7. Kapitel

Der Tag, an dem Elizabeth Rowane Roffe geboren wurde, markierte eine doppelte Tragödie. Das kleinere Übel war, dass Elizabeths Mutter bei der Entbindung starb; das größere die Tatsache, dass ein Mädchen zur Welt gekommen war.

Neun Monate lang, bis sie aus der Dunkelheit des Mutterschoßes ans Licht gelangte, war sie das auf der Welt am sehnlichsten erwartete Kind: Erbe eines kolossalen Imperiums, des Multi-Milliarden-Dollar-Riesen Roffe und Söhne.

Sam Roffes Frau Patricia war eine dunkelhaarige Frau von ungewöhnlicher Schönheit. Viele Frauen hatten versucht, Sam einzufangen, begierig auf seine Stellung, sein Prestige und sein Vermögen. Patricia hatte ihn geheiratet, weil sie in ihn verliebt war. Wie es sich herausstellte, war das der schlechteste aller Gründe. Sam Roffe war auf ein rein geschäftliches Arrangement ausgewesen, und Patricia erschien ihm für seine Zwecke ideal. Sam besaß weder die Zeit, noch hegte er den Wunsch nach einem harmonischen Familienleben. In seinem Dasein gab es für nichts Platz außer fürs Geschäft. Geradezu fanatisch diente er dem Konzern, und nicht weniger erwartete er von den Menschen seiner Umgebung. Für ihn lag Patricias Bedeutung allein in dem Beitrag, den sie dem Unternehmen zu leisten vermochte. Als ihr aufging, auf welche Art von Ehe sie sich eingelassen hatte, war es zu spät. Sam übertrug ihr eine Rolle, und sie spielte sie tadellos. Das hieß: Sie war eine perfekte Gastgeberin, die perfekte Ehefrau. Von ihrem Mann empfing Patricia keine Liebe, und mit der Zeit lernte sie, auch selbst keine zu geben. Statt dessen diente sie Sam und war ebenso eine Angestellte von Roffe und Söhne wie die kleinste Sekretärin. Allerdings hatte sie vierundzwanzig Stunden am Tag Bereitschaftsdienst, war jederzeit auf dem Sprung, an jeden Ort der Welt zu fliegen, wo immer Sam ihrer bedurfte, um überall, im großen wie im kleinen Kreis, die wichtigsten Persönlichkeiten dieser Erde zu bewirten oder in allerkürzester Zeit ein glänzendes Diner für mehrere Gäste auf die Beine zu stellen. Patricia war ein Aktivposten des Betriebskapitals der Firma, wenngleich sie in keiner Bilanz auftauchte. Viel Mühe investierte sie darin, ihre Schönheit zu konservieren. Sie trieb unermüdlich Gymnastik, lebte Diät. Ihre Kleider wurden eigens für sie entworfen von Norell in New York, Chanel in Paris, Hartnell in London und der jungen Sybil Connolly in Dublin. Ihre erlesenen Juwelen stammten von Jean Schlumberger und Bulgari. Ihr Leben war ständig mit Verrichtungen ausgefüllt, aber dennoch freudlos und leer. Das alles änderte sich mit ihrer Schwangerschaft.

Sam Roffe war der letzte männliche Erbe der Dynastie, und Patricia wusste genau, wie sehr er sich nach einem Sohn sehnte. Er setzte sein ganzes Vertrauen in sie. Patricia war von nun an die Königinmutter, ganz und gar mit dem Baby in ihrem Leib beschäftigt, dem jungen Prinzen, der eines Tages das Reich erben würde. Als man sie in den Kreißsaal fuhr, umklammerte Sam ihre Hand und sagte nur: »Danke.«

Eine halbe Stunde später war sie an einer Embolie gestorben. Der Tod ereilte sie, bevor sie erfahren musste, dass sie die Erwartungen ihres Mannes enttäuscht hatte.

Für ein paar Stunden machte Sam Roffe sich von seinem unbarmherzigen Terminkalender frei, um seine Frau zu Grabe zu tragen. Dann wandte er sich dem Problem zu, was mit seiner Tochter geschehen sollte.

Eine Woche nach ihrer Geburt wurde Elizabeth nach Hause gebracht und einem Kindermädchen übergeben, der ersten in einer langen Reihe wechselnder Gouvernanten. In ihren ersten fünf Lebensjahren sah Elizabeth nur sehr wenig von ihrem Vater. Für sie war Sam Roffe kaum mehr als ein undeutlicher Fleck in der Landschaft, ein Fremder, der stets von irgendwo kam oder irgendwohin fuhr. Er war ständig unterwegs, und Elizabeth bedeutete dabei nichts als ein Ärgernis, das man halt mitschleppte wie ein im Grunde überflüssiges Gepäckstück. Einen Monat lebte sie in ihrem Haus auf Long Island, mit Bowlingbahn, Tennisplatz, Schwimmbad und Squashanlage. Ein paar Wochen später würde ihre Nanny plötzlich Elizabeths Siebensachen packen und das Kind in die Biarritzer Villa verfrachten. Dort warteten vierzig Zimmer und ein Grundstück von ungefähr dreißig Morgen auf sie. Elizabeth verlief sich ständig.

Außerdem besaß Sam Roffe ein geräumiges zweistöckiges Penthouse am New Yorker Beekman Place sowie eine weitere Villa an der Costa Smeralda auf Sardinien. Elizabeth reiste überallhin, wurde von Anwesen zu Anwesen gehetzt und wuchs inmitten einer verschwenderischen Pracht auf. Doch stets fühlte sie sich wie eine Außenseiterin, die aus Versehen in eine Geburtstagsparty schneite, ein Fest, veranstaltet von lieblosen Fremden.

Als sie älter wurde, lernte sie, was es hieß, die Tochter von Sam Roffe zu sein. Elizabeth ging es ähnlich wie ihrer Mutter, deren Seelenleben dem Konzern geopfert worden war. Wenn es für sie kein Familienleben gab, lag das daran, dass gar keine Familie existierte, nur bezahlte Ersatzkräfte und in undeutlicher Ferne der Mann, der sie gezeugt hatte und der an ihr keinerlei Interesse zu haben schien. Patricia hatte gelernt, sich der Situation anzupassen, aber für das Kind war es die reinste Hölle. Elizabeth fühlte sich unerwünscht und ungeliebt, und ihr war es nicht gegeben, mit der Hoffnungslosigkeit und inneren Leere fertig zu werden. Schließlich gab sie sich selbst die Schuld, dass niemand sie liebte. Verzweifelt versuchte sie, die Zuneigung ihres Vaters zu gewinnen. Als sie alt genug war, die Schule zu besuchen, fertigte sie im Unterricht Kleinigkeiten für ihn an, malte mit Wasserfarben kindliche Bilder. Ihre Geschenke hütete sie wie eine Glucke ihre Küken, um ihren Vater damit zu überraschen, wenn er von einer seiner Reisen zurückkam. Sie wollte ihn so gerne erfreuen, sehnte sich danach, ihn sagen zu hören: »Das ist aber schön, Elizabeth! Du zeigst wirklich Talent.«

Kam er dann und präsentierte Elizabeth ihm ihr Liebesopfer, blickte er nur abwesend hoch, nickte oder schüttelte den Kopf und meinte: »Na ja, eine Künstlerin wird aus dir wohl nicht gerade.«

Zuweilen wachte Elizabeth mitten in der Nacht auf und stieg die lange Wendeltreppe im Penthouse am Beekman Place hinab, lief durch die große höhlenartige Halle, die zum Arbeitszimmer ihres Vaters führte. Ehrfürchtig betrat sie den leeren Raum, als wäre er ein Tempel. Das war sein Zimmer, wo er arbeitete, wichtige Dokumente unterschrieb, kurz: die Welt regierte. Dann schlich sie an den riesenhaften Schreibtisch mit der lederbeschlagenen Platte und fuhr sanft mit den Händen darüber hinweg. Schließlich trat sie hinter den Schreibtisch und nahm in dem großen Ledersessel Platz. Dort endlich fühlte sie sich ihrem Vater näher. Es war, als würde sie zu einem Stück von ihm. In ihrer Einbildung führten sie lange Gespräche, und er hörte aufmerksam zu, nahm Anteil an ihren Sorgen und Problemen, die sie vor ihm ausbreitete. Eines Nachts, als Elizabeth wieder einmal im Dunkeln an seinem Schreibtisch saß, flammten plötzlich die Lichter auf. In der Tür stand ihr Vater. Er blickte Elizabeth an, die, nur mit einem dünnen Nachthemd bekleidet, an seinem Schreibtisch saß.

»Was, um Himmels willen, machst du hier allein im Dunkeln?« Er nahm sie in die Arme und trug sie nach oben, brachte sie zu Bett, und Elizabeth lag die ganze Nacht wach und dachte daran, wie ihr Vater sie im Arm gehalten hatte.

Nach diesem Erlebnis ging sie jede Nacht in sein Arbeitszimmer und wartete, dass er kam und sie holte, aber es geschah nie wieder.

Über ihre Mutter wurde niemals gesprochen, aber in der Eingangshalle hing ein wunderschönes Porträt von Patricia, das sie in ihrer ganzen Größe zeigte. Stundenlang konnte Elizabeth es betrachten. Dann stellte sie sich vor den Spiegel und verglich: hässlich. Ihre Zähne trugen Klammern, und der Mund sah aus wie ein Wasserspeier. Kein Wunder, dass ich meinem Vater gleichgültig bin, dachte sie.

Über Nacht entwickelte Elizabeth einen geradezu unstillbaren Appetit und setzte Fett an. Der Grund dafür war ganz einfach, das Ei des Kolumbus sozusagen: Solange sie dick und hässlich war, würde niemand von ihr erwarten, dass sie ihrer Mutter ähnelte.

Als Elizabeth zwölf war, schickte man sie in eine exklusive Privatschule in der East Side von Manhattan, oberhalb der Siebzigsten Straße. Jeden Morgen wurde sie vom Chauffeur im Rolls-Royce hingebracht, ging in ihre Klasse und saß dort still, ganz in sich gekehrt. Von nichts und niemandem um sie herum nahm sie Notiz. Sie meldete sich nie zu Wort, und wenn sie aufgerufen wurde, schien sie um eine Antwort verlegen. Bald gewöhnten sich ihre Lehrer an, sie einfach zu ignorieren. Wenn sie untereinander über Elizabeth sprachen, waren sie sich einig: Hier hatte man es mit einem der verzogensten Kinder zu tun, die ihnen jemals begegnet waren. In einem vertraulichen Jahresschlussbericht an die Schulleiterin konstatierte Elizabeths Klassenlehrerin:

»Elizabeth Roffe hat keinerlei Fortschritte gemacht. Sie hält sich von ihren Klassenkameradinnen fern und verweigert jede Gruppenaktivität. In der Schule hat sie keine einzige Freundin. Ihre Leistungen sind keineswegs zufriedenstellend, aber es ist schwer zu sagen, warum. Entweder gibt sie sich keine Mühe, oder sie ist geistig unfähig, den Stoff zu bewältigen. Außerdem benimmt sie sich arrogant und selbstsüchtig.

Handelte es sich bei ihrem Vater nicht um einen der wichtigsten Mäzene dieser Schule, würde ich energisch für ihren Ausschluss plädieren.«

Der Bericht verfehlte den eigentlichen Tatbestand um Lichtjahre. Die Wahrheit war ganz einfach: Elizabeth Roffe besaß keinen Schutzschild, keinen Panzer gegen die schreckliche, abgrundtiefe Einsamkeit, die ihr Leben umfing. Sie hatte ein derart stark ausgeprägtes Minderwertigkeitsgefühl, dass sie einfach davor zurückschreckte, sich mit jemandem anzufreunden, aus lauter Angst, die anderen könnten entdecken, dass sie gänzlich unnütz und der Liebe nicht wert sei. Sie war nicht arrogant, sondern auf fast pathologische Weise schüchtern. Ihr Gefühl sagte ihr, sie gehörte nicht in die Welt, in der sich ihr Vater bewegte. Im Grunde gehörte sie nirgendwohin. Sie verabscheute die tägliche Schulfahrt im Rolls-Royce in dem Bewusstsein, diesen Aufwand durch nichts verdient zu haben. Im Unterricht wusste sie sehr wohl alle Antworten auf die Fragen ihrer Lehrerinnen, aber sie wagte einfach nicht, das auch zu zeigen, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie war aufs Lesen versessen, lag bis tief in die Nacht wach und verschlang ein Buch nach dem anderen.

Großen Raum in ihrem Leben nahmen ihre Tagträume ein: herrliche Phantasiegebilde. Sie befand sich mit ihrem Vater in Paris, sie fuhren in der Pferdekutsche durch den Bois, und dann nahm er sie mit in sein Büro, einen riesigen Raum, so groß wie die St.-Patricks-Kathedrale an der Fifth Avenue. Immer wieder kamen Leute herein und brachten Dokumente zum Unterzeichnen, aber ihr Vater scheuchte sie alle ungeduldig fort und sagte: »Sehen Sie denn nicht, dass ich keine Zeit habe? Ich bin mit meiner Tochter Elizabeth beschäftigt.«

Der Vater und sie waren beim Skilaufen in der Schweiz, rasten Seite an Seite die Pisten hinab. Der eisige Wind peitschte ihnen ins Gesicht, und plötzlich stürzte ihr Vater, schrie vor Schmerz laut auf: Sein Bein war gebrochen. Und sie sagte: »Keine Angst, Papa! Ich sorge für dich.« Sie glitt auf ihren Skiern ins Tal, lief zum Krankenhaus. »Beeilen Sie sich, mein Vater hat sich verletzt.« Und ein Dutzend Männer in weißen Kitteln brachten ihn in einem Krankenwagen fort, und sie saß Tag und Nacht an seinem Bett und fütterte ihn (also hatte er sich wohl den Arm gebrochen, nicht das Bein), und ihre Mutter, seltsamerweise noch am Leben, kam ins Zimmer, und ihr Vater war ganz ungehalten: »Ich hab’ jetzt keine Zeit für dich, Patricia. Elizabeth und ich haben etwas zu bereden.«

Oder sie beide befanden sich in ihrer Villa auf Sardinien. Alle Hausangestellten hatten Ausgang, und Elizabeth bereitete ihm das Abendessen. Er nahm von jedem Gang zweimal und sagte: »Weißt du, Elizabeth, du bist eine viel bessere Köchin, als deine Mutter es je war.«

Diese Szenen mit ihrem Vater endeten immer gleich. Es klingelte an der Tür, und ein großer Mann, der ihren Vater beträchtlich überragte, kam herein und hielt um ihre Hand an. Ihr Vater aber flehte sie an: »Bitte, Elizabeth, verlass mich nicht, ich brauche dich doch!«

Und Elizabeth wies den Freier ab und blieb bei ihrem Vater.

Von allen Häusern und Wohnungen, in denen Elizabeth aufwuchs, war ihr die Villa auf Sardinien die liebste. Sie war keineswegs die größte, aber die farbenprächtigste von allen. Überhaupt fand Elizabeth Sardinien wundervoll, die Insel mit der dramatischen Felsenkulisse, dem herrlichen Panorama von Meer, Bergen und grünen Wiesen. Die riesigen Vulkanklippen waren vor Tausenden von Jahren aus dem Ur-Meer durch Eruption entstanden; die Küste schwang sich in einem gewaltigen Bogen, so weit das Auge reichte, und das Tyrrhenische Meer bildete den blauen Rahmen für das herrliche Stück Land.

Die Insel hatte für Elizabeth ihre eigenen, besonderen Düfte, den Geruch von Seebrise, den Wäldern, den herrlich leuchtenden Blumen und den übermannshohen Büschen, die zwischen den riesenhaften Korkeichen wuchsen, deren Borke auf das Festland verschifft wurde.

Stundenlang konnte Elizabeth den »singenden« Felsen lauschen, jenen geheimnisvollen Riesenbrocken mit dem Loch mittendrin. Wenn der Wind hindurchblies, drang ein gespenstisch schriller Laut heraus wie die Totenklagen verlorener Seelen.

Und die Winde wehten. Elizabeth kannte sie alle, konnte sie mit der Zeit genau unterscheiden: mistrale, ponente, tramontana, grecale und levante, sanfte Winde und wilde Stürme. Und dann der gefürchtete Schirokko, der warm von der Sahara herüberwehte. Die Roffesche Villa lag an der Costa Smeralda, oberhalb von Porto Cervo, auf einem Felsen hoch über dem Meer, abgeschieden durch Wacholderbüsche und wildwachsende sardische Olivenbäume. Von hier oben hatte man einen atemberaubenden Blick auf den Hafen weit, weit unten und die grünen Hügel rundum, bedeckt mit bunt durcheinandergewürfelten Häusern aus Stuck und Stein, farbig wie die Pastellzeichnung eines Kindes.

Die Villa war aus Stuck, innen mit gewaltigen Balken aus Wacholderstämmen. Sie war auf mehreren Ebenen erbaut, mit großen komfortablen Räumen, jeder mit Kamin und Balkon. Wohnhalle und Speisesaal waren mit Panoramafenstern ausgestattet, der Blick auf die Insel bot sich wie ein Breitwandgemälde dar. Eine freitragende Treppe führte zu den vier Schlafzimmern im Obergeschoß. Die Inneneinrichtung passte sich hervorragend der Landschaft an. Da standen große ländliche Refektoriumstische mit Holzbänken, aber auch weiche Sessel. An den Fenstern waren Vorhänge aus grober weißer Wolle angebracht, handgewebtes Erzeugnis der Insel, und die Fußböden waren mit farbenprächtigen Kacheln aus Sardinien oder der Toskana ausgelegt. In den Bädern und Schlafzimmern lagen einheimische Wollteppiche, gefärbt nach den ländlichen Methoden der Inselbevölkerung. Das ganze Haus war mit Gemälden französischer Impressionisten, alter italienischer Meister und sardischer Primitiver ausgestattet. In der Diele hingen Porträts von Samuel Roffe und Terenia Roffe, Elizabeths Ururgroßeltern.

Was sie jedoch am Haus am meisten liebte, war das Turmzimmer unter dem steil abfallenden Ziegeldach. Man erreichte es über eine enge Treppe vom zweiten Stock aus. Sam Roffe benutzte es als Arbeitszimmer. Das Turmzimmer war mit einem großen Schreibtisch und einem bequem gepolsterten Drehsessel möbliert. Die Wände waren vollgestellt mit Bücherregalen, dazwischen hingen große Landkarten mit Hinweisen auf das Roffe-Imperium. Glastüren führten auf einen kleinen Balkon direkt über einer schroff zum Meer abfallenden Felswand. Der Blick von dort aus war einzigartig.

In diesem Haus entdeckte Elizabeth, dreizehnjährig, die Wurzeln ihrer Familie. Und zum ersten Mal in ihrem Leben spürte sie, dass sie irgendwohin gehörte, dass sie Teil eines Ganzen war.

Es begann an dem Tag, als sie das Buch fand. Ihr Vater war nach Olbia gefahren, und Elizabeth kletterte in ihr geliebtes Turmzimmer. Die Bücher in den Regalen interessierten sie nicht, denn sie wusste längst, wovon die meisten handelten: von Pharmakologie, Heilkunde oder multinationalen Gesellschaften und Handelsrecht. Sie fand sie stumpfsinnig und langweilig. Ein paar seltene Manuskripte wurden hinter Glas aufbewahrt, ein medizinisches Werk auf lateinisch, betitelt »Circa Instanz«, das aus dem Mittelalter stammte, und ein zweites, das »De Materia Medica« hieß. Weil Elizabeth Latein lernte und auf die alten Ausgaben neugierig war, öffnete sie den Glaskasten und nahm ein Buch heraus. Dahinter war ein zweites versteckt, wie sie zu ihrer Überraschung feststellte. Sie zog es hervor, es war umfangreich, in rotes Leder gebunden und trug keinen Titel.

Elizabeths Neugier war geweckt. Sie schlug den Band auf, und es schien, als hätte sie das Tor zu einer anderen Welt aufgestoßen. Was sie vor sich sah, war eine Biographie ihres Ururgroßvaters Samuel Roffe, geschrieben in englischer Sprache und auf feinstem Pergament gedruckt, offensichtlich im Selbstverlag. Ein Autor war nicht genannt, ebensowenig ein Datum, aber Elizabeth war sicher, das Buch musste über hundert Jahre alt sein. Die meisten Seiten waren verblasst, andere vergilbt, vom Zahn der Zeit befallen. Aber das alles war unwichtig, nur der Inhalt zählte, eine Geschichte, die jene beiden Porträts in der Eingangshalle zum Leben erweckte. Hundertmal hatte Elizabeth die Bilder ihrer Ururgroßeltern betrachtet: ein altmodisch wirkendes Paar in fremdartiger Kleidung. Der Mann war nicht hübsch, aber sein Gesicht drückte Stärke und Intelligenz aus. Er hatte blondes Haar, hohe slawische Backenknochen und lebhafte hellblaue Augen. Die Frau war eine Schönheit: dunkles Haar, makelloser Teint und Augen so schwarz wie Kohle. Sie trug ein weißes Seidenkleid mit einem Überrock und einem Mieder aus Brokat.

Zwei Fremde, ohne Bedeutung für Elizabeth.

Aber jetzt, als sie allein im Turmzimmer saß und das Buch zu lesen begann, wurden Samuel und Terenia Roffe mit Leben erfüllt. Elizabeth war, als sei sie in eine andere Zeit versetzt. Sie lebte im Ghetto von Krakau, im Jahre 1853, bei den beiden. Als sie weiterlas und immer tiefer in das Geschehen eindrang, wurde ihr klar, dass ihr Ur-urgroßvater, der Gründer von Roffe und Söhne, ein Romantiker gewesen war, zudem ein Abenteurer.

Und ein Mörder.

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