30. Kapitel

Am nächsten Morgen um zehn Uhr klingelte Elizabeths Spezialtelefon. Am Apparat war Emil Joeppli. Sie hatte ihm die Nummer gegeben, damit niemand ihre Kommunikation entdeckte. »Ob Sie wohl mal bei mir reinschauen könnten?« Seine Stimme klang aufgeregt.

»In fünfzehn Minuten bin ich bei Ihnen.«

Als Elizabeth im Mantel aus ihrem Büro trat, sah Kate Erling überrascht auf. »Aber Sie haben einen Termin um -«

»Sagen Sie für die nächste Stunde alles ab.«

Am Eingang zum Forschungstrakt musste sie ihren Werksausweis vorzeigen. »Letzte Tür links, Miss Roffe«, informierte sie der Wächter.

Als sie hereinkam, war Joeppli allein in seinem Labor. Er begrüßte sie voller Enthusiasmus.

»Heute nacht habe ich die letzten Tests abgeschlossen. Es funktioniert! Die Enzyme hemmen den Alterungsprozess, und zwar so gut wie vollständig. Sehen Sie selbst.«

Er führte sie an einen Käfig mit vier jungen Kaninchen. Die Tiere hüpften aufgeregt herum, wirkten wie leibhaftige Energiebündel. Daneben stand ein zweites Gehege, ebenfalls mit vier Karnickeln, die aber viel ruhiger, gereifter wirkten.

»Das ist die fünfhundertste Generation, die mit den Enzymen behandelt wurde«, erläuterte Joeppli.

Elizabeth betrachtete die Tiere. »Sie wirken gesund und in Top-Form.«

Joeppli lächelte. »Das ist nur ein Teil der Testgruppe.« Er deutete auf den linken Käfig. »Das da sind die eigentlichen Senioren.«

Elizabeth starrte die quecksilbrigen Kaninchen an, die wie Jungtiere durch den Käfig fegten, und konnte es einfach nicht fassen.

»Die hier werden mindestens dreimal so alt wie ihre Kameraden nebenan«, verkündete Joeppli.

Wenn man das auf den Alterungsprozess des Menschen anwandte, waren die Konsequenzen gar nicht auszudenken. Elizabeth konnte ihre Erregung kaum unterdrücken.

»Wann - wann sind Sie soweit, dass Sie mit den Versuchen an Menschen beginnen können?«

»Ich stelle gerade die Endergebnisse zusammen. Danach noch etwa drei, vier Wochen, höchstens.«

»Sprechen Sie mit niemandem darüber!« warnte ihn Elizabeth.

Emil Joeppli nickte. »Seien Sie unbesorgt, Miss Roffe. Ich werde schweigen wie ein Grab.«

Der ganze Nachmittag war mit einer Direktoriumssitzung ausgefüllt gewesen. Elizabeth war mit dem Verlauf zufrieden. Walther hatte gefehlt. Charles war es, der wieder das leidige Thema der Aktienverkäufe aufbrachte, aber Elizabeth hatte unerschütterlich ihr Veto eingelegt. Ivo ließ, wie üblich, seinen Charme spielen, Alec stand ihm nicht nach. Nur Charles wirkte außergewöhnlich verkrampft. Elizabeth hätte zu gern den Grund gewusst.

Sie hatte alle eingeladen, in Zürich zu übernachten und mit ihr zu Abend zu essen. So nebenbei brachte sie beim Dinner die Themen ins Gespräch, von denen der Bericht handelte. Wie ein Luchs achtete sie auf verräterische Reaktionen, aber niemand zeigte eine Spur von Nervosität oder Schuldbewusstsein. Dabei saßen alle am Tisch, die in die Angelegenheit verwickelt waren, mit Ausnahme von Walther.

Rhys hatte weder an der Sitzung noch am Abendessen teilgenommen. »Ich muss mich um eine dringende Sache kümmern«, hatte er gesagt, und sofort kam Elizabeth der Verdacht, es könne sich um ein Mädchen handeln. Ihr war klar, dass Rhys, wann immer er spät abends bei ihr zu tun hatte, ein Rendezvous absagen musste. Einmal hatte er die fragliche Dame nicht beizeiten erreichen können, und sie war im Büro aufgetaucht: ein atemberaubender Rotschopf mit einer Figur, der gegenüber Elizabeth sich wie ein Knabe vorkam. Das Mädchen hatte geschäumt, als sie merkte, dass sie versetzt worden war, und hatte sich nicht einmal bemüht, ihre Wut zu verbergen. Rhys hatte sie schließlich hinausbegleitet und in den Fahrstuhl verfrachtet. Als er zurückkam, sagte er lapidar: »Tut mir leid.«

Elizabeth konnte es sich nicht verkneifen: »Sie ist reizend«, sagte sie und hörte selbst, wie unecht ihre Stimme klang. »Was tut sie beruflich?«

»Sie ist Neurochirurgin.« Rhys hatte keine Miene verzogen, und Elizabeth musste lachen. Am Tag darauf erfuhr sie, dass die Frau tatsächlich als Neurologin praktizierte.

Aber da gab es noch andere Mädchen, und Elizabeth hasste sie alle. Wenn sie ihn nur besser verstünde! Sie kannte den geselligen Rhys Williams, den Berufsfanatiker, aber sie wollte auch den privaten Rhys Williams kennenlernen, dem verborgenen Ich auf die Spur kommen. Mehr als einmal ertappte sich Elizabeth bei dem Gedanken: Eigentlich müsste Rhys den Konzern leiten. Statt dessen muss er meinen Anweisungen Folge leisten. Was er dabei wohl empfindet?

An jenem Abend nach dem Essen, als die Direktoriumsmitglieder in alle Winde gestoben waren, um ihre Züge und Flugzeuge zu erreichen, trat Rhys plötzlich in Elizabeths Büro. Sie arbeitete dort mit Kate. »Dachte, ich könnte den Damen noch etwas behilflich sein«, sagte er.

Kein Wort, wo er gewesen war, was er getrieben hatte. Warum sollte er auch? fragte sich Elizabeth. Er ist mir keine Rechenschaft schuldig.

Zu dritt machten sie sich an die Arbeit, und die Zeit verging wie im Flug. Immer wieder ertappte sich Elizabeth dabei, dass sie Rhys beobachtete. Da saß er, über Unterlagen gebeugt, die er schnell und gründlich überflog, die Augen lebendig und hellwach. In mehreren wichtigen Vertragsentwürfen hatte er Schwachstellen gefunden, die selbst den Konzernanwälten entgangen waren. Schließlich richtete er sich auf, streckte sich und sah auf die Uhr.

»Au verflixt! Schon nach Mitternacht. Fürchte, ich muss die Damen verlassen. Hab’ noch eine Verabredung. Morgen komme ich ganz früh her und gehe diese Papiere zu Ende durch.«

So, eine Verabredung, dachte Elizabeth. Wohl mit der Neurologin oder einer seiner anderen. Sie gebot sich Einhalt. Rhys’ Privatleben war seine Sache.

»Tut mir leid«, sagte sie laut. »Ich habe nicht gemerkt, wie spät es ist. Kate und ich bringen das noch zu Ende.«

Rhys nickte. »Bis morgen also. Gute Nacht, Kate.«

»Gute Nacht, Mr. Williams.«

Elizabeth sah ihm nach, zwang ihre Gedanken dann wieder an die Arbeit. Doch wenige Augenblicke später beschäftigte sie sich erneut mit Rhys. Sie brannte darauf, ihm von den Fortschritten zu berichten, die Emil Joeppli mit dem neuen Wundermittel machte. Aber irgend etwas hielt sie zurück. Bald, sagte sie sich. Sehr bald.

Um ein Uhr früh waren sie fertig.

»Gibt’s noch etwas, Miss Roffe?« erkundigte sich Kate Erling.

»Nein, ich glaube, für heute haben wir’s geschafft. Danke, Kate. Schlafen Sie sich aus, kommen Sie morgen später.«

Elizabeth stand auf. Vom langen Sitzen war sie ganz steif geworden.

»Vielen Dank«, sagte Kate. »Morgen nachmittag habe ich alles ins reine getippt.«

»Ausgezeichnet.«

Elizabeth nahm Mantel und Handtasche und wartete auf Kate. Gemeinsam gingen sie zur Tür. Sie traten in den Korridor hinaus und wandten sich zum DirektionsExpreßlift. Er stand schon da, die Tür war offen. Die beiden Frauen betraten den Aufzug, doch als Elizabeth die Hand nach dem Knopf »Erdgeschoß« ausstreckte, hörten sie plötzlich aus dem Büro das Telefon klingeln.

»Ich gehe ran, Miss Roffe«, sagte Kate Erling. »Fahren Sie schon hinunter.« Sie trat wieder aus dem Lift.

Unten in der Halle sah der Sicherheitsbeamte, der Nachtschicht hatte, auf die Fahrstuhlanzeige. Am Kopf der Skala leuchtete ein rotes Licht auf und begann, sich langsam abwärts zu bewegen. Es war die Kontrolleuchte für den Direktions-Expreßlift und bedeutete, dass Miss Roffe auf dem Weg war. Ihr Chauffeur saß auf einem Stuhl und döste über einer Zeitung.

»Der Boss kommt«, verkündete der Wachmann.

Der Chauffeur reckte sich und stand langsam auf.

Plötzlich zerriss das Dröhnen einer Alarmklingel die friedliche Stille in der Halle. Der Blick des Wächters flog auf die Kontrollanzeige. Das rote Licht glitt jetzt nicht mehr gemächlich abwärts, es wurde immer schneller, stürzte zum Schluss wie im freien Fall. Und die Leuchtanzeige lief synchron mit der Bewegung des Aufzugs!

Der Lift war außer Kontrolle geraten!

»Oh, mein Gott!« stieß der Wachmann aus.

Er sprang zum Kontrollbord am Fahrstuhlschacht, riss eine Klappe auf und warf den Sicherheitshebel herum, der die Notbremse betätigte. Das rote Licht wurde um keinen Deut langsamer. Der Chauffeur war dem Wächter nachgeeilt.

»Was - was ist -«

»Aus dem Weg, Mann, volle Deckung!« schrie der Wachmann. »Das Ding stürzt ab!«

Beide rannten in die entfernteste Ecke der Halle. Schon zitterte und bebte der Raum von der Wucht des abwärts stürzenden Fahrkorbs im Betonschacht. Der Wächter schickte ein Stoßgebet zum Himmel. »Lieber Gott, lass sie nicht drin sein!« Und als der Lift an der Halle vorbeiraste, hörten sie von drinnen schreckliche Schreie.

Sekundenbruchteile später gab es einen ungeheuren Aufschlag, das ganze Gebäude erzitterte wie bei einem Erdbeben.

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