6. Episode: MAN SOLL DAS KIND NICHT MIT DEM BADE AUSSCHÜTTEN 1
Vom Warenhaus «Detski Mir» sind es zum Hotel Berlin zu Fuß zwei, drei Minuten. Auch wenn man langsam geht. Herta, Nadja und Kurt gingen aber schnell, denn sie hatten Hunger. Es war höchste Zeit 2, zu Mittag zu essen, und im Restaurant Berlin ißt man nicht schlecht. Das spielt auch eine gewisse Rolle... Aber obwohl Herta wirklich einen Bärenhunger hatte, bereitete ihr das Mittagessen doch kein Vergnügen 3. Schuld daran war Nadja, die in einem fort 4 Redewendungen gebrauchte. Als zuerst der Fischsalat kam, rief sie: «Da haben wir den Salat! 5» Zur Suppe bemerkte sie: «Wer hat uns denn diese Suppe eingebrockt 6?»
Da meinte Herta: «Ihre Redewendungen passen wie die Faust aufs Auge 7! ,Da haben wir den Salat‘ sagt man, wenn man unangenehm überrascht ist, und das war hier nicht der Fall 8. ,Jemandem eine Suppe einbrocken‘ heißt: ihm große Unannehmlichkeiten bereiten 9. Liebe Nadja, hören Sie meinen guten Rat: geben Sie Ihre Redewendungen lieber ganz auf!»
«Nein», sagte Kurt, «damit bin ich nicht einverstanden. Jetzt möchte ich auch mal eine Redewendung gebrauchen: Man darf das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.» Nadja schaute sofort ins Wörterbuch, das sie immer bei sich trug,
1 das Kind mit dem Bade ausschütten — «вместе с водой выплеснуть и ребёнка», т. е. вместе с плохим лишиться и хорошего; хватить через край, перестараться
2 См. стр. 5, сноску 1. [Es ist hohe (или höchste) Zeit — Давно пора]
3 Vergnügen bereiten (machen, gewähren) — доставлять удовольствие
4 in einem fort — беспрерывно
5 Da haben wir den Salat! — Вот тебе на! Ну и сюрприз! Извольте радоватся!
6 jemandem eine Suppe einbrocken — заварить кашу
7 das paßt wie die Faust aufs Auge — это подходит как корове седло
8 das war hier nicht der Fall — в данном случаеэто не так
9 Unannehmlichkeiten bereiten — создавать неприятности
und verstand: Man darf das Gute nicht mit dem Schlechten wegwerfen. Kurt wollte also sagen: Nur auf die unpassenden Redewendungen soll man verzichten, nicht auf alle. Richtig.
N a d j a: Wie entstand denn die Redervendung von dem Kind, das man nicht mit dem Bade ausschütten soll?
K u r t: Sehr einfach. Man badet ein Kind. Man wäscht es mit Seife. Das Wasser wird schmutzig. Man muß es ausschütten. Vorsicht, damit das Kind nicht Schaden leidet 1!
Jetzt kam das Kompott. Es blieb ohne Kommentar. Nadja schwieg.
Nach dem Mittagessen ruhte man sich eine Stunde aus. Dann gingen Nadja und Kurt auf die Straße und warteten auf Herta, die gleich nachkommen sollte. Sie standen vor dem Hotel und diskutierten heiß über Redewendungen und ihren Gebrauch.
N a d j a: Und ich bin doch der Meinung 2: Je mehr Redewendungen, desto schöner die Sprache.
K u r t: Unsinn!
In diesem Augenblick ging ein junger Mann vorüber. Er hörte das letzte Wort, blieb stehen und sagte: «Unsinn — was ist Unsinn?» Nadja fragte: «Sind Sie Deutscher?» — und der junge Mann antwortete: «Jawohl, mein Fräulein. Heinz Klaus, Chemiker, aus Karl-Marx-Stadt.»
1 Schaden leiden (zu Schaden kommen) — пострадать
2 См. стр. 12, сноску 1. [der Ansicht (Meinung, Auffassung) sein = denken, glauben, meinen — полагать, думать, считать]
Jetzt stellten sich auch Nadja und Kurt vor.
N a d j a: Nadja Nowikowa, Dolmetscherin, aus Moskau.
K u r t: Kurt Bruck, Kameramann, aus Leipzig.
H e i n z: Worüber haben Sie denn so heiß gestritten?
K u r t: Über Redewendungen. Die junge Dame will nur in Redewendungen sprechen. Ist das möglich? Wie meinen Sie?
H e i n z: Nein. Aber kennen muß man sie, davon weiß ich ein Lied zu singen 1. Sie bereiten mir im Russischen viele Schwierigkeiten. Der Deutsche sagt z. B. «zwei Eisen im Feuer haben», der Russe — «иметь два пути для достижения цели».
N a d j a: «Die Kastanien aus dem Feuer holen» heißt «загребать жар чужими руками», «der Stein ist im Rollen» — «лёд тронулся».
Nadja hätte wahrscheinlich noch 572 solcher Beispiele angeführt (soviel hatte sie schon!), aber da kam zum Glück Herta. Auch sie machte sich mit Heinz Klaus bekannt, und man ging zu viert spazieren.