigen Lottie zunächst kleine Dosen der Substanz, dann größere. Er kämpfte gegen die Zeit und um das Leben von Isaacs Vater.

Gleichzeitig kämpfte Samuel um sein eigenes Leben.

Er wurde sich auch später nie darüber klar, ob der liebe Gott das alte Pferd oder ihn hatte retten wollen. Auf jeden Fall überlebte Lottie die Injektionen, und schließlich hatte Samuel sein erstes Quantum Antitoxin. Seine nächste Aufgabe bestand darin, Isaacs Vater zur Anwendung zu überreden. Doch wie sich herausstellte, bedurfte es dazu keiner großen Anstrengung. Als Samuel in Isaacs Haus kam, fand er dort die ganze Verwandtschaft, die den Sterbenden beweinte.

»Es geht bald zu Ende«, berichtete ihm Isaac.

»Kann ich ihn sehen?«

Die beiden Jungen gingen nach oben. Isaacs Vater lag im Bett, das Gesicht vom Fieber gerötet. Jeder seiner heftigen Hustenanfälle schüttelte mehr Substanz aus dem ausgemergelten Körper. Er lag ganz offensichtlich im Sterben.

Samuel holte tief Luft. »Ich möchte mit dir und deiner Mutter etwas bereden.«

Keiner der beiden setzte auch nur die geringste Zuversicht in die kleine Glasröhre, die Samuel mitgebracht hatte, aber die Alternative lautete: Tod. Und weil es ohnehin nichts zu verlieren gab, gingen sie das Risiko ein.

Samuel injizierte Isaacs Vater das Serum. Drei Stunden harrte er neben dem Bett aus, aber der Zustand blieb unverändert. Das Serum zeigte keine Wirkung. Im Gegenteil, die Hustenanfälle wurden eher schlimmer und kamen in schnellerer Folge. Schließlich ging Samuel und versuchte, Isaacs Blick zu meiden.

Am nächsten Morgen, in der Dämmerung, musste Samuel nach Krakau, um Waren einzukaufen. Er selbst fühlte sich wie im Fieber, so ungeduldig war er, wieder zurückzukehren und zu erkunden, ob Isaacs Vater noch lebte.

Die Märkte waren überfüllt, und es erschien Samuel wie eine Ewigkeit, bis er seine Waren zusammenhatte. Als der Karren schließlich beladen war und er sich auf den Weg ins Ghetto machte, stand die Nachmittagssonne schon tief am Himmel.

Samuel war noch gut drei Kilometer vom Tor entfernt, da schlug das Schicksal zu. Ohne Vorankündigung zerbrach eines der Wagenräder, das Gefährt kippte um, und die Ladung ergoss sich auf die Straße. Samuel sah sich in einem bösen Dilemma: Er musste ein anderes Rad auftreiben, wagte aber nicht, den Wagen unbewacht zurückzulassen. Schon sammelte sich eine Menschenmenge an; begehrliche Blicke galten den Gegenständen auf dem Pflaster. Samuel sah einen uniformierten Polizisten näher kommen, und er wusste sich verloren. Jetzt würden sie ihm alles wegnehmen, der Polizist war kein Jude. Majestätisch schob sich der Ordnungshüter durch die Menge. Er baute sich vor dem verängstigten Jungen auf. »Dein Karren braucht ein neues Rad, wie ich sehe.«

»Ja-jawohl, mein Herr.«

»Weißt du, wo du eins bekommst?«

»Nein, mein Herr.«

Der Polizist kritzelte etwas auf ein Stück Papier. »Da geh hin. Sag dem Mann, was du brauchst.«

»Ich kann den Wagen doch nicht allein lassen«, wandte Samuel ein.

»Doch, das kannst du.« Der Polizist warf den Umstehenden einen strengen Blick zu. »Ich werde ihn bewachen, keine Sorge. Beeil dich aber.«

Samuel rannte den ganzen Weg. Den Anweisungen auf dem Zettel folgend, landete er schließlich bei einem Schmied. Nachdem Samuel ihm seine Lage geschildert hatte, suchte der Mann ein Rad in passender Größe heraus. Samuel zahlte aus der kleinen Barschaft, die er bei sich trug. Es blieb nur noch ein halbes Dutzend Gulden übrig.

Das Rad vor sich her rollend, rannte er zum Karren zurück. Dort stand immer noch der Polizist; die Menge hatte sich verlaufen. Mit Hilfe des Ordnungshüters montierte er das neue Rad an. Sie brauchten eine halbe Stunde dazu. Dann endlich konnte sich Samuel auf den unterbrochenen Heimweg machen. Seine Gedanken waren einzig und allein bei Isaacs Vater. Würde er ihn tot vorfinden, oder lebte er noch? Samuel meinte, die Spannung nicht einen Augenblick länger ertragen zu können.

Inzwischen war er nur noch gut anderthalb Kilometer vom Ghetto entfernt. Schon sah er die hohe Mauer sich gegen den Himmel abzeichnen. Und als er sie noch anblickte, ging die Sonne am westlichen Horizont unter; die ihm fremden Straßen wurden in Dunkelheit gehüllt. In der ganzen Aufregung hatte Samuel völlig die Zeit vergessen. Es war nach Sonnenuntergang, und er befand sich noch draußen auf den Straßen! Er fing zu rennen an, stieß den schweren Karren vor sich her. Schließlich schien ihm das Herz zu zerspringen, und das nicht allein vor Anstrengung. Bestimmt waren die Tore des Ghettos bereits geschlossen. Nur zu gut kannte Samuel all die schlimmen Geschichten über jene Juden, die abends ausgesperrt waren. Er rannte noch schneller. Wahrscheinlich war jetzt, wie meistens, nur noch ein Wächter am Tor. Handelte es sich um Paul, den netteren, hatte Samuel eine hauchdünne Chance. Stand dort aber Aram - Samuel wagte gar nicht, sich auszudenken, was dann geschah. Die Dunkelheit wurde immer dichter, umfing ihn wie ein schwarzes Tuch, und es begann leicht zu regnen. Samuel näherte sich den Ghettomauern, noch zwei Straßenecken, dann ragte das riesige Tor vor ihm auf. Es war verschlossen.

Noch nie hatte Samuel das geschlossene Tor von außen gesehen. Es war, als hätte sich sein Leben plötzlich umgestülpt, und die Angst ließ ihn zittern. Er bewegte sich jetzt ganz langsam vorwärts, näherte sich dem Tor mit äußerster Vorsicht. Dabei hielt er Ausschau nach den Wächtern. Sie waren nicht zu sehen. Vielleicht war aus irgendeinem Grund Alarm gegeben worden, und die beiden hatten fortgemusst. Dann würde er einen Weg finden, das Tor zu öffnen oder ungesehen über die Mauer zu klettern. Als er bis auf wenige Meter heran war, trat ein Wächter aus dem Schatten.

»Komm nur näher!« befahl er.

In der Finsternis konnte Samuel das Gesicht nicht sehen. Aber er erkannte die Stimme. Es war Aram.

»Näher! Hierher!«

Aram sah Samuel entgegen, ein Grinsen auf dem Gesicht. Der Junge zögerte.

»Nichts da!« rief der Wächter. »Immer schön weitermarschiert!«

Als sich Samuel langsam dem Riesen näherte, drehte sich ihm der Magen um. In seinem Kopf hämmerte es wie wild. »Bitte...«, stammelte er. »Bitte lassen Sie mich erklären. Ich hatte einen Unfall. Mein Wagen -«

Eine Hand, groß wie ein Schinken, kam hervorgeschossen, packte Samuel am Kragen und hob ihn hoch. Seine Füße baumelten in der Luft. »Du dummer kleiner Judenlümmel!« Seine Stimme hatte einen genüsslichen Tonfall angenommen. »Meinst du, mich interessiert, warum du noch draußen bist? Du stehst auf der falschen Seite des Tores, das ist alles, was zählt. Weißt du, was jetzt mit dir geschieht?«

Das Entsetzen schnürte Samuel die Kehle zu. Er schüttelte den Kopf.

»Dann will ich es dir sagen. Letzte Woche erst ist ein neues Edikt erlassen worden. Alle Juden, die nach Sonnenuntergang vor den Toren aufgegriffen werden, kommen in einen Transport nach Schlesien. Zehn Jahre Zwangsarbeit. Na, wie schmeckt dir das?«

Samuel konnte nicht glauben, was er gehört hatte. »Aber ich - ich hab’ doch gar nichts getan. Ich -«

Mit der rechten Hand schlug ihm Aram hart ins Gesicht, ließ ihn dann auf den Boden fallen. »Auf geht’s!«

»Wo-wohin?« Samuels Stimme klang vor Angst wie erstickt. »In die Polizeikaserne. Morgen früh gehst du auf die Reise. Mit dem anderen Pack. Los, steh auf!«

Samuel lag auf dem Boden, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. »Ich - ich muss mich von meiner Familie verabschieden.«

Aram grinste nur. »Die werden dich nicht mal vermissen.«

»Bitte -«, bettelte Samuel. »Lassen Sie mich doch wenigstens eine Nachricht schicken.«

Das Grinsen verschwand aus Arams Gesicht. Drohend türmte sich seine Gestalt über Samuel auf. Als er sprach, klang seine Stimme gefährlich leise. »Ich sagte, steh auf, Scheißjude! Wenn ich das noch einmal sagen muss, trete ich dir in den Bauch.«

Langsam raffte sich Samuel auf. Mit eisernem Griff packte Aram seinen Arm und schob ihn vor sich her in Richtung Polizeikaserne. Zehn Jahre Zwangsarbeit in Schlesien! Von dort war noch keiner zurückgekommen. Er sah zu dem Mann auf, der ihn gepackt hatte und ihn gnadenlos zur Brücke schleppte, hinter der die Polizeistation lag.

»Bitte, tun Sie das nicht«, flehte er. »Lassen Sie mich gehen.« Aber Aram drückte nur noch fester zu; in Samuels Arm staute sich das Blut. »Bettel nur weiter«, sagte Aram. »Ich genieße es, wenn Juden betteln. Hast du schon mal von Schlesien gehört? Du kommst gerade zurecht zur Winterszeit. Aber keine Angst, unter Tage, in den Minen ist es schön warm. Und wenn deine Lungen schwarz vor Kohle werden und du sie dir aus dem Leib hustest, dann lassen sie dich im Schnee liegen. Da kannst du dann krepieren.«

Vor ihnen, jenseits der Brücke, in Regen und Dunkelheit kaum auszumachen, ragten die schroffen Mauern der Kaserne auf.

»Schneller«, drängte Aram.

Und plötzlich war Samuel klar: Er durfte einfach nicht zulassen, dass ihm derartiges geschah. Er dachte an Terenia, seine Familie, Isaacs Vater. Nein, sein Leben gehörte ihm, das würde ihm niemand entreißen. Er musste entkommen, sich retten. Sie waren jetzt auf der schmalen Brücke. Unter ihnen gurgelte der Fluss; die winterlichen Regenfälle hatten ihn anschwellen lassen. Nun waren nur noch dreißig Meter zurückzulegen. Was immer zu tun war, musste auf der Stelle getan werden. Aber wie konnte er entkommen? Aram besaß eine Waffe, und sogar ohne Pistole hätte der Hüne ihn leicht umbringen können, war er doch fast zweimal so groß wie Samuel und wesentlich stärker. Inzwischen hatten sie die Brücke überquert; die Kaserne lag unmittelbar vor ihnen.

»Los, nun mach schon«, drängte Aram und stieß ihn vorwärts. »Ich hab’ noch mehr zu tun.«

Sie waren jetzt so nahe an dem Gebäude, dass Samuel von drinnen das Gelächter der Posten hören konnte. Arams Hände schlössen sich wieder fester um seinen Arm, und der Riese begann, den Jungen über den gepflasterten Hof zu zerren, der zur Wache führte. Samuel blieben nur noch Sekunden. Mit der Rechten langte er in die Tasche und fühlte den Geldbeutel mit dem halben Dutzend Gulden. Seine Finger schlössen sich um ihn, sein Blut kochte. Vorsichtig zog er mit der freien Hand den Beutel aus der Tasche, löste die Schnur und ließ ihn auf die Erde fallen. Mit lautem Klimpern rollten die Geldstücke über das Pflaster.

Aram blieb stehen. »Was war das?«

»Nichts«, antwortete Samuel schnell.

Aram blickte den Jungen an und grinste. Ohne den Griff zu lockern, trat er einen Schritt zurück und sah den Geldbeutel. »Da, wo du hingehst, brauchst du kein Geld mehr.«

Er bückte sich, um den Beutel aufzuheben; gleichzeitig langte Samuel nach unten. Aram riss ihm den Geldbeutel unter der Hand weg. Aber Samuel hatte es gar nicht auf den Beutel abgesehen. Seine Hand schloss sich um einen der großen Pflastersteine, die dort herumlagen, und im Aufrichten schmetterte er Aram den Stein mit aller Wucht auf das linke Auge, das sich sofort in eine blutige Masse verwandelte. Und Samuel fuhr fort, auf ihn einzuschlagen, wieder und immer wieder. Die Nase des Riesen wurde plattgedrückt, bis Lippen und Mund eine offene Wunde, das ganze Gesicht nur noch eine blutrote Maske war. Immer noch stand Aram auf den Füßen wie ein blindes Monster. Krank vor Angst starrte Samuel ihn an, unfähig, weiter zuzuschlagen. Dann sackte der schwere Körper ganz langsam in sich zusammen. Samuel beugte sich über den toten Wächter und konnte nicht glauben, was er getan hatte. Plötzlich drangen die Stimmen aus der Wache in sein Bewusstsein und damit zugleich die Erkenntnis, in welcher Gefahr er sich befand. Wenn sie ihn jetzt zu fassen bekamen, würden sie ihn nicht mehr nach Schlesien schicken, sondern ihm die Haut bei lebendigem Leibe abziehen und ihn auf dem Marktplatz erhängen. Allein auf das Schlagen eines Polizisten stand die Todesstrafe. Samuel aber hatte einen umgebracht. Er musste weg, so schnell wie möglich. Aber was tun? Er konnte versuchen, über die Grenze zu fliehen, aber dann war er für den Rest seines Lebens ein gehetzter Flüchtling. Nein, es musste eine andere Lösung geben. Er starrte die gesichtslose Leiche an, und auf einmal erkannte er den einzigen Ausweg, den es gab. Er tastete den Toten nach dem großen Schlüssel für das Ghetto-Tor ab. Dann überwand er seinen Widerwillen, packte Aram an den Stiefeln und zog ihn zum Flussufer. Der Tote schien eine Tonne zu wiegen. Samuel zog und zog, angetrieben von dem Lärm aus der Wache. Endlich erreichte er das Ufer. Einen Moment des Atemholens gestattete er sich, dann schob er die Leiche über die Böschung ins aufgewühlte Wasser. Der tote Aram wurde langsam stromabwärts getrieben und verschwand aus seiner Sicht. Samuel stand stocksteif da, gelähmt vor Entsetzen über seine Tat. Er hob den blutigen Stein auf und warf ihn hinterher. Immer noch schwebte er in höchster Gefahr. Er drehte sich um und rannte zurück zum verschlossenen und verriegelten Tor des Ghettos. Niemand war zu sehen. Mit zitternden Fingern steckte Samuel den riesigen Schlüssel in das Schloss. Dann versuchte er, die schweren hölzernen Torflügel aufzuziehen. Vergebens: Sie bewegten sich nicht, waren zu schwer für ihn. In dieser Nacht war für Samuel jedoch nichts mehr unmöglich. Ihn durchströmte eine übernatürliche Kraft. Die Torflügel gaben nach, gingen auf. Er schob den Karren hinein, ließ die Tür ins Schloss fallen und eilte nach Hause. Die Familie war im Wohnzimmer versammelt. Als Samuel hereinkam, starrten sie ihn wie einen Geist an.

»Sie haben dich durchgelassen?«

»Wieso - ich - ich verstehe nicht«, stammelte sein Vater. »Wir dachten, du -«

Schnell berichtete Samuel, was geschehen war, und ihre Sorgen wichen blanker Angst.

»Oh, du mein Gott!« stöhnte sein Vater. »Jetzt bringen sie uns alle um!«

»Nicht, wenn ihr auf mich hört«, sagte Samuel. Er erklärte seinen Plan.

Eine Viertelstunde später standen Samuel, sein Vater und zwei Nachbarn vor dem Tor.

»Und wenn nun der andere Posten wiederkommt?« flüsterte sein Vater.

»Das Risiko müssen wir eingehen. Wenn er auftaucht, nehme ich die ganze Schuld auf mich.«

Samuel stieß das riesige Tor auf. Allein schlüpfte er hinaus, in der Erwartung, jeden Moment aus dem Dunkel gepackt zu werden. Aber nichts geschah. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Nun war das Ghetto-Tor von außen verriegelt. Samuel band sich den Schlüssel um die Taille und ging ein paar Schritte um die Mauer nach links. Einen Moment später wurde ein Seil für ihn herabgelassen. Samuel klammerte sich fest, und sein Vater und die anderen zogen ihn herüber.

»Oh, mein Gott«, murmelte sein Vater. »Was wird geschehen bei Sonnenaufgang?«

Samuel sah ihn an. »Bei Sonnenaufgang stehen wir alle hier drinnen vor dem Tor, trommeln und schreien, sie sollen uns endlich aufmachen.«

In der Morgendämmerung wimmelte das Ghetto von Uniformierten, Polizisten wie Soldaten. Bei Sonnenaufgang, als die Krämer und Händler drinnen zu toben anfingen, hatte die Obrigkeit mühsam erst einen Ersatzschlüssel auftreiben müssen. Paul, der zweite Posten, hatte gestanden, die ganze Nacht in Krakau verbracht zu haben, und war in Arrest genommen worden. Aber damit war das Rätsel um Aram nicht gelöst. Verschwand ein Wachtposten in unmittelbarer Nähe des Ghettos, so gab das schon Vorwand genug, um ein Pogrom zu entfachen und blutige Rache an den Juden zu nehmen. Diesmal aber kam die Obrigkeit an der Tatsache des verschlossenen Tores nicht vorbei. Da es sicher und fest von außen verriegelt war und die Juden sich drinnen befanden, konnten sie offensichtlich mit dem Verschwinden des Postens nichts zu tun haben.

Schließlich kam man zu dem Schluss, Aram müsste mit einer seiner vielen Freundinnen durchgebrannt sein. Wahrscheinlich hatte er, vermutete man, den hinderlichen Schlüssel einfach weggeworfen. Man suchte überall danach, aber vergebens. Das konnte auch gar nicht anders sein; denn in Wahrheit lag der Schlüssel tief in der Erde vergraben unter dem Keller von Samuels Haus.

Körperlich und seelisch total erschöpft, war Samuel in sein Bett gefallen und sofort eingeschlafen. Plötzlich spürte er, wie jemand ihn wachrüttelte, und hörte eine gellende Stimme. Sein erster Gedanke war: Sie haben Arams Leiche gefunden. Jetzt holen sie mich.

Auf alles gefasst, schlug er die Augen auf. Neben seinem Bett stand Isaac, ganz aus dem Häuschen. »Das Fieber ist gefallen!« schrie er immer wieder. »Der Husten ist weg! Ein Wunder ist geschehen, komm mit, sieh selbst!«

Isaacs Vater saß aufrecht im Bett, Husten und Fieber waren verschwunden.

Als Samuel an das Bett trat, sagte der alte Mann: »Ich habe Hunger. Bringt mir denn niemand eine Tasse Hühnersuppe?« Samuel brach in Schluchzen aus.

Innerhalb eines Tages hatte er ein Leben vernichtet und eines gerettet.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde von der Genesung im Ghetto. Die Familien sterbender Kranker versetzten das Roffesche Haus in regelrechten Belagerungszustand, flehten Samuel an, er möge einen Tropfen seines magischen Serums spenden. Es war ihm unmöglich, der Vielzahl der Anforderungen nachzukommen. Er ging zu Dr. Wal. Der Arzt hatte von seiner Tat gehört, zeigte sich aber skeptisch.

»Ich muss das mit eigenen Augen sehen«, meinte er.

»Gib mir ein Quantum von deinem Serum, und ich probier’ es an einem meiner Patienten aus.«

Die Anzahl der Anwärter war nur allzu groß, und Dr. Wal wählte einen Kranken, der seiner Ansicht nach dem Tod am nächsten stand. Vierundzwanzig Stunden später befand sich der Patient auf dem Wege der Besserung.

Dr. Wal begab sich in den Stall, wo Samuel Tag und Nacht mit der Herstellung von Serum beschäftigt gewesen war. »Es wirkt, Samuel. Du hast es vollbracht. Was wünschst du dir als Aussteuer?«

Samuel konnte vor Müdigkeit kaum die Augen offenhalten. Seine Antwort lautete: »Noch ein Pferd.«

Das war 1868: das Geburtsjahr von Roffe und Söhne.

Samuel und Terenia heirateten. Die Mitgift bestand aus sechs Pferden und einem kleinen, exzellent eingerichteten Laboratorium. Sofort dehnte Samuel seine Experimente aus. Er destillierte Heilmittel aus Kräutern. Bald kamen die Nachbarn und kauften Arzneien gegen alle Gebrechen, von denen sie gerade heimgesucht wurden. Die Mittel wirkten, und Samuels Ruhm nahm zu. Wenn jemand nicht zahlen konnte, pflegte er zu sagen: »Macht nichts, nehmen Sie’s halt so mit.« Und zu Terenia: »Medizin ist zum Heilen da, nicht zum Geldverdienen.«

Aber sein Geschäft wuchs und wuchs, und nach kurzer Zeit konnte er Terenia eröffnen: »Meiner Meinung nach ist es an der Zeit, eine kleine Apotheke aufzumachen. Da können wir neben der Medizin Salben und Pülverchen verkaufen.«

Von Anfang an war der Laden ein Erfolg. Die Reichen, die Samuel früher ihre Hilfe verweigert hatten, kamen nun mit großzügigen Geldangeboten.

»Lass uns Partner sein«, sagten sie. »Wir bauen eine Kette von Geschäften auf.«

Samuel besprach die Offerten mit Terenia. »Ich habe Angst vor Partnern. Das ist unser Geschäft. Kein Fremder soll einen Teil unseres Lebens besitzen.«

Terenia stimmte zu.

Als das Geschäft immer weiter wuchs und neue Läden aus dem Boden schossen, vergrößerten sich auch die Geldangebote. Samuel wies alle Bewerber ab.

Sein Schwiegervater fragte nach dem Grund, und Samuel antwortete: »Lass nie einen freundlichen Fuchs in deinen Hühnerstall. Eines Tages bekommt er doch Hunger.«

Ebenso wie das Geschäft gedieh Samuels und Terenias Ehe. Sie gebar ihm fünf Söhne: Abraham, Joseph, Anton, Jan und Pitor. Und mit der Geburt eines jeden Sohnes eröffnete Samuel eine neue Apotheke, eine größer als die andere. Zuerst hatte Samuel einen Gehilfen eingestellt, dann den zweiten, und bald beschäftigte er mehr als zwei Dutzend Angestellte.

Eines Tages bekam er Besuch von einem Regierungsbeamten. »Wir heben einige Restriktionen für Juden auf«, erklärte er ihm. »Unser Wunsch ist, dass Sie eine Apotheke in Krakau eröffnen.«

Samuel kam der Aufforderung nach. Drei Jahre später konnte er in der Innenstadt von Krakau sein eigenes Geschäftshaus bauen und für Terenia ein elegantes Stadthaus. Endlich hatte Samuel seinen Traum wahr gemacht. Er war dem Ghetto entkommen.

Doch hegte er Träume, die weit über Krakau hinausreichten.

Als die Knaben älter wurden, engagierte er ihnen Hauslehrer, und jeder Sohn lernte eine andere Fremdsprache.

»Jetzt ist er komplett verrückt!« keifte seine Schwiegermutter. »Das Gespött aller Nachbarn! Da lässt er Abraham und Jan Englisch lernen, Joseph Deutsch, Anton Französisch und Pitor Italienisch. Keiner hier spricht auch nur eine dieser barbarischen Sprachen. Die Jungen werden nicht einmal miteinander reden können!«

Aber Samuel lächelte nur. »Das ist Teil ihrer Ausbildung.« Er wusste sehr wohl, mit wem seine Söhne sprechen würden.

Bis zur Mitte ihres zweiten Lebensjahrzehnts hatten alle Jungen mit ihrem Vater die verschiedensten Länder besucht. Auf jeder Reise legte Samuel den Grundstock für seine Zukunftspläne. Als Abraham einundzwanzig war, rief Samuel die Familie zusammen und verkündete: »Abraham wird nach Amerika auswandern.«

»Amerika!« schrie Terenias Mutter. »Da laufen doch lauter Wilde herum. Das lass’ ich mit meinem Enkel nicht machen. Der Junge bleibt hier, wo er sicher ist.«

Sicher. Samuel dachte an die Pogrome, an das blutige Ende seiner Mutter.

»Er wandert aus«, erklärte er. Und er wandte sich an Abraham: »Du wirst in New York eine Fabrik eröffnen und für das dortige Geschäft verantwortlich sein.«

»Jawohl, Vater«, erwiderte Abraham stolz.

Samuel wandte sich Joseph zu. »An deinem einundzwanzigsten Geburtstag gehst du nach Berlin.« Joseph nickte.

Anton fiel ein: »Und ich? Mich schickst du doch hoffentlich nach Frankreich, nach Paris.«

»Pass bloß auf«, brummte Samuel. »Manche von den Gojims sind sehr schön.«

Er wandte sich zu Jan: »Du gehst nach England.«

Der Jüngste, Pitor, rief aufgeregt: »Und ich reise nach Italien, Papa. Wann kann ich losfahren?«

Samuel lachte. »Heute abend nicht mehr, Pitor. Du musst schon warten, bis du einundzwanzig bist.«

Und genauso kam es. Samuel begleitete seine Söhne ins Ausland und half ihnen, Geschäfte und Fabriken einzurichten. Im Laufe der folgenden sieben Jahre kam die Familie Roffe zu Niederlassungen in fünf fremden Ländern. Aus dem Geschäft war inzwischen eine Dynastie geworden, und Samuel ließ seinen Rechtsanwalt das vertraglich absichern. Jedes Unternehmen sollte selbständig arbeiten, zugleich aber dem Mutterhaus verantwortlich sein.

»Vor allem keine Fremden«, warnte Samuel immer wieder. »Alle Anteile müssen im Familienbesitz bleiben.«

»Werden sie auch«, beruhigte ihn der Anwalt. »Aber wenn deine Söhne ihre Anteile nicht veräußern können, Samuel, sag mir, wie sollen sie dann ihr Auskommen finden? Du willst sie doch sicher bequem leben lassen.«

Samuel nickte. »Wir werden es so einrichten, dass sie schöne Häuser haben. Und ein großzügiges Gehalt und ein Konto für notwendige Ausgaben. Aber darüber hinaus muss alles wieder ins Geschäft fließen. Wenn sie jemals Anteile verkaufen wollen, muss das einstimmig beschlossen werden. Die Mehrheit der Anteile geht später auf meinen ältesten Sohn und dessen Erben über. Wir werden groß sein. Größer als die Rothschilds.«

Über die Jahre hinweg wurde Samuels Prophezeiung in die Tat umgesetzt. Das Geschäft wuchs und gedieh. Obwohl die Familie jetzt über die halbe Welt verstreut war, achteten Samuel und Terenia darauf, dass der Zusammenhalt gewahrt blieb. Zu Geburts- und hohen Festtagen kehrten die Söhne heim. Doch ihre Besuche waren mehr als ein Familienwiedersehen. Die Jungen zogen sich mit ihrem Vater zurück und erörterten das Geschäftliche. Sie hatten ihr eigenes privates Spionagenetz. Jedesmal, wenn ein Sohn in einem Land von einer pharmazeutischen Neuentwicklung hörte, gab er die Nachricht an die Brüder weiter, und sogleich fingen alle an, den neuen Wirkstoff selbst zu produzieren. So waren sie der Konkurrenz immer einen Schritt voraus.

Das Rad des Jahrhunderts drehte sich. Die Söhne heirateten, hatten Kinder, und Samuel kam zu Enkelkindern. Abraham war an seinem einundzwanzigsten Geburtstag, im Jahr 1891, wie geplant, nach Amerika übersiedelt. Sieben Jahre später heiratete er ein amerikanisches Mädchen, das im Jahr 1905 Samuels erstem Enkelkind, Woodrow, das Leben schenkte, der seinerseits einen Sohn zeugte und ihn Sam nannte. Joseph hatte eine Deutsche geheiratet, die einen Sohn und eine Tochter bekam. Der Sohn heiratete ein Mädchen, das wiederum von einer Tochter entbunden wurde: Anna. Diese Anna heiratete einen Deutschen, Walther Gassner. In Frankreich hatte Anton eine Französin geehelicht, mit der er zwei Söhne hatte. Einer beging Selbstmord, der andere heiratete und wurde Vater einer Tochter, Helene, die ihrerseits mehrmals heiratete, aber kinderlos blieb. Jan hatte in London eine Engländerin zur Frau genommen, und ihrer beider einzige Tochter war von einem Baronet zur Gattin erkoren worden, der Nichols hieß. Die beiden wiederum bekamen einen Sohn, den sie Alec tauften. Pitor, in Italien, heiratete ebenfalls eine Einheimische. Sie bekamen einen Sohn und eine Tochter. Als zu gegebener Zeit der Sohn eine Frau nahm, gebar diese ihm eine Tochter, Simonetta, die sich im angemessenen Alter in einen jungen Architekten, Ivo Palazzi, verliebte und ihn heiratete.

Dies also waren die Nachkommen von Samuel und Terenia Roffe.

Samuel erlebte noch die großen Neuerungen, durch die sich die Welt veränderte. Marconi erfand die drahtlose Telegrafie, und die Gebrüder Wright brachten in Kitty Hawk das erste Flugzeug in die Lüfte. Die Affäre Dreyfus eroberte die Schlagzeilen, und Admiral Peary erreichte den Nordpol. Das Automodell T von Ford ging in die Massenproduktion; es gab elektrisches Licht und das Telefon. In der Medizin wurden die Erreger von Tuberkulose, Typhus und Malaria gefunden und isoliert.

Und nicht einmal ein halbes Jahrhundert nach seiner Gründung war Roffe und Söhne ein multinationaler Mammutkonzern, eine weltumspannende Dynastie.

Samuel und seine klapprige Pferdedame Lottie hatten ein Imperium aus der Taufe gehoben.

Nachdem Elizabeth das Buch wohl zum fünftenmal gelesen hatte, stellte sie es heimlich an seinen Platz in der Glasvitrine zurück. Sie brauchte es nicht länger. Sie war jetzt ein Teil von ihm, genauso wie das Buch ein Teil von ihr war.

Zum ersten Mal in ihrem Leben wusste Elizabeth, wer sie war und woher sie kam.

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