Julius Badrutt war ein dünner, spröder Mann, der aussah wie ein antiker Gottesanbeter in einem modernen schwarzen Geschäftsanzug. Wie das unbeholfen gezeichnete Strichmännchen eines Kindes mit eckigen Armen und Beinen und obendrauf einem unfertigen Gesicht: so sah der Bankier Julius Badrutt aus. Steif saß er im Konferenzsaal von Roffe und Söhne, das Gesicht Elizabeth zugekehrt. In seiner Gesellschaft befanden sich fünf weitere Bankiers. Alle trugen schwarze Anzüge mit Westen, weiße Hemden, dunkle Krawatten. Elizabeth dachte, sie wirkten nicht angezogen wie normale Leute, sondern wie Soldaten in Uniform. Der Reihe nach betrachtete sie die Gesichter am Tisch, kalte, passive Mienen, und sie bekam ungute Gefühle. Vor Beginn der Sitzung hatte Kate ein Tablett hereingebracht: Kaffee und köstliches frisches Gebäck. Die Besucher hatten alle abgelehnt. Ebenso, wie sie vorher Elizabeths Einladung zum Lunch zurückgewiesen hatten. Das war ein schlechtes Zeichen, stellte sie für sich fest. Die suchten hier nur eins: das Geld, das man ihnen schuldete.
Elizabeth eröffnete die Sitzung mit ausgesuchter Höflichkeit. »Zunächst einmal möchte ich Ihnen danken, dass Sie sich heute hierherbemüht haben.«
Die Antwort bestand aus einem höflichen Gemurmel.
Elizabeth holte tief Luft. »Ich habe Sie hergebeten, um mit Ihnen eine Fristverlängerung der Darlehen zu erörtern, die Sie Roffe und Söhne gewährt haben.«
Julius Badrutt schüttelte den Kopf, eine kleine energische Bewegung. »Es tut mir außerordentlich leid, Miss Roffe. Unsere Entscheidung ist bereits Ihrem -«
»Ich bin noch nicht fertig«, unterbrach ihn Elizabeth.
Sie blickte demonstrativ in die Runde. »An Ihrer Stelle, meine Herren, würde ich ablehnen.«
Einen Moment lang waren sie verwundert, dann suchten sie sich untereinander mit Blicken zu verständigen; ihre Mienen spiegelten Verwirrung wider.
Elizabeth fuhr fort: »Wenn Sie schon Angst um Ihr Geld hatten, als mein Vater noch lebte, und der war als zuverlässiger, vertrauenswürdiger Geschäftsmann bekannt, warum sollten Sie dann Ihr Geld einer Frau anvertrauen, die in dem Geschäft völlig unerfahren ist?«
Julius Badrutt fiel trocken ein: »Damit haben Sie, möchte ich meinen, den Nagel auf den Kopf getroffen, Miss Roffe. Wir haben nicht die Absicht, die -«
Wieder unterbrach ihn Elizabeth. »Ich bin noch nicht zu Ende.«
Sie beäugten sie jetzt argwöhnisch, offensichtlich keineswegs mehr so sicher, woran sie mit ihr waren. Sie wiederum sah jeden einzelnen an, versicherte sich ihrer vollen Aufmerksamkeit. Das also waren die Schweizer Bankiers, bewundert, geachtet und beneidet von den Kollegen in der Finanzwelt. Alle saßen jetzt nach vorn gebeugt, hörten genau zu. Die Langeweile und Ungeduld auf ihren Mienen hatte sich in reine Neugier verwandelt.
»Für Sie alle hier sind Roffe und Söhne ein Begriff, seit vielen Jahren«, fuhr Elizabeth fort. »Ich bin sicher, die meisten von Ihnen kannten meinen Vater persönlich, und in diesem Fall haben Sie ihm bestimmt Respekt entgegengebracht.«
Von einigen kam zustimmendes Nicken.
»Und ich kann mir vorstellen, dass Ihnen, meine Herren, übel wurde, als Sie erfuhren, ich würde hier seinen Platz einnehmen.«
Einer der Bankiers lächelte, brach dann in lautes Lachen aus und sagte: »Da haben Sie vollkommen recht, Miss Roffe. Ich möchte nicht ungalant sein, aber ich denke, ich spreche für uns alle hier, wenn ich feststelle, dass - wie waren doch Ihre Worte? - uns das übel aufgestoßen ist.«
Elizabeth brachte ein bezauberndes Lächeln zustande. »Und ich kann Ihnen das gar nicht verübeln. Im Gegenteil, mir wäre es an Ihrer Stelle ähnlich ergangen.«
Ein anderer Bankier ließ sich vernehmen. »Eins macht mich neugierig, Miss Roffe. Da wir uns alle über das Ergebnis dieses Treffens einig zu sein scheinen« - er breitete die Hände vielsagend aus -, »warum sind wir dann überhaupt hier?«
Elizabeth sah ihn an. »Sie sind hier, meine Herren, weil in diesem Raum in diesem Augenblick einige der größten Bankiers der Welt versammelt sind. Ich kann einfach nicht glauben, dass Sie alle Ihre außergewöhnlichen Erfolge damit errungen haben, immer nur auf Dollars und Cents erpicht zu sein. Wenn dem so wäre, könnte jeder beliebige Buchhalter das Geschäft für Sie führen, was bedeutet, dass zum großen Bankier viel mehr gehört.«
»Natürlich tut es das, Miss Roffe«, murmelte einer der Bankiers, »aber wir sind nun einmal Geschäftsleute, und -«
»Und Roffe und Söhne ist ein Geschäft. Und was für eins! Ein gigantisches Unternehmen, meine Herren. Ich habe das selbst erst ganz begriffen, als ich den Platz meines Vaters einnahm. Bis dahin hatte ich keine Ahnung, wie viele Menschen in allen Ländern der Erde diesem Konzern ihr Leben verdanken. Ich wusste nichts von dem enormen Beitrag, den wir für die moderne Medizin geleistet haben. Oder davon, wie viele Existenzen von dem Konzern abhängen. Wenn -«
Julius Badrutt verlor die Geduld. »Das ist alles sehr lobenswert, aber wir scheinen vom Thema abzukommen.
Soviel ich weiß, ist Ihnen empfohlen worden, Geschäftsanteile zu veräußern, um dadurch Geldmittel flüssig zu machen, das heißt, um allen unseren Forderungen nachzukommen.«
Sein erster Fehler, dachte Elizabeth: Soviel ich weiß, ist Ihnen empfohlen worden...
Der Vorschlag war in einer Direktoriumssitzung gemacht worden, wo alle zur Vertraulichkeit verpflichtet sind. Jemand aus der Runde musste geplaudert haben. Und zwar jemand, der versuchte, sie unter Druck zu setzen. Sie hatte fest vor, die Person zu entlarven, aber das musste warten.
»Ich möchte Ihnen eine Frage stellen«, fuhr Elizabeth fort. »Wenn Ihre Forderungen befriedigt werden, würde es Ihnen dann etwas ausmachen, woher das Geld käme?«
Julius Badrutt betrachtete sie aufmerksam, ließ sich ihre Frage durch den Kopf gehen, suchte nach einer Falle. Schließlich antwortete er: »Nein. Nicht, solange wir bekommen, was uns zusteht.«
Elizabeth lehnte sich vor. Sie sprach sehr bedächtig, legte alle Überzeugungskraft in ihre Worte. »Es spielt also keine Rolle, ob Ihre Forderungen aus dem Erlös von Aktienverkäufen beglichen werden oder aus konzerneigenen Mitteln? Sie alle hier wissen, dass Roffe und Söhne die Tore nicht zumachen werden. Nicht heute, auch morgen nicht, nie. Und ich bitte Sie nur um das Entgegenkommen, dem Konzern ein wenig mehr Zeit einzuräumen.«
Julius Badrutt verursachte mit seinen dünnen, trockenen Lippen ein schmatzendes Geräusch. »Glauben Sie mir, Miss Roffe, wir alle hegen Ihnen gegenüber die größten Sympathien. Wir wissen, welchem Stress Sie ausgesetzt sind, aber wir können nicht -«
»Drei Monate«, warf Elizabeth ein. »Neunzig Tage. Wobei Sie selbstverständlich noch einmal zusätzliche Verzugszinsen bekommen.«
Schweigen herrschte in der Runde. Ablehnendes Schweigen. Elizabeth sah in die kalten, feindseligen Gesichter. Sie entschied sich zu einem letzten, verzweifelten Versuch.
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen dies überhaupt enthüllen darf«, hob sie mit gewelltem Zögern an, »und ich muss Sie bitten, absolutes Stillschweigen zu bewahren.«
Sie sah sich in der Runde um und bemerkte, dass sie wieder die volle Aufmerksamkeit besaß. »Roffe und Söhne stehen unmittelbar vor einem Durchbruch, der die gesamte pharmazeutische Industrie revolutionieren wird.« Sie legte eine Pause ein, der höheren Spannung wegen. »Unser Konzern ist dabei, ein neues Präparat auf den Markt zu bringen, das nach unseren Vorstellungen den Umsatz jedes anderen Mittels, das heute existiert, bei weitem übertreffen wird.«
Sie fühlte förmlich, wie sich die Atmosphäre wandelte.
Und es war Julius Badrutt, der als erster nach dem Köder schnappte. »Was - äh - worum - was für eine Art Mittel -«
Elizabeth schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Herr Badrutt. Wahrscheinlich habe ich ohnehin schon zuviel gesagt. Ich kann Ihnen lediglich versichern, dass es sich um die größte Errungenschaft in der Geschichte dieses Unternehmens handelt. Es wird eine gewaltige Ausdehnung unserer Produktionsanlagen mit sich bringen. Wir werden sie verdoppeln, möglicherweise verdreifachen müssen. Selbstverständlich werden wir dann in großem Umfang neue Finanzierungen benötigen.«
Die Bankiers tauschten stumme Blicke aus. Das Schweigen wurde schließlich von Badrutt gebrochen. »Gesetzt den Fall, wir gewähren Ihnen eine Fristverlängerung um neunzig Tage, dann erwarten wir aber auch die erste Option auf alle künftigen finanziellen Transaktionen von Roffe und Söhne.«
»Selbstverständlich.«
Wieder der Austausch vielsagender Blicke.
»Und wir hätten Ihre Zusicherung«, fuhr Badrutt fort, »dass mit Ablauf der neunzig Tage alle unsere offenstehenden Forderungen voll befriedigt werden?«
»Ja.«
Badrutt saß ganz still und starrte ins Leere. Dann sah er Elizabeth an, danach seine Kollegen. »Also«, meinte er schließlich, »ich für meinen Teil bin bereit, diese Abmachung zu akzeptieren. Ich glaube, einem Aufschub, mit zusätzlichen Säumniszinsen, versteht sich, könnten wir zustimmen.«
Einer der anderen Bankiers nickte. »Wenn Sie meinen, wir sollten mitmachen, Julius...«
Und es war geschafft. Elizabeth lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, war bemüht, sich nichts von der enormen Erleichterung anmerken zu lassen, die sie empfand. Sie hatte neunzig Tage Aufschub gewonnen.
Und davon würde sie jede Minute brauchen.