Die letzte Nadja-Stunde

1) Machen Sie doch keine Fisimatenten!

K u r t: Diese Redewendung hört man sehr oft.

K o r n e j e w: Man trifft sie auch häufig in Büchern. Ich habe sie bei Heinrich Mann getroffen, im Roman «Professor Unrat». Über den Ursprung dieser Redensart habe ich folgendes erfahren: Im Französischen gab es das Wort «Visement» — Aussehen. Daraus machten im Mittelalter die deutschen Ritter «Visamente». So nannten sie die Ornamente auf ihren Schildern. Aus «Visamente» wurde dann «Fisimatenten». Es gibt noch eine Reihe anderer Erklärungen. Ich bin im Besitz 2 einer Sammlung von 15 Erklärungen dieses sonderbaren Ausdrucks.

N a d j a: Dann sind Sie ohne Frage der reichste Sammler!

H e r t a: Und welches ist Ihrer Ansicht nach 3 die beste Erklärung?

K o r n e j e w: Ein deutscher Philologe führt das Wort Fisimatenten auf physica, mathematica zurück, d. h. Physik und Mathematik. Im Mittelalter stand unter den Scholastikern die Metaphysik in Blüte 4, die echten Wissenschaften aber standen in schlechtem Ruf 5. So bekamen die Wörter «Physik» und «Mathematik» eine schlechte Bedeutung.

N a d j a: Wie interessant! Und wie wird es noch erklärt?

K o r n e j e w: Sehr komisch ist zum Beispiel folgende Erklärung: 1871, nach dem deutsch-französischen Krieg, waren in Mainz gefangene französische Offiziere. Sie gingen manchmal ohne Erlaubnis spazieren. Wenn die deutschen Polizisten sie fragten: «Wohin?», so antworteten sie: «Je visite ma tante», d. h. «Ich besuche meine Tante.»

1 Mach keine Fisimatenten! — Не валяй дурака!

2 im Besitz sein — владеть, иметь

3 Ihrer Ansicht nach — по Вашему мнению

4 in Blüte stehen — процветать

5 er steht in schlechtem Ruf — о нём идёт дурная слава

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Das wird so ausgesprochen: «Shö wisit ma tãt.» Das klingt wirklich ähnlich, nicht wahr? — Forschen ist immer interessant, wenn man auch nicht immer das Richtige findet.

N a d j a: Darum will ich auch alle deutschen Redensarten erforschen und ihren Ursprung kennen.

2) Machen Sie keine Flausen 1!

N a d j a: Ich weiß, daß man auch oft sagt: «Mach keine Flausen!» Aber ich weiß nicht, was Flausen sind.

K u r t: Leere Ausflüchte, Lügen.

N a d j a (schaut ins Wörterbuch): Увёртки, пустые отговорки. Und gibt es ein Wort «Flaus»?

H e r t a: Ja, der Flaus. Das ist ein Büschel Wolle, wollenes Gewebe.

N a d j a: Клок шерсти, шерстяная ткань.

K u r t: Ein Flausenmacher ist jemand, der viel phantasiert, gern Spaß macht, Scherz treibt.

3) Vom Federlesen

N a d j a: Es gibt noch einen Ausdruck, den ich gehört habe, aber nicht verstehen kann. Was heißt das: «nicht viel Federlesens machen 2»? Wann gebraucht man das? Und wie entstand diese Redewendung?

K u r t: Leider weiß ich das nicht.

H e r t a: Ich habe auch keine Ahnung, offen gesagt.

K o r n e j e w: Dann muß ich wieder auf den Plan treten 3. «Lesen» bedeutet auch «sammeln», so z. B. in dem Wort «die Weinlese» — сбор винограда. Im Karneval wurden früher bei lustigen Festen oft Säcke mit Federn über das Publikum ausgeschüttelt. Die Federn flogen herum und blieben an den Kleidern hängen. Wer sich bei hohen Damen und Herren lieb Kind machen 4 wollte, «las» die Federn von ihren Kleidern «ab». Das war das «Federlesen».

H e r t a: Wie interessant! Ich gebrauche den Ausdruck oft, aber bis jetzt wußte ich nicht, woher er stammt.

N a d j a: Und wie gebraucht man ihn?

1 Flausen machen — увёртываться, ломаться, отговариваться

2 nicht viel (или nicht lange) Federlesen(s) machen — не церемониться, не канителиться

3 auf den Plan treten — выступать, выдвинуться на первый план

4 sich lieb Kind machen — выслуживаться

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H e r t a: Nun; zum Beispiel so: eine Mutter wachte mitten in der Nacht auf und merkte, daß ihre Tochter im Bett liegend einen Roman las. Sie machte nicht viel Federlesens und nahm dem Mädchen das Buch weg. Oder: ein Angestellter kam jeden Tag zu spät zur Arbeit. Sein Chef machte nicht viel Federlesens und kündigte ihm.

4) Wem hält Nadja den Daumen 1?

K u r t: Jetzt habe ich eine Frage. Nadja, Sie hielten den Daumen für «Torpedo». Wissen Sie, warum man so sagt?

N a d j a: Leider nicht. Aber sobald Sie es mir sagen, werde ich es wissen.

K u r t: Das kommt aus der römischen Geschichte. Im Zirkus kämpften Gladiatoren. Wenn einer von ihnen zu Boden fiel 2, also besiegt war, so schaute der Sieger auf die Zuschauer. Wenn sie ihre Daumen zeigten, so bedeutete das: «Töte ihn!» Wenn sie aber den Daumen der einen Hand mit der anderen Hand umfaßten, so hieß das: «Schenke ihm das Leben!»

N a d j a: Wenn ich also den Daumen halte für «Torpedo», so heißt das...

K u r t: ...daß «Torpedo» leben und siegen soll.

N a d j a: Halten Sie mir den Daumen, Herr Bruck, daß ich meinen Plan bald erfülle — 1000 Redewendungen! Mir fehlt noch ein Dutzend, und zwar vor allem eine Reihe wichtiger Ausdrücke mit «Luft», «Himmel», «Wasser», «Berg», «Baum» und «Stein».

5) Machen Sie Ihrem Herzen Luft 3!

N a d j a: Herr Bruck, Sie können so gut improvisieren. Versuchen Sie doch bitte, etwas aus dem Stegreif 4 zu erzählen, wo das Wort «Luft» in Redewendungen vorkommt. Bitte! Bitte!

K u r t: Wenn Sie so bitten... Also, da sagte mir der Arzt eines Tages: «Sie sehen blaß aus. Sie müssen mehr in der frischen Luft sein.

l См. стр. 97, сноску 5. [für jemanden (jemandem) den Daumen drücken (halten) — пожелать удачи кому-либо; «болеть» за кого-либо]

2 zu Boden fallen — упасть на землю

3 seinem Herzen Luft machen — отвести душу, дать волю своим чувствам

4 aus dem Stegreif — экспромтом, без подготовки

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Gehen Sie viel spazieren! Gehen Sie täglich an die Luft! Ich sehe: Sie haben etwas auf dem Herzen 1. Machen Sie Ihrem Herzen Luft! Sonst wird die Sache ein böses Ende nehmen 2.» Ich ging nach Hause und dachte mir: Nanu, was ist denn los? Das hat der Arzt wohl aus der Luft gegriffen 3! Ich fühle mich doch ganz wohl! Und ich habe auch nicht besonders viele Sorgen, warum soll ich meinem Herzen Luft machen?

N a d j a: Das ist wohl alles aus der Luft gegriffen, was Sie da erzählen?

K u r t: Nein. Ich hörte damals nicht auf den Arzt und wurde wirklich krank. Ich mußte sogar das Bett hüten 4.

H e r t a: Es gibt noch viel mehr Redewendungen mit «Luft». Nun werde ich ein bißchen improvisieren. Hören Sie zu! — Ich habe einen unsympathischen Nachbarn. Er ist ein Lügner, frech und aufdringlich. Ich habe ihn schon einmal an die Luft gesetzt 5, aber er ist wiedergekommen. Jetzt grüße ich ihn nicht mehr, wenn ich ihn treffe. Der Mann ist für mich Luft 6.

K u r t: Wer ist denn das? Kenne ich ihn?

H e r t a: Das habe ich doch alles aus der Luft gegriffen!

K o r n e j e w: Einen sehr gebräuchlichen Ausdruck haben Sie noch nicht genannt: «Etwas liegt in der Luft 7».

1 etwas auf dem Herzen haben — иметь что-либо на сердце, на душе

2 ein böses Ende nehmen — плохо кончить(ся)

3 aus der Luft greifen — взять с потолка; высосать из пальца

4 См. стр. 96, сноску 2. [das Bett hüten — лежать в постели (о больном)]

5 jemanden an die Luft setzen — выставить кого-либо за дверь

6 er ist für mich Luft — он для меня не существует

7 etwas liegt in der Luft — что-то носится в воздухе; надвигается опасность

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Das sagt man, wenn man fühlt, daß sich ein unangenehmes Ereignis naht, daß z. B. ein Gewitter oder irgendeine Gefahr im Anzug ist 1.

N a d j a: Bei einem Gewitter regnet es oft sehr stark. Was heißt das übrigens: «vom Regen in die Traufe kommen 2»?

K u r t: Nun, stellen Sie sich vor: es beginnt zu regnen. Sie suchen Schutz an einer Hausmauer. Aber hier ist es noch schlimmer: vom Dach herunter rinnt das Wasser aus der Traufe gerade auf Ihren Kopf. Ihre Lage hat sich also verschlechtert. Darum sagt man, wenn ein Mensch aus einer schlimmen Lage in eine noch schlimmere gerät: «Er ist vom Regen in die Traufe gekommen.»

6) Und der Himmel hängt voller Geigen 3

N a d j a: Jetzt kommt der «Himmel» an die Reihe!

H e r t a: Wenn man 18 Jahre alt ist, Nadja, hängt einem der Himmel voller Geigen.

N a d j a: Das ist ein schönes Bild. Woher kommt es denn? Wer spielt im Himmel Geige?

K u r t: Ja, das weiß ich auch nicht. Es muß ja ein ganzes Streichorchester sein!

H e r t a: Ich erinnere mich, daß ich in Museen und in alten Kirchen Gemälde gesehen habe. Da machen kleine Engel über den Wolken Musik. So leben oft alte Vorstellungen, an die man längst nicht mehr glaubt, in unseren Redewendungen weiter.

7) Zu Wasser und zu Lande 4

N a d j a: Es gibt ein Wortpaar: zu Wasser und zu Lande. Warum steht hier die Präposition «zu» und nicht «auf» oder «in»?

K u r t: «Auf dem Land sein» bedeutet: außerhalb der Stadt sein.

N a d j a: За городом, в деревне. Das kenne ich.

1 ein Gewitter (eine Gefahr) ist im Anzug — надвигается гроза (опасность)

2 vom Regen in die Traufe kommen — попасть из огня да в полымя

3 Der Himmel hängt ihm voller Geigen. — Он видит всё в розовом свете.

4 zu Wasser — на воде; zu Lande — на суше

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H e r t a: Früher wurde die Präposition «zu» überhaupt viel öfter gebraucht als jetzt.

K o r n e j e w: Das hat sich noch in den Redewendungen: zu Fuß, zu Hause, zu Pferd, zu zweit, zu dritt usw. erhalten.

H e r t a: Ganz richtig. Aber da Sie mit «Wasser» angefangen haben, Nadja ... Wissen Sie vielleicht etwas mit «Wasser»?

N a d j a: O ja! Pläne können «zu Wasser werden 1» oder «ins Wasser fallen 2», wenn man sie nicht erfüllt. Ein Unternehmen, eine Reise, ein Besuch, ein Ausflug können auch «zu Wasser werden» oder «ins Wasser fallen», wenn man sie nicht ausführt.

H e r t a: Kurt, siehst du, wieviel Redewendungen unsere kleine Nadja kennt und wie gut sie alles erklären kann!

K u r t: Ja, ja. Stille Wasser gründen tief. 3

N a d j a: O, ich weiß, Herr Bruck hat es lieber, wenn ich Fehler mache, denn das ist Wasser auf seine Mühle 4, dann kann er mich hänseln.

K u r t: Aber Nadja ...!

8) Halten Sie nicht hinterm Berge 5!

N a d j a: Jetzt kommt der «Berg» an die Reihe. Herr Bruck, lieben Sie die Berge?

K u r t: Natürlich. Wer liebt denn die Berge nicht?

N a d j a: Dann halten Sie bitte nicht mit Ihrer Meinung hinterm Berge und sagen Sie mir offen, was Sie von mir denken.

K u r t: Wieso halte ich hinterm Berge? Wie Sie sehen, halte ich gar nicht hinter einem Berg. Ich sitze im Hotel Berlin. Wo sehen Sie denn hier Berge?

N a d j a: Da hört aber doch alle Gemütlichkeit auf! 6 Sie wollen mir wohl ein X für ein U vormachen? Ich soll wohl glauben, daß Sie nicht wissen, was «hinterm Berge halten» heißt?

H e r t a: Liebe Nadja, er weiß es natürlich sehr gut. Und Sie haben ganz richtig gesprochen. Regen Sie sich nicht auf!

1 zu Wasser werden — кончиться ничем; не получиться

2 ins Wasser fallen — провалиться, расстроиться; пойти насмарку

3 Stille Wasser gründen tief. (Пословица.) — В тихом омуте черти водятся.

4 das ist Wasser auf seine Mühle — это ему на руку

5 mit etwas hinterm Berge halten — скрывать, замалчивать что-либо

6 Da hört (aber doch) alle Gemütlichkeit auf! Это неслыханно! Это уж чересчур!

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Ich weiß übrigens nicht, woher dieser Ausdruck stammt. Wenn Sie es wissen, Genosse Kornejew, so halten Sie bitte nicht hinterm Berge mit Ihrem Wissen und sagen Sie es uns!

K o r n e j e w: Der Ausdruck stammt von den Soldaten. Für eine marschierende Truppe sind Berge immer wichtig und oft gefahrvoll. Wo ist der Feind? Vielleicht hinter jenem Berge? Wo hält er sich versteckt? So fragt sich jeder. Verstehen Sie jetzt, was das bedeutet: «hinter dem Berge halten»?

N a d j a: Danke, jetzt sind wir im Bilde.

9) Wenn man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht 1...

N a d j a: Ja, die Berge ... Hier bei Moskau gibt es keine hohen Berge. Aber Wälder gibt es, herrliche Wälder! — Wer weiß eine Redewendung mit «Wald»?

1 den Wald vor (lauter) Bäumen nicht sehen — за деревьями не видеть леса

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H e r t a: Ich. Es ist schlecht, wenn ein Mensch vor Bäumen den Wald nicht sieht.

N a d j a: Hand aufs Herz, Herta, ist das auf mich gemünzt 1 und auf meine Redewendungen?

H e r t a: Offen gestanden: ja! Liebe Nadja, Sie sehen in der deutschen Sprache nur die Redewendungen, also nur einzelne Erscheinungen. Die Sprache als Ganzes interessiert Sie zu wenig.

N a d j a: Aber das Ganze besteht doch aus einzelnen Erscheinungen! Der Wald besteht aus Bäumen! Ach, es ist oft so furchtbar schwer für mich, an alles zugleich zu denken. Wenn ich auf meine Aussprache achte, kann ich nicht an die Grammatik denken, und wenn ich auf die Grammatik achte, kann ich nicht an die Redewendungen denken. Ich bin oft wie ... wie ...

K u r t: Wie zwischen Baum und Borke 2!

1 das ist auf ihn (sie) gemünzt — это камешек в его (её) огород

2 zwischen Baum und Borke sein (stecken) — быть (очутиться) в затруднительном положении

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N a d j a: Oh — was bedeutet denn das?

K o r n e j e w: Das bedeutet: sich in einer schwierigen Lage befinden. «Borke» ist dasselbe wie «Rinde». Wenn man mit der Axt zwischen Baum und Rinde gerät, bleibt sie stecken, sie kann nicht vorwärts und nicht zurück. «Zwischen Baum und Borke stecken» hat eine ähnliche Bedeutung wie «zwischen Hammer und Amboß sein 1».

N a d j a: Herzlichen Dank! Leisten Sie mir bitte immer Hilfe, wenn ich zwischen Baum und Borke gerate, oder zwischen Hammer und Amboß!

10) Warum schwört man Stein und Bein 2?

N a d j a: Wer kann mir erklären, warum man sagt «Stein und Bein schwören»?

K u r t: «Stein» ist etwas sehr Festes, und «Bein» bedeutet auch «Knochen». Wer ganz fest von etwas überzeugt ist, kann Stein und Bein schwören.

K o r n e j e w: Im Vergleich zum Fleisch ist Knochen auch etwas Festes, Starkes. Freidank, ein Dichter des 13. Jahrhunderts, schrieb:

«Die Zunge hat kein Bein (d. h. keine Knochen) und bricht doch Bein und Stein.»

H e r t a: Wenn es sehr kalt ist, sagt man: «Heute friert es Stein und Bein.»

N a d j a: Russisch heißt das: Нынче мороз пробирает до костей. Сегодня трескучий мороз. Wer weiß noch eine Redensart mit «Stein»?

K u r t: Ich. Nadja, Sie haben bei mir einen Stein im Brett 3.

N a d j a: Wirklich? Ich hege Zweifel.

K u r t: Doch, doch, ich schwöre Stein und Bein, daß es so ist.

N a d j a: Dann fällt mir ein Stein vom Herzen 4.

1 zwischen Hammer und Amboß sein — быть (очутиться) между двух огней; между молотом и наковальней

2 Stein und Bein schwören — клясться всем на свете

3 bei jemandem einen Stein im Brett haben — пользоваться чьим-либо расположением

4 Mir fällt ein Stein vom Herzen. — У меня точно гора с плеч свалилась.

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K u r t: Und ich verspreche, daß ich Ihnen nie mehr einen Stein in den Weg legen 1 werde. Wissen Sie auch, warum? Weil wir jetzt Moskau verlassen. Es ist übrigens hohe Zeit 2, Herta.

N a d j a: Moment mal! Es gibt noch einen Grund: die Zahl 1000 ist erreicht. Hurra!

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