Elizabeth kam sich ganz klein vor.
Schon oft war sie im Züricher Hauptquartier gewesen, aber stets nur in Begleitung ihres Vaters. Der Mächtige war er. Und nun lag alle Macht bei ihr. Fast ängstlich sah sie sich in dem gewaltigen Büro um und fühlte sich wie eine Hochstaplerin. Der Raum, von Ernst Hohl ausgestattet, war von erlesener Eleganz, mit antikem Mobiliar und kostbaren Ölgemälden versehen. Vor dem Marmorkamin luden eine Ledercouch, ein großer Couchtisch und vier weiche Sessel zum Verweilen ein. An den Wänden hingen echte Renoirs, Chagalls, Klees und zwei frühe Courbets. Der Schreibtisch war aus massivem schwarzen Mahagoni. Gleich daneben stand eine Konsole mit den diffizilsten Kommunikationseinrichtungen. Eine Batterie von Telefonen verband das Hauptquartier über Direktleitungen mit den Zweigstellen in der ganzen Welt. Außerdem standen zwei rote Apparate mit automatischem Wortzerhacker zur Verfügung, ferner eine ausgeklügelte Gegensprechanlage, ein Fernschreiber und zahlreiche andere Installationen. Hinter dem Schreibtisch hing ein Porträt des alten Samuel Roffe.
Eine Seitentür führte in ein geräumiges Ruhezimmer mit eingebauten Schränken aus Zedernholz. Sams Kleidungsstücke waren bereits entfernt worden, und Elizabeth war dankbar dafür. Sie betrat ein gekacheltes Bad. Auf den Wärmegestellen hingen frische Handtücher. Der Medizinschrank war ausgeräumt. Überhaupt fehlten sämtliche persönlichen Gegenstände von Sam. Kate hatte dafür gesorgt. Ob sie wohl in Sam verliebt gewesen war? fragte Elizabeth sich.
Zur Direktions-Suite gehörten eine Sauna, ein komplett ausgestatteter Trimm-Raum, ein Friseursalon und ein Speisesaal für etwa hundert Personen. Wurden ausländische Gäste bewirtet, befanden sich in den Blumengestecken auf der Tischmitte kleine Fähnchen mit den jeweiligen Landesfarben.
Außerdem stand Sam ein exquisit eingerichteter privater kleiner Essraum zur Verfügung.
Kate Erling hatte Elizabeth mit den gastronomischen Details vertraut gemacht. »Tagsüber stehen immer zwei Köche zur Verfügung, nachts nur einer. Sofern Sie mehr als zwölf Gäste bewirten, zum Lunch oder Souper, muss die Küche zwei Stunden vorher benachrichtigt werden.«
Jetzt saß Elizabeth am Schreibtisch ihres Vaters. Vor ihr türmten sich Papiere auf, Memoranden, Statistiken, Berichte, und sie hatte keine Ahnung, wo sie anfangen sollte. Sie dachte daran, wie ihr Vater hier, auf diesem Stuhl, gesessen hatte, hinter diesem Schreibtisch. Und wieder überkam sie das Gefühl eines schmerzlichen Verlusts. Sam war so tüchtig gewesen, so brillant. Wie sehr sie ihn jetzt gebraucht hätte!
Vor Alecs Rückkehr nach London hatte Elizabeth ein paar Worte mit ihm wechseln können.
»Lass dir Zeit«, hatte sein Rat gelautet. »Niemand soll dich drängen.«
Also hatte er ihre Gedanken erraten.
»Alec, was meinst du? Soll ich der Umwandlung des Konzerns zustimmen?«
Er hatte sie scheu angelächelt. Seine Stimme klang verlegen. »Ich fürchte, ich bin auch dafür, altes Mädchen. Aber natürlich bin ich ebenso voreingenommen wie die anderen. Unsere Anteile sind kaum das Papier wert, solange wir sie nicht verkaufen können. Aber das ist jetzt allein deine Entscheidung.«
Als sie verloren im riesigen Büro ihres Vaters saß, fiel ihr diese Unterhaltung wieder ein. Fast übermächtig wuchs der Drang, Alec anzurufen. Sie brauchte nur zu sagen: »Ich hab’s mir anders überlegt.« Dann konnte sie von der Bildfläche verschwinden, war frei. Sie gehörte nicht hierher. Sie war dieser Rolle einfach nicht gewachsen.
Sie probierte die Knöpfe der Gegensprechanlage auf der Konsole aus. An einem stand der Name Rhys Williams. Nach kurzem Zögern drückte sie auf den Knopf.
Rhys saß ihr gegenüber, beobachtete sie. Elizabeth wusste genau, was er dachte, was alle dachten. Dass sie hier nichts zu suchen hatte.
»Sie haben heute morgen eine schöne Bombe platzen lassen«, stellte er fest.
»Tut mir leid, wenn ich allen auf die Zehen getreten bin.« »Auf die Zehen getreten ist gar kein Ausdruck. Alle waren regelrecht geschockt. Dabei sollte es so glatt über die Bühne gehen. Die Presseverlautbarung war bereits formuliert.« Er sah sie forschend an. »Was hat Sie veranlasst, die Unterschrift zu verweigern, Liz?«
Wie sollte sie ihm klarmachen, dass es nichts war als ein Gefühl, eine Art Eingebung? Er würde sie nur auslachen. Trotzdem: Sam hatte sich geweigert, Konzernaktien auf den Markt zu werfen. Und sie musste den Grund dafür herausfinden.
Es war, als hätte Rhys ihre Gedanken gelesen. »Ihr Ururgroßvater hat das Geschäft als Familienunternehmen gegründet, um Außenstehende fernzuhalten. Aber damals war es im Vergleich zu heute eine kleine Klitsche. Alles hat sich geändert. Wir gehören nun zu den größten Pharmaproduzenten der Welt. Wer immer auf dem Stuhl Ihres Vaters sitzen wird, bei dem liegen die Entscheidungen. Das ist eine verdammt große Verantwortung.«
Sie sah ihn an. Bedeutete er ihr damit auf seine Art, sie solle gefälligst von hier verschwinden? »Werden Sie mir behilflich sein?«
»Natürlich, Liz, das wissen Sie doch.«
Erleichtert atmete sie auf. Jetzt erst wurde ihr bewusst, wie sehr sie auf ihn gebaut hatte.
»Am besten«, hörte sie Rhys sagen, »fangen wir mit einer Tour durch das Haus hier an. Ist Ihnen eigentlich die Struktur des Unternehmens bekannt?«
»Kaum.«
Damit sagte sie nicht ganz die Wahrheit. Elizabeth hatte ihrem Vater in all den Jahren oft assistiert und so einen ungefähren Überblick gewonnen. Aber sie wollte mehr darüber erfahren, und zwar aus der Sicht von Rhys Williams.
»Also, zunächst einmal, Liz, wir produzieren weit mehr als nur Arzneimittel. Wir stellen Chemikalien, Parfüms, Vitamine, Haarsprays, Pflanzenschutzmittel her, aber auch Kosmetika und Bio-Elektronische Instrumente. Wir haben eine Nahrungsmittelabteilung und eine für tierische Produkte.« Elizabeth war das alles nicht unbekannt, aber sie ließ ihn reden. »Wir geben Ärztezeitschriften heraus, produzieren Klebstoffe, Bautenschutzmittel und Sprengstoffe.«
Elizabeth spürte, wie ihn die Aufzählung selbst in Bann schlug. Sie konnte in seiner Stimme Stolz mitschwingen hören und fühlte sich merkwürdig an ihren Vater erinnert.
»Roffe und Söhne haben Fabriken und HoldingGesellschaften in mehr als hundert Ländern. Jede ist dem Hauptquartier verantwortlich und hat hier Rechenschaft abzulegen.« Er schwieg einen Moment, wohl um die Bedeutung seiner Worte zu unterstreichen. »Der alte Samuel fing mit einem Pferd und einem Teströhrchen an. Daraus sind inzwischen sechzig über die Welt verstreute Fabriken geworden, außerdem zehn Forschungszentren und ein dichtes Vertriebsnetz mit Tausenden von Vertretern und Reisenden, die Ärzte und Krankenhäuser besuchen und sie mit den neuesten Produkten vertraut machen.« Das war Elizabeth bekannt. »Letztes Jahr wurden in den Vereinigten Staaten allein über vierzehn Milliarden Dollar für Pharmaka ausgegeben, und an diesem Markt haben wir einen beträchtlichen Anteil.«
Und trotz alledem, dachte Elizabeth, waren Roffe und Söhne in finanziellen Schwierigkeiten. Irgend etwas war faul.
Rhys unternahm mit Elizabeth eine Exkursion durch die Anlagen des Hauptquartiers. In Wirklichkeit handelte es sich bei dem Züricher Unternehmenszweig um ein Dutzend Fabriken und insgesamt fünfundsiebzig Gebäude auf dem sechzig Morgen großen Konzerngelände. Es war wie eine Welt für sich, nach außen hin abgeschlossen und völlig autark. Sie besuchten die Herstellungsbetriebe, Forschungsabteilungen und Lagerhallen. Rhys führte Elizabeth in ein großes Atelier, wo Filme für Forschungsund Werbezwecke hergestellt wurden. »Hier verbrauchen wir mehr Filmmaterial«, erläuterte Rhys, »als die großen Studios in Hollywood.«
Sie besuchten die Abteilung für biologische Untersuchungen und die Abfüllanlage, wo fünfzig gigantische Tanks aus Stahl und Glas von der Decke herabhingen, mit Flüssigkeiten, die nur noch auf Flaschen gezogen werden mussten. Sie beobachteten die Tablettenfertigung, wo Pillen geformt, mit Aufklebern »Roffe und Söhne« versehen, verpackt und etikettiert wurden, ohne dass sie auch nur eine menschliche Hand berührte. Manche Tabletten unterlagen der Rezeptpflicht, andere wiederum waren frei verkäuflich.
Etwas abseits vom Hauptgebäude standen ein paar kleinere Häuser. Dort waren die Wissenschaftler am Werk: Chemiker und Biologen, mit der Grundlagenforschung befasst.
»Über dreihundert Wissenschaftler sind hier tätig«, erläuterte Rhys. »Die meisten sind Professoren. Möchten Sie mal unsere >Hundert-Millionen-Dollar-Krypta< sehen?«
Elizabeth nickte gespannt.
Sie gingen zu einem isoliert stehenden, von einem bewaffneten Posten bewachten Backsteinbau. Rhys zeigte seinen Hausausweis vor, und sie durften einen langen Korridor betreten, der am Ende von einer schweren Stahltür versperrt war. Zum Öffnen benötigte der Wärter zwei Schlüssel. Elizabeth und Rhys traten ein. Der Raum hatte keine Fenster. Die Wände waren vom Boden bis zur Decke mit Gestellen versehen, gefüllt mit ganzen Batterien von Flaschen, Töpfen und Tuben in allen nur erdenklichen Größen und Formen.
»Warum heißt das >Hundert-Millionen-Dollar-Krypta« erkundigte sich Elizabeth.
»Weil das, was Sie hier sehen, soviel gekostet hat. Schauen Sie sich doch bloß mal die Sachen auf den Regalen an. Keines dieser Produkte trägt einen Namen; es gibt nur Nummern. Das sind unsere Versager, wenn Sie so wollen. Pharmazeutische Erzeugnisse, die nicht verkäuflich waren.«
»Aber hundert Millionen -«
»Auf jedes neue Heilmittel, das beim Verbraucher ankommt, entfallen ungefähr tausend Versuchsballons. An manchen Mitteln wird bis zu zehn Jahren gearbeitet, bevor man es auf den Markt bringt. Ein einziges Medikament kann fünf, ja sogar zehn Millionen Dollar für Forschung und Erprobung verschlingen, bis wir feststellen, ob die Produktion einen Sinn hat oder ob vielleicht sogar jemand anders uns zuvorgekommen ist. Wir werfen grundsätzlich nichts weg. Ab und an kommt einer unserer jungen Genies auf die Idee, ein längst vergessenes Produkt aus dem Bau hier hervorzukramen, er entwickelt es weiter und entdeckt plötzlich eine Goldmine.«
Dennoch ließ der hohe Betrag Elizabeth erschauern. »Kommen Sie«, mahnte Rhys. »Jetzt zeige ich Ihnen den >Verlust-Bunker<.«
Das war wieder ein anderes Gebäude, diesmal unbewacht. Auch dort waren nur Gestelle mit Flaschen, Töpfen und Tuben zu sehen.
»Hier geht uns ebenfalls ein Vermögen durch die Lappen«, sagte Rhys. »Allerdings ist das so beabsichtigt.«
»Das versteh’ ich nicht«, warf Elizabeth ein.
Rhys ging an ein Regal und nahm eine Flasche in die Hand. Auf dem Etikett stand: Botulismus. »Wissen Sie, wie viele Fälle von Fleischvergiftung im letzten Jahr in den Vereinigten Staaten aufgetreten sind? Ganze fünfundzwanzig. Uns aber kostet es Millionen von Dollar, um dieses Gegenmittel in Produktion zu halten.« Wahllos griff er einen anderen Behälter heraus. »Das ist ein Mittel gegen Tollwut. Der ganze Raum hier ist voller Medikamente gegen selten auftretende Krankheiten, Schlangenbisse, giftige Pflanzen und ähnliches. Wir liefern sie kostenlos an die Streitkräfte, Krankenhäuser und an staatliche Institutionen.«
»Das gefällt mir«, fiel Elizabeth ein. Dem alten Samuel hätte es gleichfalls gefallen, dachte sie.
Rhys führte Elizabeth in einen anderen Raum. Leere Flaschen wurden auf einem riesigen Fließband transportiert. Ehe sie den Raum am anderen Ende wieder verließen, waren alle sterilisiert, mit Kapseln gefüllt, etikettiert, am Hals mit Watte abgedichtet und verschlossen worden, und das völlig automatisch.
Ferner gab es eine Glasbläserei, ein Architekturbüro für die Planung neuer Bauten und eine Liegenschaftsabteilung für die notwendige Grund-und-Boden-Beschaffung. In einem Haus waren Dutzende von Textern mit Werbebroschüren beschäftigt, die in fünfzig verschiedenen Sprachen veröffentlicht wurden; in einem anderen befanden sich die dafür notwendigen Druckmaschinen.
Einige Abteilungen ließen Elizabeth an George Orwells »1984« denken. Die sterilen Sääle waren in geisterhaftes Ultraviolett-Licht getaucht, die Nebenräume verschiedenfarbig angemalt: weiß, grün, blau, und die dort Beschäftigten trugen jeweils farblich abgestimmte Kittel. Wenn einer den Raum verließ oder betrat, musste er jedes Mal eine Sterilisationsschleuse passieren. Die Blauen waren den ganzen Tag über eingeschlossen. Wenn sie essen gehen, sich ausruhen oder zur Toilette wollten, mussten sie sich entkleiden, eine neutrale grüne Zone passieren und andere Kleidung anlegen. Auf dem Rückweg war es dann umgekehrt.
»Hier ist noch etwas, das Sie bestimmt interessieren wird«, sagte Rhys. Sie gingen einen grauen Korridor in einem Forschungsgebäude entlang und kamen an eine Tür mit der Warnung: Eintritt verboten. Rhys stieß sie auf, und sie traten ein. Sie kamen durch eine zweite Tür, und dann fand Elizabeth sich in einem schwach beleuchteten Raum, der Hunderte von Käfigen mit den verschiedensten Tieren beherbergte. Es war heiß und unangenehm feucht, und Elizabeth meinte, plötzlich in einen Dschungel versetzt zu sein. Als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnten, konnte sie Affen, Hamster, Katzen und weiße Mäuse erkennen. Viele der Tiere waren von obszön anmutenden Geschwüren an den verschiedensten Körperteilen befallen. Einige hatten rasierte Köpfe und trugen Kronen aus Elektroden, die ihnen ins Hirn gepflanzt worden waren. Manche Tiere kreischten und winselten, rasten wie verrückt in ihren Käfigen umher, andere lagen wie im Koma oder lethargisch da. Der Krach und der Gestank waren unerträglich. Elizabeth trat an einen Käfig heran, in dem sich ein einzelnes weißes Kätzchen befand. Das Gehirn des Jungtiers war offengelegt; statt der Schädeldecke hatte es auf dem Kopf nur eine durchsichtige Plastikhülle, durchbohrt von einem halben Dutzend Drähten.
»Was - was geschieht denn hier?« Elizabeth war entsetzt.
Ein hochgewachsener, bärtiger junger Mann, der vor einem Käfig stand und sich Notizen machte, antwortete ihr. »Wir testen hier ein neues Beruhigungsmittel.«
»Hoffentlich wirkt es«, brachte Elizabeth heraus. »Schätze, genau das könnte ich jetzt gebrauchen.« Ehe ihr vollends schlecht wurde, verließ sie fluchtartig den Raum.
Im Flur holte Rhys sie ein. »Sind Sie okay?«
Sie holte tief Luft. »Ja, es geht mir besser. Sind diese Experimente wirklich nötig?«
Rhys sah sie an. »Diese Versuche retten unzähligen Menschen das Leben. Mehr als ein Drittel aller Menschen, die nach 1950 geboren wurden, verdanken der modernen Pharmakologie ihr Leben. Das müssen Sie sich einmal vorstellen.«
Elizabeth versuchte es.
Allein für die Besichtigung der wichtigsten Gebäude und Anlagen benötigte sie sechs volle Tage. Danach war sie völlig fertig und meinte, der Kopf müsste ihr platzen. Und bei alledem wusste sie: Das war nur eine der Roffe-Niederlassungen. Es gab noch Dutzende anderer rund um den Globus.
Fakten und Zahlen waren imponierend. »Man braucht mindestens fünf bis zehn Jahre, um ein neues Mittel zu entwickeln und auf den Markt zu bringen, und von jeweils zweitausend getesteten bleiben im Durchschnitt nur drei übrig«, hatte man ihr erklärt.
Und: »Bei Roffe und Söhne sind allein dreihundert Menschen mit der Qualitätskontrolle beschäftigt.«
Und: »Weltweit arbeiten bei Roffe und Söhne über eine halbe Million Angestellte.«
Und: »Unser Gesamtumsatz betrug im letzten Jahr...«
Elizabeth hatte aufmerksam zugehört, hatte versucht, die unvorstellbaren Zahlen zu verdauen, mit denen Rhys sie fütterte. Sie hatte gewusst, dass der Konzern groß war, aber dieses »groß« war ihr immer als anonymer Begriff erschienen. Nun wurde das Wort in Menschen und Geld umgesetzt, und das Ergebnis war überwältigend.
In dieser Nacht nach dem sechsten Tag, als Elizabeth schlaflos im Bett lag und alles noch einmal durchdachte, überkam sie das Gefühl hilfloser Unzulänglichkeit.
Ivo: »Glaube mir, cara, du überlässt das alles am besten uns. Von diesen Dingen verstehst du nichts.«
Alec: »Ich fürchte, ich bin auch dafür, altes Mädchen.«
Walther: »Warum willst du dir unnötige Mühe machen? Du kannst gehen, wohin du willst, und das Leben in vollen Zügen genießen.«
Und sie hatten recht. Alle hatten recht. Davon war Elizabeth jetzt überzeugt. Ich verschwinde, beschloss sie. Und die können mit dem Konzern machen, was sie wollen. Ich gehöre einfach nicht hierher, nicht in diese Position.
Da sie nun den Entschluss gefasst hatte, überfiel sie unendliche Erleichterung. Und auf der Stelle schlief sie ein.
Am nächsten Tag, einem Freitag, stand ein verlängertes Feiertagswochenende bevor. Sobald Elizabeth im Büro war, ließ sie nach Rhys schicken, um ihm ihren Entschluss mitzuteilen.
»Mr. Williams musste gestern abend plötzlich nach Nairobi fliegen«, informierte Kate Erling sie. »Er ist Dienstag zurück, soll ich Ihnen ausrichten. Kann Ihnen sonst jemand behilflich sein?«
Elizabeth zögerte. »Stellen Sie doch bitte eine Verbindung mit Sir Alec her.«
»Sofort, Miss Roffe.« Und nach leichtem Zögern: »Von der Polizei wurde heute morgen ein Paket für Sie abgegeben. Es enthält die persönliche Habe, die Ihr Herr Vater in Chamonix bei sich hatte.«
Bei der Erwähnung von Sam spürte sie ihren Verlust erneut wie einen scharfen Schmerz.
Kate Erling war noch nicht fertig. »Die Polizei entschuldigte sich auch, dass sie die Sachen Ihrem Beauftragten nicht mehr aushändigen konnte. Sie waren zu der Zeit schon unterwegs.«
Elizabeth zog die Augenbrauen hoch. »Welchem Beauftragten?«
»Dem Mann, den Sie nach Chamonix geschickt haben, damit er die Sachen abholt.«
»Ich habe niemanden nach Chamonix geschickt.« Offenbar handelte es sich um ein Missverständnis. »Wo ist das Paket?«
»Ich habe es in Ihren Schrank gelegt.«
Elizabeth fand einen Vuitton-Koffer mit Sams Kleidungsstücken und einen verschlossenen Aktenkoffer. Der Schlüssel war mit Klebeband an der Seite befestigt worden. Offenbar Geschäftsunterlagen, dachte Elizabeth. Die sollte Rhys durchsehen. Dann fiel ihr ein, dass Rhys verreist war. Na schön, sie selbst würde das Wochenende über auch verreisen. Sie betrachtete den Aktenkoffer. Vielleicht enthält er persönliche Papiere von Sam, dachte sie. Ich gehe sie lieber erst selber durch.
Kate Erling meldete sich über die Sprechanlage. »Tut mir leid, Miss Roffe, Sir Alec ist nicht im Büro.«
»Hinterlassen Sie ihm bitte, er möchte mich zurückrufen. Ich werde in der Villa auf Sardinien zu erreichen sein. Und dieselbe Nachricht geben Sie bitte weiter an die Herren Palazzi, Gassner und Martel.«
Sie würde ihnen erklären, dass sie aufgab, dass sie ihre Anteile veräußern und mit dem Konzern machen konnten, was ihnen beliebte.
Auf das lange Wochenende freute sie sich ganz besonders. Die Villa war ihre Fluchtburg, ein Kokon, in den sie sich verkriechen konnte. Da war sie allein, konnte über sich und die Zukunft nachdenken. Die Ereignisse hatten sie einfach überrollt und ihr keine Gelegenheit gegeben, die Dinge in die richtigen Proportionen zu bringen. Sams Unfall - Elizabeth konnte sich immer noch nicht an das endgültige Wort »Tod« gewöhnen -, ihre Erbschaft der Mehrheitsanteile und damit die Schlüsselposition in der Firma, der Druck seitens der Familie, die Konzernaktien auf den Markt zu bringen. Und dann der Konzern selbst, der furchteinflößende Herzschlag eines Giganten, dessen Kraft die ganze Welt umspannte. Das alles war zuviel.
Als Elizabeth am späten Nachmittag nach Sardinien flog, hatte sie den Aktenkoffer bei sich.