Elizabeth fand Aufnahme im Chäteau Lemand, einer Schule für Mädchen, oberhalb des Neuenburger Sees im Dorf Sainte-Blaise gelegen. Die jungen Damen waren zwischen vierzehn und achtzehn Jahre alt. Es handelte sich um eine der besten Internatsschulen, die das vielgepriesene Schweizer Erziehungssystem aufzuweisen hat.
Jede Minute ihres Aufenthalts dort war Elizabeth ein Greuel.
Sie fühlte sich im Exil. Man hatte sie von zu Hause vertrieben, und ihr kam das wie eine drakonische Strafe vor für ein Verbrechen, das sie gar nicht begangen hatte. An jenem himmlischen Abend in New York hatte sie geglaubt, an der Schwelle einer neuen, wundervollen Zeit zu stehen, endlich mit ihrem Vater vereint zu sein und es erreicht zu haben, dass sie beide Freunde wurden. Nun aber war er weiter von ihr entfernt als je zuvor.
Seine Spuren kreuz und quer durch die Welt konnte sie in den Zeitungen verfolgen. Nur allzuoft erschienen Berichte über ihn oder Fotos, die ihn mit einem Premierminister oder Präsidenten zeigten oder bei der Eröffnung einer neuen Pharma-Fabrik in Bombay, beim Bergsteigen und beim Galadiner mit dem Schah von Persien. Elizabeth schnitt alle Berichte aus und klebte sie in ein Album, über dem sie stundenlang sitzen konnte. Das Album teilte sein Versteck mit dem Buch über Samuel.
Von den anderen Schülerinnen hielt sie sich nach Möglichkeit fern. Einige Mädchen schliefen zu dritt oder viert in einem Raum, Elizabeth aber hatte gleich um ein Einzelzimmer gebeten. Dort schrieb sie lange Briefe an ihren Vater und zerriss sie sofort, wenn sie zuviel von ihren Gefühlen preisgaben. Hin und wieder bekam sie eine kurze Nachricht von ihm, und an ihren Geburtstagen brachte die Post hübsche Päckchen aus exklusiven Läden, abgeschickt von der Sekretärin ihres Vaters. Sie vermisste ihn entsetzlich.
Weihnachten sollte sie mit ihm zusammen in der Villa auf Sardinien feiern. Je näher das Fest rückte, desto unerträglicher erschien ihr das Warten. Vor Aufregung wurde ihr schlecht. Sie dachte sich eine Art Verhaltenskodex für ihr Zusammensein aus und brachte ihre Entschlüsse gewissenhaft zu Papier:
Aufdringlichkeit vermeiden.
Als Gesprächspartnerin interessant machen.
Über nichts beklagen, vor allem nicht über die Schule.
Nicht merken lassen, wie einsam ich mich fühle.
Ihn nicht beim Reden unterbrechen.
Auf gute Manieren achten, auch beim Frühstück.
Viel lachen, damit er sieht, wie glücklich ich bin.
Die Notizen waren wie ein Gebet, eine Litanei, ihr persönliches Opfer an die Götter. Wenn sie all das beachtete, vielleicht vielleicht... Elizabeths Vorsätze mündeten in bunte Phantasien. Sie würde treffende, kluge Bemerkungen über die dritte Welt und die Entwicklungsländer machen. Dann würde ihr Vater sagen: »Ich wusste gar nicht, wie interessant man sich mit dir unterhalten kann.« (Regel Nummer zwei.) »Du hast ein helles Köpfchen, Elizabeth, wirklich.« Dann würde er sich an seine Sekretärin wenden und sagen: »Eigentlich ist es völlig überflüssig, Elizabeth weiter in die Schule zu schicken. Ich behalte sie lieber hier bei mir.«
Elizabeths Vorweihnachtsgebet.
Ein konzerneigener Learjet nahm sie in Zürich an Bord und brachte sie nach Olbia auf Sardinien. Am Flughafen wurde sie von einer Limousine abgeholt. Elizabeth saß im Fond, ganz still, mit zusammengepressten Knien, damit ihre Beine nicht zitterten. Was auch immer geschieht, nahm sie sich vor, er soll mich nicht heulen sehen. Er darf nie erfahren, wie sehr ich mich nach ihm sehne.
Der Wagen fuhr die lange, kurvenreiche Bergstraße zur Costa Smeralda hinauf, bog dann ab in die enge Gipfelstraße. Hier hatte Elizabeth immer Angst gehabt. Die Straße war sehr schmal und mit Haarnadelkurven gespickt. Auf der einen Seite ragte eine steile Felswand, auf der anderen Seite, unmittelbar am Straßenrand, gähnte der tiefe Abgrund.
Schließlich hielt die Limousine vor dem Haus. Elizabeth stieg aus und eilte zur Tür, so schnell sie konnte. Vor ihr öffnete sich die Haustür. Auf der Schwelle stand lächelnd Margherita, die sardische Haushälterin. »Willkommen, Miss Elizabeth!«
»Wo ist mein Vater?«
»Er musste ganz plötzlich nach Australien, eine dringende Angelegenheit. Aber er hat viele schöne Geschenke für Sie dagelassen. Ach, Miss Elizabeth, das wird ein wunderschönes Weihnachtsfest!«