Die erste Nadja-Stunde
Sie kamen spät nach Hause. Vor dem Hotel trafen sie Kornejew und mich. Wir hatten uns vorher telefonisch verabredet. Es interessierte uns sehr, wie diese beiden Tage verlaufen waren, oder, um in Nadjas Sprache zu reden, welchen Verlauf sie genommen hatten 1. Das erfuhren wir bald. Bei Tee und Kuchen erzählte man uns in großen Zügen 2 über alles, was an diesen Tagen geschehen war. Herta und Kurt waren sehr zufrieden mit Nadja, die ihnen große Hilfe geleistet hatte.
1) Vergraben Sie nicht Ihr Talent 3!
H e r t a: Nadja, Sie haben heute gut gearbeitet. Sie haben Talent für Fremdsprachen und besonders — für deutsche Redewendungen.
N a d j a: Und weshalb haben Sie heute so streng an mir Kritik geübt 4?
H e r t a: Verstehen Sie mich richtig, Nadja! Daß Sie so viele Redewendungen kennen, ist gut. Nun müssen Sie aber
1 den Verlauf nehmen = verlaufen — протекать
2 in großen Zügen — в общих чертах
3 sein Talent vergraben — зарыть свой талант
4 Kritik üben = kritisieren — критиковать
lernen, sie alle richtig anzuwenden und wirklich zu beherrschen. Ich glaube, Sie werden mit dieser Aufgabe fertig werden 1. Sie haben Talent.
K u r t: Und man darf sein Talent nie vergraben, Nadja.
N a d j a: Auch russisch sagt man so: зарыть свой талант в землю, дать заглохнуть таланту. Wie ist denn diese Redensart entstanden?
K u r t: Es war einmal ein reicher Römer, der eine Reise in ferne Länder machen mußte. Vor der Reise rief er seine Diener zu sich und gab jedem einige Talente 2 Gold. Als er zurückgekehrt war, fragte er seine Diener: «Was habt ihr mit dem Geld gemacht?» Alle berichteten, welch großen Nutzen es ihnen gebracht habe. Nur einer sagte: «Ich habe damit nichts gemacht. Ich habe es in die Erde vergraben.» — «Schade. Was man vergräbt, bringt keinen Nutzen. Das ist schlecht», sagte der Herr. Seither bedeutet «sein Talent vergraben» — «seine Begabung nicht entwickeln».
2) Da liegt der Hund hegraben!
K u r t: Man hört sehr oft die Redewendung «da liegt der Hund begraben».
N a d j a: Russisch heißt es auch so: Вот где собака зарыта! — d. h. Das ist die Ursache. Das ist der Kern der Sache — суть дела. Darum handelt es sich. Aber warum sagt man so? Wissen Sie das?
K o r n e j e w: Darüber habe ich Verschiedenes gelesen. Diese Redewendung ist sehr alt. Wir finden sie schon bei dem griechischen Historiker Plutarch, der im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung lebte. Er berichtet von einem Hund. Der
1 fertig werden mit etwas — справиться с чем-либо
2 das Talent — талант — в древности самая крупная на Ближнем Востоке денежная единица (около 1500 руб. серебром)
Herr dieses Hundes, Xanthipp, trat eine Seereise an 1 und ließ den Hund allein zurück. Der treue Hund sprang ins Wasser und schwamm dem Schiff nach, mit dem sein Herr fuhr. Er konnte es aber nicht erreichen und kam um. Man begrub ihn auf der Insel Salamis.
N a d j a: Da war also der Hund begraben. Und weiter? Wie bekam dann diese Redewendung die Bedeutung «Das ist der Kern der Sache»?
K o r n e j e w: Vielleicht so: erst als sein Hund begraben war, verstand Xanthipp, wie treu das Tier gewesen war, d. h. er erkannte nun seinen wahren Charakter.
K u r t: Ich kenne eine andere Erklärung, und sie scheint mir richtiger. Im Mittelalter suchten viele Menschen nach versteckten Schätzen. Man glaubte, der Teufel bewache diese Schätze in der Gestalt eines schwarzen Hundes. Den Teufel durfte man aber nicht nennen, deshalb sagte man statt «Schatz» — «Hund». «Da liegt der Hund begraben» heißt also: Hier ist die gesuchte Stelle. Hier ist der versteckte Schatz, oder: Das ist es, worum es sich handelt 2. Hier liegt die Ursache.
l eine Seereise antreten — отправиться в морское путешествие
2 es handelt sich um — речь идёт о
Daß «Geld» und «Hund» früher Synonyme waren, sieht man auch aus einer Stelle bei Hans Sachs 1. Ein junger Mann glaubt, er habe Geld in der Tasche. Er klopft auf die Tasche und sagt: «Da liegt der Hund.»
H e r t a: Der schwarze Hund... Ich erinnere mich an eine Stelle in Goethes «Faust»:
«Da stehen sie umher und staunen,
Vertrauen nicht dem hohen Fund.
Der eine faselt von Alraunen,
Der andere von dem schwarzen Hund 2.»
3) Das also war des Pudels Kern!
K u r t: Aus dem «Faust» stammt ja auch eine synonymische Redewendung: «Das also war des Pudels Kern!»
N a d j a: «Так вот что за этим скрывалось!» Wo steht das doch im «Faust»? Ich erinnere mich nicht.
K o r n e j e w: Diese Worte spricht Faust, als er bemerkt, daß der schwarze Pudel niemand anderes ist als Mephistopheles.
H e r t a: Erinnern Sie sich jetzt, Nadja? Faust kommt in sein Studierzimmer mit dem schwarzen Pudel, der ihm gefolgt ist. Und plötzlich verwandelt sich der Hund in Mephistopheles.
N a d j a: Ach ja, richtig.
4) Das geht auf keine Kuhhaut! 3
K u r t (ironisch): Jetzt scheint es mir, Nadja, Sie haben vielleicht doch recht, wenn Sie so großes Interesse für Redewendungen zeigen. Verzeihung, an den Tag legen 4.
N a d j a: O, ich höre Ihre Ironie, Ihren Sarkasmus. Sie machen sich über mich lustig 5, Herr Bruck. Das ist aber nicht schön von Ihnen. Ich protestiere.
1 Hans Sachs (1494 — 1576), deutscher Dichter; schrieb Fabeln, Parabeln, Karnevalsspiele; war Schuhmacher in Nürnberg.
2 Фауст, часть II, действие I, стих 4977 и сл.: «Они стоят вокруг клада и удивляются. Не верят, что нашли большой клад. Одни болтают о волшебстве, а другие — о черной собаке».
3 Das geht auf keine Kuhhaut! — Это неслыханно! Это чересчур! Это переходит границы дозволенного!
4 Interesse zeigen (haben или an den Tag legen) — проявлять интерес
5 sich lustig machen über jemanden — высмеивать кого-либо
K u r t: D. h. Sie legen Protest ein 1?
N a d j a: Schon wieder! Nun aber genug! Jetzt hat's 13 geschlagen! 2 Das schlägt dem Faß den Boden aus!
H e r t a; Nein, das geht aber wirklich auf keine Kuhhaut!
K u r t: Hilfe! Ich werde mit Redewendungen bombardiert!
H e r t a: Wissen Sie, Nadja, was auf keine Kuhhaut geht?
N a d j a: Ja. Das, was die Grenzen des Zulässigen überschreitet. Das, was zuviel ist. Das, was man nicht schreiben, sagen oder erklären kann. Was hat das aber mit der Haut der Kuh zu tun 3?
K o r n e j e w: Früher wurden Häute zum Schreiben verwendet, Häute von Schafen, Eseln und Kühen. Die Haut der Kuh war die größte. Und wenn man etwas nicht einmal auf eine Kuhhaut schreiben konnte...
N a d j a: Klar!
A u t o r: In China schrieb man auf Seide, in Assyrien und Babylon auf tönerne Tafeln. Das Wort «Papier» kommt von dem ägyptischen «papyros» und heißt «Fluß-Pflanze». Das russische бумага ist verwandt mit бумазея und stammt vom griechischen bombyx = Seide.
K u r t: Und das alles diente zum Schreiben 4, kleine Nadja.
N a d j a: Und wozu dient Ihre Ironie mir und den Redewendungen gegenüber, großer Herr Bruck?
K u r t: Aber ich mein's ja diesmal im Ernst, Nadja.
N a d j a: Erzählen Sie mir bitte keine Märchen!
K u r t: Nein, nein, Nadja. Wenn ich nach Berlin zurückkehre, werde ich recht viele Redewendungen gebrauchen und allen erzählen, von wem ich sie gelernt habe.
N a d j a: Wieder Ironie! Unerhört! Das geht aber wirklich auf keine Kuhhaut!
K u r t: Nein, nein! Mein voller Ernst! 5
N a d j a: Herr Bruck, machen Sie mir doch kein X für ein U vor 6!
1 Protest einlegen (erheben) — заявлять протест
2 Jetzt hat's 13 geschlagen! — Это уже слишком! Ну и ну!
3 См. стр. 35, сноску 5. [(nichts) mit etwas zu tun haben — (не) иметь (никакого) отношения к чему-либо]
4 zum Schreiben dienen — использоваться для письма
5 Mein voller Ernst! — Совершенно серьёзно!
6 jemandem ein X für ein U vormachen — втирать очки кому-либо
5) Machen Sie mir kein X für ein U vor!
K o r n e j e w: Wissen Sie auch, woher dieser Ausdruck kommt?
N a d j a: Nein. Bitte, bitte!
K o r n e j e w: Vor tausend Jahren schrieb man die Zahlen nur in römischen Ziffern. X bedeutet die Zahl zehn, V (damals U geschrieben) — die Zahl fünf. Aus einem V kann man aber leicht ein X machen.
N a d j a: Wie denn?
K u r t: Sehr einfach. Man verlängert die Linien. So wird aus 5 — 10, also etwas ganz anderes. Jemand war z. B. einem anderen 5 Taler schuldig 1. Aus der Fünf machte der andere eine Zehn, d. h. er machte ihm ein X für ein U vor, um ihn zu betrügen.
6) Was kennen Sie aus dem Effeff?
N a d j a: Sehen Sie, wie interessant es ist, sich mit Redewendungen zu beschäftigen!
K o r n e j e w: Das stimmt! Ich erinnere mich an ein Verschen:
«Die Wörter werden dir vieles sagen,
Verstehst du nur, sie auszufragen.»
N a d j a: Goldene Worte! Man muß aber viel wissen und alles aus dem Effeff verstehen. Übrigens — woher kommt denn das, dieses Effeff?
H e r t a: Aus der Sprache der Musik: f heißt forte (stark), ff — fortissimo (sehr stark). Das ist italienisch.
K o r n e j e w: Es gibt noch eine andere Erklärung. Bei den Kaufleuten ist f-Ware — feine Ware und ff-Ware — sehr feine oder hochfeine Ware.
7) Und so ging der zweite Tag zu Ende 2
Ich schaute auf die Uhr, sah, daß es schon spät war — zehn Minuten vor elf, stand auf und sagte: «So, liebe Freunde,
1 jemandem (Geld) schuldig sein — задолжать кому-либо (деньги)
(Was bin ich Ihnen schuldig? — Сколько я Вам должен?)
2 zu Ende gehen — заканчиваться
besten Dank für Tee, Kuchen und Redewendungen. Für heute ist's genug mit der Phraseologie, denn alles auf unserer Erde nimmt einmal ein Ende 1, nicht wahr? 2 Ich sehe, Nadja schreibt alles fleißig auf. Liebe Nadja, für heute mußt auch du ein Ende machen 3 und nach Hause gehen. Morgen ist auch ein Tag. Letzten Endes 4 ist die Gesundheit das Wichtigste. Auf Wiedersehen! Gute Nacht!»
So ging der zweite Tag zu Ende.
1 ein Ende nehmen — кончаться
2 nicht wahr? — не так ли?
3 einer Sache (Dat.) ein Ende machen — положить конец чему-либо
4 letzten Endes — в конечном счёте; в конце концов